Wandertouren

TOUR 114 – 40 KILOMETER DURCHS MITTLERE SAARLAND

Das Leben ist einige Jahrhunderte zu kurz, um alles zu erkunden, was es wert wäre, erkundet zu werden. Es gibt den Punkt und den Ort, an dem es beginnt, und irgendwann auch den Punkt und den Ort, an dem es endet, damit muss man sich abfinden. Aber ich glaube, ich könnte so alt wie das Universum sein und wäre des Gehens und des Erkundens trotzdem noch nicht überdrüssig. Am liebsten würde ich jede einzelne Landschaft, jeden einzelnen Weg erforschen, zumindest in Deutschland. Dazu reicht die Zeit jedoch nun einmal nicht aus und deshalb muss ich mich darauf beschränken, wenn schon nicht alle, dann doch möglichst viele Wege zu gehen.
Und bei diesem Unterfangen stoße ich selbst in meiner näheren Umgebung immer wieder auf Pfade, die mir noch nicht bekannt sind

Vierzig Kilometer liegen heute vor mir, vielleicht ein paar weniger, vielleicht ein paar mehr.
Der Himmel ist noch dämmerdunkel, als ich losgehe. Wenn die Straßenbeleuchtung der verstreut in der Landschaft liegenden Dörfer nicht wäre, dann hätte ich wahrscheinlich das Gefühl, mich zwischen zwei mit fortschreitender Zeit immer mehr auseinanderdriftenden Mauern zu befinden. Es dauert noch eine ganze Weile, bis es so hell ist, dass ich den Blick ein paar hundert Meter vorauseilen lassen kann.
Aber auch nach Sonnenaufgang bleibt es fürs Erste ein eher düsterer Tag, mit einem bleichen, wolkenverhangenen Himmel und einem kalten, diesigen Winterhorizont.

Wie der Himmel aussieht, ist mir im Grunde egal, solange kein Gewitter oder Sturm zu erwarten ist, nicht außer Acht lassen kann ich dagegen die Beschaffenheit der Wege. Ein sehr großer Teil der Wanderung wird über Asphalt führen, und das ist gut so, denn auf Asphalt lässt es sich heute am besten und unkompliziertesten gehen. Wie es auf den Waldwegen sein wird, muss ich abwarten, vor allem, weil nach rund einem Drittel der Strecke eine Schlucht zu bewältigen ist, und Schlucht hört sich für mich nach steilen Auf- und Abstiegen an, nicht ganz ungefährlich nach vielen Wochen des Regens.
Im Augenblick denke ich aber nicht weiter darüber nach, und ich habe so eine Ahnung, dass das Schluchtproblem sich später ohnehin von ganz allein lösen wird.

Die ersten Häuser von Eppelborn tauchen auf.
Durch menschenleere Straßen laufe ich hinunter zum Bahnhof.
Der Bahnsteig liegt vollkommen verlassen da, wie ein Badesteg im tiefsten Winter. Von der großen Durchgangsstraße, zu der ich eine Minute später gelange, lässt sich das zwar ganz und gar nicht behaupten, aber da halte ich mich auch nicht mehr als ein paar Herzschläge lang auf, ehe ich in eine Nebenstraße abbiege, in welcher der Straßenlärm mit jedem meiner Schritte weiter hinter mir zurückbleibt, bis so gut wie nichts mehr davon zu hören ist.

Der Weg führt eine Weile leicht bergan, und es dauert nicht lange, dann befinde ich mich wieder einmal auf dem ausgedehnten Netzwerk asphaltierter Wege zwischen den Dörfern, das selbstredend oftmals auch für Wanderrouten genutzt wird.

Die Dämmerung ist in einen bleichen, trüben Wintermorgen übergegangen.
Ein Krähenmorgen, ein Raureifmorgen, mit einem gläsern wirkenden Himmel, der beinahe den Eindruck macht, als könne er jeden Moment in Stücke springen. Die Wolken sind grau wie gefrorener Atem.
Aber es wird allmählich heller, wenngleich es eine ziemlich matte Helligkeit ist, eben die Helligkeit eines trüben Wintermorgens.

Irgendwo zwischen Eppelborn und Lebach biege ich ab und für einige Kilometer folge ich nun exakt einer Route, die ich wenige Wochen zuvor schon einmal gewählt habe – ich passiere den Lebacher Stadtteil Landsweiler und wandere von da weiter in Richtung Habach, das nicht zu Lebach, sondern zu Eppelborn gehört.

Die Sonne kämpft sich Stück für Stück hinter den Wolken hervor, was eine ganze Weile zu ständig wechselnden, mitunter ziemlich interessanten Lichteffekten führt. In einer Sekunde sieht es so aus, als wäre der Himmel eine graue Betonplatte, die langsam zerbröselt, in der nächsten ist alles in ein seltsames Zwielicht getaucht, das fast abendlich anmutet, dann wieder ist es ein sehr klares, herbstliches Licht, das auch an einem einigermaßen sonnigen Novembertag denkbar wäre. Nur von dem eisigen Schimmer richtig kalter Wintertage hat das Licht so gar nichts.
Am Wegrand kahle, windschiefe Bäume mit Tentakel-Ästen wie bei Caspar David Friedrichs Rabenbaum, nur ohne Raben.

Es wird Mittag.
Eigentlich wollte ich längst am Start der Mühlenbach-Schluchtentour sein, aber irgendwie hat sich eine zusätzliche Schleife an die nächste gefügt und deshalb bin ich noch etliche Kilometer von da entfernt.
Egal, denn im Grunde ist es oft gerade dieses Umherstreifen, das mir gut gefällt. Es gibt Dutzende von Erlebnissen, die ich als wertvoll oder zumindest als erinnernswert ansehe, die sich alleine der Tatsache verdanken, dass ich mich spontanen Entschlüssen überlassen habe. Und dieses Netz weit verzweigter Wege zwischen den Dörfern ist dafür wie gemacht.

Am Rande von Habach ist, nebenbei erwähnt, der geometrische Mittelpunkt des Saarlands zu finden, während der geografische Mittelpunkt sich ein paar Kilometer weiter in Falscheid befindet, also dort, wohin ich gerade unterwegs bin.
Falscheid ist einer der kleinsten Lebacher Stadtteile. Dass hier viel Landwirtschaft betrieben wurde und auch noch wird, liegt auf der Hand und ist überall zu sehen.

Dann gibt es da aber noch den Nordschacht des ehemaligen Bergwerks Saar am Rande des Dorfes, und der hat ganz und gar nichts mit Landwirtschaft zu tun. Es ist ein Monument des Bergbaus und zugleich ein Monument von dessen Ende. Über 1700 Meter ging es hier in die Tiefe, zum Zeitpunkt der Schließung des Schachts im Jahr 2012 tiefer als irgendwo sonst in einem europäischen Bergwerk.
Exakt hier stoße ich auf die ersten Wegweiser der Mühlenbach-Schluchtentour.

Zwei Minuten lang trabe ich am umzäunten Gelände des Schachts vorüber.
Man könnte eine Schneeflocke fallen hören, so still ist es.
Nur dass an Schnee im Moment nicht zu denken ist, denn mittlerweile ist es warm wie an einem Frühlingstag. Der Charakter der Wanderung ändert sich dadurch grundlegend. Es ist so eine Art Anfang nach dem Anfang, eine Wanderung innerhalb der Wanderung.
Vorhin war Winter, jedenfalls lag mehr als ein Hauch davon in der Luft, jetzt ist wieder Herbst.
Die Wolken sind verschwunden wie wegradiert.
Auch die Fernblicke gewinnen damit eine ganz andere Dimension der Weite. Der Horizont sieht nicht länger aus wie das Cover einer dystopischen Graphic Novel, es ist nicht alles wie ein monochromes Bild, sondern es gibt Farben und es gibt Bereiche unterschiedlicher Helligkeit – ein weißes Leuchten am Rand, das sich im Nirgendwo verflüchtigt, die Schattenräume auf den Wiesen, Abstufungen milden Nachmittagslichts.

Eine Weile streife ich durch einen Wald, an dem so viel Winterliches ist wie an einem Badestrand der Costa del Sol.
Allerdings sind die Wege gerade im Wald stellenweise feucht und rutschig, schließlich ist beinahe im gesamten Saarland seit Wochen so eine Art Regenzeit ausgebrochen.
Deshalb ist der Abstieg in die Schlucht auch gesperrt, wie sich bald zeigt.
Wenn ich ehrlich bin, ist mir das gar nicht so unrecht. Mir steht der Sinn nach einer zwar langen, aber doch möglichst problemlosen Wanderung, bei der ich nicht ständig darauf achten muss, gefährlichen Stellen auszuweichen.

Ich bewege mich jetzt auf Saarwellingen zu, das erheblich näher bei Saarlouis als bei Lebach liegt.
Eine Viertelstunde und länger höre ich das Getrappel zweier Pferde hinter mir. Kurz zuvor habe ich aus der Ferne schon eine Gruppe von Reitern und Reiterinnen gesehen, die aber zum Glück in einer anderen Richtung unterwegs waren als ich. Sieht so aus, als sei das hier Pferdeland. Breit genug sind die Wege jedenfalls dafür.

Von Saarwellingen aus wandere ich tendenziell wieder auf Lebach zu.
Die Pferde sind verschwunden und viele Kilometer lang trotte ich nun ungestört vor mich hin.
Es geschieht nichts Spektakuläres, es ist genau die ruhige Dezemberwanderung, die ich mir vorher erhofft hatte.
Die Sonne füllt den Wald mit Licht an wie einen riesigen Raum ohne Dach. Nur die schweren Schatten auf dem Waldboden bleiben. Von Zeit zu Zeit versickern die nahen und fernen Geräusche und eine sekundenlange, brüchige Stille entsteht, die bereits wieder vorüber ist, kaum dass ich ihrer gewahr werde. Aber trotzdem bilden diese vorübergehende Stille und dieses Zusammenspiel naher und ferner Geräusche eine Art Einheit, deren Reiz sich gerade aus dem Gegensätzlichen ergibt.

Der Wald endet irgendwann und kurz darauf schließt sich ein nicht mehr als fußbreiter Pfad am Rande einer Wiesenebene an.
Hier hat die Sonne jetzt wirklich alles im Griff. Es gibt sehr viel Grün und sogar ein Rest greller Herbstfarben hat sich hier und da erhalten.
Aber so sonnig es auch ist, es geht schon auf den Abend zu. Nicht mehr lange und die Schatten werden die Oberhand gewonnen haben, erst noch halbwegs helle Nachmittagsschatten, später dann dunkle Dämmerschatten, die immer mehr zusammenwachsen.

Kilometer 30.
Irgendwo bei Hoxberg, einem Ortsteil des Lebacher Stadtteils Knorscheid.
Die Mühlenbach-Schluchtentour liegt hinter mir, und als Verbindungsstück nach Lebach nutze ich den letzten, recht abschüssigen Abschnitt des rund acht Kilometer langen Kaltensteinpfades.
Die Kaltensteine, die dem Pfad den Namen geben, sind uralte, massige Felsbrocken unmittelbar neben dem Pfad.
Von hier bis nach Lebach hinein geht es nahezu nur noch bergab. Die Erde ist von schwerem Winterlaub bedeckt, mitunter gibt es auch vereiste Stellen. Ich muss also schon ein wenig aufpassen, wohin ich meine Füße setze.
Im Laufe der Jahre ist die Wegführung des Kaltensteinpfades mehrfach geändert worden. Vor allem dieser eine steile Abhang, an dem ich vor einigen Jahren bei starkem Regen nur mit viel Glück einem Sturz entging, wurde entschärft.

Im Wald ist es jetzt schon beinahe dunkel.
Einzelne Jogger und Radfahrer sind noch unterwegs, aber Minute um Minute wird es stiller.
Längst bin ich über jenen Punkt hinaus, bis zu dem man noch von einem ausgedehnten Spaziergang sprechen könnte, von dem, was leidenschaftliche Spaziergänger wie Rousseau oder Kierkegaard betrieben haben, um ihre Gedanken in Schwung zu bringen oder zu ordnen.
Gerade Rousseaus Blick ging während seiner Spazierziergänge oft nach innen, das Nachdenken über die Welt und über seinen eigenen Platz darin war ein elementarer Bestandteil vieler seiner Streifzüge. Im Grunde war er ein umherstreifender Philosoph, der das Gehen als Mittel ansah, das eigene Denken auf Vordermann zu bringen.
Und von Kierkegaard sind die Worte überliefert: „Ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen.“
Auch bei ihm ist also die Verbindung zwischen Nachdenken und Gehen, wie bei so vielen anderen, offenkundig.

Aber eine Wanderung, die über mehr als vierzig Kilometer führt, unterscheidet sich von einem Spaziergang so substanziell, dass als gemeinsamer Nenner eigentlich nur das Gehen übrigbleibt. Immerhin. Aber frische Luft schnappen wollen und dabei die Gedanken in Schwung bringen, das allein trägt niemanden vierzig Kilometer weit, geschweige denn über noch längere Distanzen hinweg. Wenn man so lange unterwegs ist, dann kann man nicht die ganze Zeit in der Selbstreflexion verharren, dann kann nicht jeder Schritt zu einem neuen Gedanken führen. Bei einer solch langen Wanderung muss auch dem Auge etwas geboten werden, und es muss auch Phasen geben, in denen die Gedanken zur Ruhe kommen bzw. unaufdringlich im Hintergrund abgespult werden.

Ich bin jetzt in Marschierlaune.
Kilometer um Kilometer bringe ich hinter mich, ohne auch nur für einen einzigen Augenblick innezuhalten. Ich wandere in das Zentrum eines Raums der Stille hinein, die losgelöst ist vom Lärm der Außenwelt.
Von diesem Lärm ist hinter Lebach allerdings ohnehin so gut wie nichts mehr zu hören. Ich bin jetzt nicht mehr weit von da entfernt, wo ich Stunden zuvor, von Eppelborn kommend, nach Landsweiler abgebogen bin.
Im immer mehr sich verflüchtigenden Abendlicht wirkt der Weg einsam und schön.
Mit jedem Atemzug rückt der Horizont näher heran.
Alles löst sich nach und nach auf, wird Teil der Dämmerung, dann Teil des Dunkels.
Dabei ist es noch nicht einmal 17 Uhr.
Aber ein paar Tage vor der Wintersonnenwende bedeutet das: Es ist eigentlich schon Nacht.

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