TOUR 107 – VON MANNHEIM NACH LAMPERTHEIM
Es ist nicht völlig auszuschließen, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen wird, an dem es mich nicht mehr reizt, mich zu Fuß auf den Weg zu machen.
Vielleicht sind keine Wege und keine Ziele mehr da, die ich noch als lohnenswert erachte, vielleicht stelle ich fest, dass das Feuer erloschen ist oder meine Beine versagen mir einfach den Dienst.
Gerade letzteres gehört zu den unvorhersehbaren Dingen, die man nicht oder zumindest nur sehr begrenzt selbst in der Hand hat.
Was die lohnenswerten Wege und Ziele betrifft, so habe ich im Moment das Gefühl, ich könnte 200 Jahre alt werden und würde am Ende immer noch etwas Neues entdecken. Die Lust am Aufbruch und am Unterwegssein zu Fuß ist ungebrochen, aber ich denke, man sollte sich immer wieder einmal ins Bewusstsein rufen, was für ein Geschenk es ist, auf zwei gesunden Beinen durch die Welt laufen zu können.
Wir sind wieder einmal in Mannheim.
Der Winter hat begonnen.
Ein noch recht milder Winter.
Ein Regenwinter, kein Schneewinter, wie so oft in den letzten Jahren.
Der Herbst ist halb schon Erinnerung, halb ist er aber auch noch gegenwärtig.
Der Himmel ist wolkenlos blau, so dass man ihn die ganze Zeit irgendwie wahrnimmt, selbst wenn man nicht bewusst hinschaut.
Es ist ein Inseltag. Ein Inseltag zwischen Armeen dunkler, grauer Tage davor und danach, an denen es mitunter stundenlang in Strömen regnete und an denen man von morgens bis abends unter einem erdrückenden, bleiernen Himmel hinlief, der nur Zentimeter von den Dächern der Häuser entfernt zu sein schien.
Unser Ausgangspunkt ist der Mannheimer Hauptbahnhof.
Den ersten Teil der Wanderung bis zum Industriehafen bzw. bis zur Friesenheimer Insel kennen Jana und ich bereits von einer Erkundungstour ein paar Monate zuvor. Auch das Naturschutzgebiet Lampertheimer Altrhein, das wir am Ende durchwandern werden, ist bekanntes Terrain für uns. Die Strecke dazwischen allerdings – also alles, was zwischen Friesenheimer Insel und dem Lampertheimer Altrhein liegt – ist uns völlig unbekannt, so dass sich zu dem Reiz des bereits Bekannten die Neugier auf das Neue gesellt.
Auf dem Weg vom Bahnhof zum Wasserturm spielen wir die eine oder andere Variante für die ersten rund zehn Kilometer durch, aber allzu viele gibt es da gar nicht, wenn wir nicht riesige Umwege in Kauf nehmen wollen. Letztlich wählen wir die einfachste Route von allen – wir werden zunächst am Neckar entlanglaufen, dann einen Bogen durch Neckarstadt-West bis zum Wasserturm Luzenberg und der Diffenébrücke schlagen und von da quer über die Friesenheimer Insel zum Naturschutzgebiet Ballauf-Wilhelmswörth wandern.
Die Stadt ist leer, jedenfalls im Vergleich zu dem, was Jana und ich hier bereits erlebt haben. Am Wasserturm ist nur ein einzelner Spaziergänger zu entdecken, allerdings ist ein Teil des Geländes wegen Bauarbeiten auch abgesperrt.
Ziemlich gemächlich wandern wir weiter in Richtung Alte Feuerwache und von da zum Neckarufer hinab.
Wenn Jana und ich uns am Mannheimer Neckarufer aufhalten, lenken wir unsere Schritte meistens neckaraufwärts, also zur Maulbeerinsel oder weiter nach Ilvesheim und Seckenheim, manchmal auch noch weiter gen Ladenburg und Heidelberg.
Heute aber schlagen wir die entgegengesetzte Richtung ein.
Einen Steinwurf von hier mündet der Neckar in den Rhein, so dass man ohne weiteres sagen kann, dass wir auch heute wieder eine Zwei-Flüsse-Wanderung machen.
Eine Ahnung von Frühling ist zu spüren.
Sie hat mit dem hellen Himmel zu tun, mit dem hellen, ruhigen Himmel, unter dem alles, was keine blaue Farbe hat, unübersehbar heraussticht.
Eine weiße Möwe schwebt wie ein in der Luft aufgehängter Propeller über dem Fluss.
Wir halten uns zunächst auf dem asphaltierten Leinpfad, wechseln nach einigen Minuten aber auf den Trampelpfad, der unmittelbar am Ufer entlangführt.
Das Wasser ist ganz glatt, kein Lüftchen regt sich.
Die Uferböschung ist von dürren, aber für Winterverhältnisse noch ganz ansehnlichen Grasbüscheln bedeckt.
Die Optik auf der gegenüberliegenden Flussseite wird jetzt bereits von Industrieanlagen bestimmt.
Hier beginnt der in vier große Hafenanlagen und zahlreiche kleinere Abschnitte aufgeteilte Industriehafen.
Wie geplant – und im Grunde auch gar nicht anders machbar, wenn man zu Fuß von der Innenstadt zur Diffenébrücke gelangen möchte – schlagen wir einen Bogen durch Neckarstadt-West und laufen dann durch die Industriestraße auf die Diffenébrücke zu.
Die Industriestraße ist eine geschäftige, laute und, wie der Name schon sagt, von Industrie geprägte Straße, die beinahe schnurgerade durchs Hafenviertel verläuft.
Von nun an stoßen wir überall auf unserem Weg auf kleine und große Zeugnisse historischer Industriekultur – in die Jahre gekommene Backsteingebäude, versteckt liegend in Hinterhöfen, alte Mühlen und Lagerhallen, Infoschilder, die auf seit Jahrzehnten geschlossene Kleinbetriebe hinweisen, die hier ansässig gewesen sind und so weiter.
Die Diffenébrücke liegt am Rande des Stadtteils Luzenberg, in dem Mitte des 19. Jahrhunderts die älteste Arbeitersiedlung Mannheims entstand, die „Spiegelkolonie“. In den folgenden Jahrzehnten wurden im Zuge der immer mehr Fahrt aufnehmenden Industrialisierung ständig neue Wohnkolonien für Arbeiter gebaut. Um 1870 herum lebten in Mannheim gerade einmal 40 000 Einwohner, um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert bereits rund 100 000.
Unmittelbar neben der Brücke und gut von dort aus zu sehen steht der Wasserturm Luzenberg, errichtet um 1906 herum und damit rund 20 Jahre später als der bekanntere Wasserturm in der Innenstadt.
An die Diffenébrücke schließt sich die schon erwähnte Friesenheimer Insel an.
Hier geraten wir jetzt wirklich mitten in ein Gewerbegebiet, in dem wir vor lauter Lärm kaum unser eigenes Wort verstehen.
Wir laufen an Straßen entlang, auf denen ununterbrochen LKWs an uns vorbeidonnern und müssen dabei jede noch so kleine Firmenausfahrt im Blick haben, um nicht von abbiegenden Fahrzeugen überrascht zu werden.
Glücklicherweise ist die Passage nicht länger als vielleicht zwei bis drei Kilometer.
Zu meiner Überraschung lässt Jana plötzlich die Bemerkung fallen, dass wir am Rande der Friesenheimer Insel auf den Rheinauenweg stoßen müssten, an dem wir uns dann im Großen und Ganzen bis Lampertheim orientieren könnten.
Wie das?
Okay, der Rheinauenweg, von dem wir ja bereits einen kleinen Abschnitt in der Nähe von Schwetzingen zusammen gewandert sind, ist ein Streckenwanderweg, und dass Streckenwanderwege mitunter durch Gegenden führen, in denen man gemeinhin nicht unbedingt Wanderwege erwartet, das habe ich in den letzten Jahren oft genug erlebt.
Es zeigt sich auch rasch, dass Jana recht hat – an einem Brückenpfeiler entdecken wir tatsächlich das Wanderwegesymbol des Rheinauenweges.
Wir befinden uns nun im Norden von Mannheim, am Rande des anfangs erwähnten Naturschutzgebietes Ballauf-Wilhelmswörth.
Es ist früher Nachmittag.
Mit einem Mal ist es vorbei mit dem Lärm und eine im Vergleich dazu beinahe himmlische Ruhe umgibt uns.
Wir spazieren über einen Damm, der zwar nur wenig höher liegt als die übrige Landschaft, der aber trotzdem so eine Art langgestreckte Aussichtsplattform darstellt.
In den Schattenmulden hält sich hartnäckig Reif, aber die Wiesen in ein paar hundert Metern Entfernung liegen in beinahe sommerhellem Sonnenschein.
Überall durchziehen silbergraue Asphaltwege die Ebene.
Zur Linken, halb verborgen hinter Gestrüpp und niedrigen Bäumen, der Rhein.
Der Damm verläuft zunächst völlig im Schatten, dann aber rückt die Wand aus Bäumen weiter nach links und von jetzt auf gleich ist der Damm so etwas wie ein in die Weite hineinreichender Steg.
Wir vernehmen ferne Geräusche, die zu den Bildern passen, die wir sehen – zu der wie ausgerollt daliegenden Landschaft, zu dem weiten, hellen Himmel, zu den klein wie Spielzeugfiguren wirkenden Spaziergängern auf den Wegen irgendwo am Rande des Blickfeldes oder weit vor uns auf dem Damm.
Eine Weile sichten wir jetzt auf Schritt und Tritt zerbrochene Muscheln. Es ist beinahe, als ob wir hier durch ein trockengelegtes Meer waten würden. Ich kann mich an kein Hochwasser in den letzten Wochen erinnern, aber vom Himmel gefallen sind die Muscheln sicher erst recht nicht. Deshalb ist Hochwasser die einzige einleuchtende Erklärung für das Phänomen. Bei sehr rasch sinkenden Wasserpegeln, wie es nach Überschwemmungen ja oft der Fall ist, sind die Muscheln nicht schnell genug und bleiben infolgedessen am Ufer oder wie hier auf dem Damm zurück.
Auch unmittelbar unterhalb der Dammböschung verläuft nun ein asphaltierter Weg. Im Gegensatz zu dem Pfad auf dem Damm liegt der aber im Schatten, und Jana und mir steht der Sinn doch mehr nach Wintersonne.
In einem oder vielleicht auch zwei Kilometern Entfernung kommt nun die Theodor-Heuss-Brücke in unser Blickfeld, die einerseits wie ein frisch aus dem Museum entwendetes Exponat aussieht, andererseits etwas beinahe Bedrohliches hat.
Je näher wir kommen, desto mehr verstärken sich beide Eindrücke.
Im Innern der Brücke befinden sich Aufgänge für einen zwischen den Fahrbahnen, gewissermaßen also auf dem Mittelstreifen verlaufenden Rad- und Fußweg, und als wäre das nicht schon erstaunlich genug, ist das Bauwerk auch noch von allerlei Kammern und Bunkern aus WK II durchsetzt wie ein Felsmassiv von Höhlen. Die Kammern wurden zumindest zeitweise als Versteck für Diebesgut genutzt, aber sie erfüllen auch noch einen gänzlich anderen Zweck, indem sie Fledermäusen auf ihrem Weg nach Süden kurzfristig als Quartiere dienen.
Wir laufen unter der Brücke hindurch und gelangen auf einen von Bäumen gesäumten Asphaltweg.
„Lampertheim siebenkommairgendwas Kilometer“ lesen wir auf einem Wegweiser.
Das ist weiter, als wir gedacht haben.
Wir werden also vermutlich kurz vor Lampertheim in die Dunkelheit geraten, was aber nicht weiter schlimm ist.
Es ist ein schöner Nachmittag.
Ein Nachmittag, an dem es mit Abstufungen beinahe überall schön wäre, das schon, aber wir haben hier gerade so ziemlich alles, was wir brauchen und müssen uns keine Gedanken darüber machen, ob es anderswo schöner oder schlechter wäre.
Auf solch einem Damm zu wandern hat uns schon bei mehreren Touren an Rhein und Neckar gut gefallen. Heute kommt hinzu, dass das Wandern über den Damm und durch das Naturschutzgebiet nach dem interessanten, aber lauten Gang an den Hafenanlagen vorbei so etwas wie eine perfekte Ergänzung darstellt.
Wie so oft bei Wanderungen erleben wir eine Vielfalt unterschiedlicher Orte, ein Nebeneinander von Kulturlandschaft, Natur, Industriehistorie und so weiter. Zudem lernt man als Fußgänger eine Gegend ganz anders und viel intensiver kennen, als wenn man sich eines Fortbewegungsmittels bedient.
Weite Strecken zu Fuß zurückzulegen hat etwas Anachronistisches, es fällt aus dem Rahmen, da der Wanderer – oder Geher – sich zumindest für eine gewisse Zeit der Langsamkeit verschreibt und sich damit der Geschwindigkeit des modernen Alltags entzieht. Ein Begriff wie „Entschleunigung“ ist nicht ohne Grund erst zwei Generationen alt. Tendenzen zur Verlangsamung ohne Verwendung des konkreten Begriffes mögen bis in die Zeit zurückreichen, als die Geschwindigkeitsrevolution durch die Erfindung der Eisenbahn einsetzte, aber auch diese rund 200 Jahre bilden schließlich einen recht kurzen Zeitraum innerhalb der gesamten Menschheitsgeschichte.
Aber wie auch immer, in der heutigen Zeit, in der Schnelligkeit bis in alle Lebensbereiche hinein gegenwärtig ist, kann die relative Langsamkeit des Wanderns sehr erholsam sein. Sich Zeit zu nehmen bedeutet in diesem Fall Zeit zu gewinnen, nicht zu verlieren.
Endlich haben wir mal freie Sicht auf den Rhein und können uns direkt ans Ufer begeben.
Und zwar wirklich bis auf eine Fußbreite heran.
Das Blau des Wassers ist erheblich dunkler als das Blau des Himmels.
Für einen Moment und dann noch für einen weiteren ruht der Blick auf einem Punkt irgendwo zwischen Fluss und Himmel.
Es ist plötzlich so warm, dass man denken könnte, die letzten Tage des Winters seien schon angebrochen und nicht gerade mal die ersten Stunden.
Im Weitergehen stellen wir fest, dass der Horizont bereits immer mehr verblasst.
Die Schatten klettern den Damm herauf und erobern die letzten noch hellen Bereiche.
Die Sonne sinkt hinter die Baumspitzen herab, der Tag verliert seine Farben.
Innerhalb kurzer Zeit fällt die Temperatur um mehrere Grad.
Der Damm endet und wir laufen ein Stück über einen im Abendlicht fast schwarzen Asphaltweg. Es dauert aber nicht allzu lange, dann folgt schon der nächste Damm. Wir sind mittlerweile nicht mehr in Baden-Württemberg, sondern in Hessen, und damit auch in einem anderen Naturschutzgebiet, nämlich dem sogenannten Lampertheimer Altrhein.
Minute um Minute wird es jetzt immer ein Stück dunkler.
Es ist ein langsamer, ruhiger Übergang.
Eine Weile ist alles noch in ein mattes, abendliches Licht getaucht, das gerade noch hell genug ist, um den Weg zu erkennen.
Dann ist da nur noch ein schwach leuchtender Streifen am Horizont.
Der Altrheinarm ist nur ein paar Meter vom Weg entfernt und schimmert grünlich.
Bis zu den Tagen der Rheinbegradigung Anfang bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts war dieser Altarm das Hauptbett des Rheins. In jenen Zeiten änderte der Strom ständig seinen Lauf, vor allem nach Hochwasser, so dass die Anwohner nie vor Überschwemmungskatastrophen sicher waren.
Letzter Blick übers Land.
Das Licht ist fast völlig weg.
Die Äcker in fünfzig Metern Entfernung könnten genauso gut lichtlose Canyons sein.
Trotz der Dunkelheit sind nicht wenige Spaziergänger und Jogger unterwegs.
Das hell erleuchtete Lampertheim ist ja auch nur ein paar hundert Meter entfernt.
Das bedeutet, wir sind so gut wie am Ziel.
3 Comments
Sylban
Wie immer sehr lesenswert. Den Mannheimer Hafen habe ich noch genau vor Augen von einem Spaziergang in der Gegend vor einigen Jahren. Wenn wir gewusst hätten, dass da um die Ecke ein Naturschutzgebiet ist, hätten wir das vielleicht noch mitgenommen. Danke für den Text.
Gruß, Sylban
Jana
Auch das war wieder eine überraschend schöne Wanderung, lieber Torsten. Wir mögen ja beide die Abwechslung beim Wandern, insofern kamen wir hier voll auf unsere Kosten. Für den Mannheimer Industriehafen müssen wir uns irgendwann mal mehr Zeit nehmen. Das Gehen durch das Naturschutzgebiet Ballauf-Wilhelmswörth mit Abstechern zum Rhein war einfach fantastisch. Und das Wetter war uns auch wohlgesonnen!
Liebe Grüße
Jana
gorm
Den Industriehafen kannten wir ja schon ein wenig, aber diesen Rundgang müssen wir unbedingt irgendwann machen, liebe Jana.:-) Das Naturschutzgebiet Ballauf-Wilhelmswörth war dann im Prinzip tatsächlich die Überraschung, aber die passte gerade nach der doch recht lauten Passage zuvor bestens in den Ablauf. Unter dem Strich eine wunderbare Wanderung. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass auch Wanderungen mit starken Kontrasten sehr interessant sein können.
Liebe Grüße
Torsten