Wandertouren

TOUR 117 – VON HÖRSCHEL NACH EISENACH

Es ist so eine Art Realität gewordener Wanderertraum – umgeben von einer wie in die Landschaft hineingewobenen Stille schauen wir über ein Heer von Baumwipfeln hinweg, die beinahe wie ein dunkelgrüner Teppich aussehen, und jenseits davon, weit jenseits davon, fast schon eher ein Teil des Himmels als der Erde, erkennen wir gerade eben noch eine im Dunst sich verlierende Hügellinie, gezackt wie der Schuppenkamm eines Leguans, die nicht mehr grün, sondern beinahe meerlagunenblau erscheint.

Wir sind auf dem Rennsteig unterwegs, und im Laufe dieser einige Stunden währenden Etappe werden wir ein paar solch besonderer Momente erleben, jeder auf seine eigene Weise schön und jeder im Grunde ein eigenständiges Erlebnis.
Es ist ein stiller Morgen. Ein Morgen, der in seiner eigenen Leichtigkeit ruht.
Jana summt die ersten beiden Zeilen des Rennsteigliedes vor sich hin – „Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land,/Den Beutel auf dem Rücken, die Klampfe in der Hand.“
Vom ersten Schritt an sind wir irgendwie voll gespannter Erwartung und zugleich ist da auch schon eine Art unbeirrbarer Gewissheit, dass uns eine Wanderung erwartet, die hinterher nicht gleich in die Gefilde schwarzen Vergessens absinken, sondern uns noch eine lange Zeit sehr gegenwärtig sein wird.

Na ja, vielleicht nicht ganz vom ersten Schritt an.
Der Beginn ist eher ein wenig befremdlich, denn der Bahnsteig von Hörschel liegt etwas außerhalb des Ortes und wir haben keine andere Wahl, als für ein paar hundert Meter mit einer Straße ohne Seitenstreifen vorliebzunehmen. Es herrscht allerdings weniger Verkehr als auf einer verlassenen Weltraumstation, immerhin.
Wir sind auch noch gar nicht auf dem Rennsteig, der beginnt erst fünf Minuten Fußweg entfernt am Ufer der Werra.

Es ist früher Vormittag.
Der Juni hat gerade erst begonnen, aber das abgemähte Feld, an dem wir vorüberlaufen, hat schon was von Sommerabschied.
Das Wetter ist brauchbar, um nicht zu sagen freundlich. Es ist noch nicht so warm, dass man sich alle paar Meter den Schweiß von der Stirn wischen müsste, von Kälte kann ohnehin keine Rede sein, und es gibt keine Anzeichen für Regen oder Gewitter.

Der Beginn einer Wanderung ist im Grunde so gut wie immer eine Art Orientierungsphase. Man lässt die ersten Eindrücke auf sich wirken, man nimmt ein paar bewusste und sicher auch einige unbewusste Einschätzungen vor, man schaut sich an, wo man überhaupt gelandet ist.
Vieles, wenn nicht alles ist noch in der Schwebe, vor allem natürlich dann, wenn man sich wie Jana und ich heute in einer Gegend aufhält, die man noch nicht kennt.
Je länger man unterwegs ist, desto mehr ordnet sich dieser Schwebezustand, balanciert sich aus, man setzt Schritt vor Schritt und damit hält nach und nach die Ruhe des Gehens Einzug.

Wir marschieren also zunächst zum Startpunkt des Rennsteigs, der sich wie erwähnt direkt am Werraufer befindet.
Hier in Hörschel hat der Fluss schon viele Kilometer hinter sich und ist alles andere als ein schmaler Bach. Eine der beiden Quellen der Werra heißt übrigens Saar, die Flusskilometrierung richtet sich allerdings nach der zweiten, in der Nähe des südthüringischen Fehrenbach entspringenden Quelle.
Die Werra ihrerseits ist ja einer der beiden Quellflüsse der Weser, galt aber bis ins Hochmittelalter hinein als deren Oberlauf, Werra und Weser wurden mithin als ein und derselbe Fluss angesehen.
Ein Blick auf die Herkunft der Flussnamen zeigt denn auch, dass beide Flüsse mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dasselbe Wort, nämlich das germanische Wisara, zurückgehen. Erst eine über Jahrhunderte andauernde sprachgeschichtliche Entwicklung führte zu den unterschiedlichen Bezeichnungen „Weser“ und „Werra“.

Jana schnappt sich einen der Flusskieselsteine, welche in einem eigens dafür hier aufgestellten Behältnis aufgeschichtet sind.
Es scheint da einen Brauch zu geben, demgemäß man am Ende des Rennsteigs einen solchen Kieselstein in die Selbitz werfen soll.
Ich mache es ihr nach, aber da wir nur eine einzige Etappe auf dem Rennsteig wandern, die Selbitz also nie zu sehen bekommen werden, werfen wir unsere Kiesel in das allererste Gewässer, an dem wir vorüberlaufen, sobald die Kiesel uns wieder in den Sinn kommen, und das ist ein Tümpel am Wegrand kurz vor Eisenach.

Der erste Kilometer.
Vom Werraufer aus laufen wir ein Stück zurück zur Straße, von da zum Ort hinaus und innerhalb von Minuten gelangen wir in eine schöne, stille, idyllische Landschaft, wobei die Idylle sich in erster Linie der Abwesenheit von allem verdankt, was den freien Blick Richtung Horizont stören könnte.

Da wir uns hier am Rande eines Mittelgebirges befinden, dessen höchste Erhebung immerhin fast die 1 000 Meter erreicht, wären steile Anstiege nicht allzu überraschend.
Der Weg führt auch tatsächlich meistens bergan, allerdings haben wir beileibe keine ultrasteilen Rampen zu bewältigen, es sind lediglich kleinere Hügel zu überwinden, wie es sie auch in jedem niedrigen Mittelgebirge gibt.
Von 1 000 Metern Höhe sind wir sowieso ein gutes Stück entfernt. 300 Meter, 400 Meter – höher geht es heute nicht. Erst südlich bzw. südöstlich von Ruhla, auf der zweiten Etappe, kann man sich auf größere Höhen und damit auch steilere Anstiege einstellen.

Immer wieder Fernblicke.
Wiesenteppiche mit kleinen Wegen dazwischen, leicht gewelltes Gelände, hier und da ein winziges Dorf, manchmal auch nur ein Gehöft, als Anker für den Blick.
Das helle Frühlingslicht lässt kaum Schatten zu, es ist eine Landschaft ohne scharfe Übergänge, ohne Trennlinien, das Nahe geht unversehens ins Fernere und Ferne über, das Ferne in den Horizont.
Es ist ein stetiges Licht, kein unaufhörlich sich wandelndes wie beispielsweise an vielen Herbsttagen.
Die Landschaft ist wie geschaffen, um einerseits bei sich selbst zu bleiben, sich andererseits jedoch quasi als kleiner Teil eines umfassenden Ganzen zu fühlen. Es ist eine ganz ruhige Landschaft, nirgends erkennt man eine Bewegung.
Die Sekunden werden zu Minuten, die Minuten zu Viertelstunden, ohne dass irgendetwas geschieht, was diese Ruhe durcheinanderbringt.

Von der Werra sind wir mittlerweile einige Kilometer entfernt.
Kein Wunder, denn die Werra fließt nach Westen, ins Hessische, während der Rennsteig von Hörschel aus, im Gesamten betrachtet, in südöstlicher Richtung verläuft, knapp 170 Kilometer über die Mittelgebirgsgipfel des Thüringer Waldes hinweg bis nach Blankenstein ganz im Süden Thüringens unweit der Grenze zu Bayern.

Der Rennsteig als Fernwanderweg existiert spätestens seit dem Tag, als ein Kartograph namens Julius von Plänckner im Jahre 1829 die erste durchgängige Wanderung von Hörschel bis Blankenstein unternahm und dabei den heute noch gültigen Verlauf des Weges festlegte.
Den Rennsteig an sich allerdings, auch unter dieser Bezeichnung, gab es aber schon Jahrhunderte früher, zeitweise war er dabei vermutlich ein Grenzweg zwischen thüringischen und fränkischen Gebieten.
Es ist auch keineswegs so, dass es im gesamten Universum nur diesen einen Rennsteig gegeben hätte, ganz und gar nicht. Er ist lediglich der bekannteste von einigen Hundert als Rennsteig bezeichneten Wegen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Deutschland.

Zurück in die Gegenwart.
Es ist Mittag.
Mittlerweile ist es so warm, dass wir Spiegeleier in der Sonne braten könnten.
Immerhin finden wir oft schattige Wege vor, weil wir entweder direkt am Waldrand entlangwandern oder aber ins kühle, grüne Rauschen eines Waldes eintauchen.

Das R des Rennsteigs ist nahezu auf Schritt und Tritt irgendwo zu sehen, an Bäumen, an eigens dafür aufgestellten Pfosten, auf Wegweisern, und immer ist es so riesig, dass es so gut wie unmöglich ist, es nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Der Weg ist und bleibt wunderbar.
Wald und Waldrand wechseln einander ab, hier und da traben wir über Wiesen, die noch frühlingshaft frisch erscheinen und nicht aussehen wie explodierte Vulkankrater.
Von Zeit zu Zeit fällt ein Geräusch in die Stille, von irgendwoher, nichts Störendes, nichts Grelllautes, eine Ahnung von Stimmen, Vogelgezwitscher.

Vielleicht sollte man Abstufungen und Vergleiche zwischen verschiedenen Wanderungen ohnehin bleibenlassen, weil dies so manch wunderbarer Tour nicht gerecht wird, auf jeden Fall aber genügen bereits diese wenigen Kilometer der ersten Etappe, um bei Jana und mir den Wunsch hervorzurufen, irgendwann wiederzukommen und noch ein paar weitere Etappen auf dem Rennsteig in Angriff zu nehmen.

Auf der Höhe des Rangenhofes.
Wieder so ein ruhiger Blick in die Landschaft.
Als Betrachter denkt – oder schaut – man bei solchen Fernblicken oft vom Hintergrund aus. Durchmisst die Strecke vom Horizont zu einer Stelle unmittelbar vor den eigenen Füßen. Lässt den Blick umherschweifen. Sucht sich, falls vorhanden, Fixpunkte.
Der Rangenhof ist ein solcher Fixpunkt.
Es sind nur ein paar Häuser inmitten eines wogenden Grasmeeres, die wirken wie eine halb schon untergegangene Sandbank bei Flut.
Alles ist sehr still.
Es gibt zwei große Flächen – das Grasmeer und den Himmel. Beide nähern sich in Richtung Horizont scheinbar einander an. Der Horizont ist allerdings nur eine dünne Linie aus Hügeln im Dunst.

Keine Ahnung, wie viele Leute auf dem Rangenhof wohnen, aber mehr als zehn oder zwanzig sind es bestimmt nicht.
Etwas weiter, in Clausberg, sind es sicher ein paar mehr, aber zu Gesicht bekommen wir auch hier niemanden.
Wir wandern eine Straße ohne Mittelstreifen bergan, auf der uns minutenlang kein Auto entgegenkommt.

Ein paar Schritte abseits des Weges ein Gutshof, dem man schon ansieht, dass er eine lange und interessante Historie aufzuweisen hat. Hinweise auf die Existenz dieses Gutshofes lassen sich auch tatsächlich bereits im Hoch-, oder zumindest im Spätmittelalter finden, und wie bei so vielen Gebäuden und Bauwerken reihen sich im Laufe der Jahrhunderte die Namen längst dem Vergessen anheimgefallener Personen aneinander.

Hinter Clausberg verlassen wir die Straße, und von nun an bleiben wir eine ganze Weile im Wald.
Es ist ein heller Wald mit sehr vielen Laubbäumen, ein richtiger Lichtdom.
Von Wanderern nach wie vor keine Spur. Lediglich ein paar Mountainbiker kreuzen unseren Weg, sie sind aber stets innerhalb von Sekunden wieder verschwunden, so dass diese Begegnungen beinahe surreal anmuten.

Mit dem Wald kommen die Aussichtspunkte und mit diesen eine andere Art von Fernblicken als zuvor.
Von Grasmeeren ist nicht mehr die Rede, stattdessen von Baumwipfellabyrinthen. Manchmal sieht es aus, als müssten wir nur noch einen einzigen Schritt machen, um ins Nichts hinauszutreten und über einen unsichtbaren Pfad durch die Luft zu spazieren.

Bei einem dieser Fernblicke haben wir freie Sicht auf die Wartburg.
Unter dem hellen Himmel sieht die Burg wuchtig und beeindruckend aus, unter einem dunklen Winterhimmel würde wahrscheinlich die durchaus auch vorhandene mittelalterliche Düsternis mehr zum Tragen kommen. Es gibt selbstredend wesentlich finster aussehende Burgen, schließlich hat auf der Wartburg auch Junker Jörg alias Martin Luther gehaust und nicht die Blutgräfin Bathory.
Aber alleine schon aufgrund der Wartburg ist es eine von vielen Stellen auf dieser Wanderung, an denen man minutenlang verharren könnte, um das Bild so lange in sich aufzunehmen, bis es zu einem unzerstörbaren Teil der eigenen Erinnerung geworden ist.

Bis zur Hohen Sonne, einer Ansammlung verschiedener Gebäude samt Parkplatz, haben wir nun nur noch eine kurze Wegstrecke zurückzulegen.
Es ist mittlerweile sehr warm geworden, im Grunde sogar heiß. Schatten gibt es nur noch am Rande des Weges.
Aus allen Ecken strömen plötzlich Wanderer herbei, in erster Linie sicherlich Besucher der Drachenschlucht, die hier oben beginnt bzw. endet, je nachdem, aus welcher Richtung man kommt.
Für Jana und mich war es das auf dem Rennsteig. Für diesmal und auf nicht absehbare Zeit. Aber wir werden wiederkommen. So sicher, wie man als Mensch sein kann, wenn man Pläne für eine ferne Zukunft fasst.

Epilog.
Die Drachenschlucht.
Zweieinhalb Kilometer über Stufen, Stege, feuchte Erde, zwischen Felsen hindurch, die uns manchmal kaum mehr als eine Körperbreite Raum lassen. So gut wie immer über enge, verwinkelte Pfade, nur von Zeit zu Zeit, gerade dem Ende zu, auf einer Art Spazierweg.
Es ist ein Abschluss der Wanderung, wie wir ihn uns selbst besser nicht hätten ausdenken können.

5 Comments

  • Anonymous

    Die erste Etappe des Rennsteigs ist eigentlich nur ein Aufgalopp, allerdings ein schöner, das gebe ich zu. Wenn ihr wirklich irgendwann weiterwandern solltet dort, dann könnt ihr euch noch auf einige schöne Etappen freuen. Für mich einer der schönsten Wanderwege überhaupt insgesamt.

    Ralf

    • Torsten Wirschum

      Wir werden bestimmt noch die eine oder andere Etappe auf dem Rennsteig machen. Danke für den Kommentar.:-)

      Beste Grüße
      Torsten

  • Jana

    Du hast unsere Wanderung wieder so wunderbar beschrieben, lieber Torsten! Wir waren ja sehr gespannt auf die Gegend und auf diese Etappe. Natürlich wurden wir nicht enttäuscht. Im Gegenteil: Sie machte Appetit auf mehr. Schnell war klar, dass wir irgendwann wiederkommen, um weitere Etappen zu gehen. Dann kann ich wieder singen: „Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land …“

    Liebe Grüße
    Jana

    • Torsten Wirschum

      Das war einfach eine wunderbare Wanderung, liebe Jana, von Anfang bis Ende.:-) Dank dir kenne ich jetzt auch das Rennsteiglied. Und dass wir irgendwann wieder eine Rennsteig-Etappe machen, steht außer Frage.:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

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