Wandertouren

TOUR 91 – RUND UM EBERBACH

Erste Herbsttage.
Tage des allmählich verblassenden Lichts und der im Nebel verschwindenden Horizonte, Tage der grauen, dunstigen Morgendämmerungen und des verwitterten, ausgebleichten Endsommerblaus, Tage der leuchtenden Farben, Tage des allerletzten, schon kaum mehr vorhandenen Sommerhauchs und der ersten Ahnung kalter Wintermorgen, Übergangstage, Schwellentage, Tage, an denen man schon beinahe die Erinnerungen eines ganzen Jahres mit sich trägt.

Und natürlich auch Tage des Wanderns.
Es gibt ja nicht wenige, für die der Herbst sogar die beste Zeit zum Wandern ist. Was allein schon deshalb kein Wunder ist, weil man sich im Herbst im Allgemeinen nicht mehr mit der teilweise gnadenlosen Hitze der Sommermonate beschäftigen muss.

Jana, mit der ich heute wieder unterwegs bin, mag den Herbst ebenfalls sehr, vor allem den trockenen, farbenfrohen Oktoberherbst.
Der Herbst hat allerdings viele Gesichter und heute wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als uns damit abzufinden, dass es kaum mehr als dämmerhell wird und dass der Himmel schwer wie eine Betonplatte auf die Landschaft drückt. Das Grau ist allgegenwärtig, es scheint in die Luft hineingewoben zu sein.
Es sieht nach Regen aus, und zwar nach einem Regen, der so bald nicht mehr aufhören wird, wenn er erst einmal eingesetzt hat.

Die Straßen in Eberbach sind leer wie an einem regnerischen, kalten Novembertag. In den Gassen um den Lindenplatz herum ist es dunkel wie in einem unbeleuchteten Haus bei einsetzender Abenddämmerung.
Immerhin ist es nicht besonders kalt, zumindest nicht, solange man in Bewegung ist.
Alles in allem also gar keine schlechten Voraussetzungen.

Es gibt in der direkten Umgebung von Eberbach jede Menge lohnenswerter Ziele, vom Ohrsbergturm über die Ruinen dreier Burgen bis zum Arboretum auf dem Itterberg.
Letztlich haben Jana und ich uns aber für eine Tour entschieden, die uns über den idyllischen Holdergrund und den Scheuerberg zum Naturschutzgebiet Breitenstein mit dem Aussichtspunkt Teufelskanzel führt.
Wir werden während der gesamten Wanderung in der unmittelbaren Nähe von Eberbach bleiben, und doch werden wir so viel Unterschiedliches zu sehen bekommen, als wären wir zu einer ultralangen Etappe eines Fernwanderweges aufgebrochen.
Die Tour wird eines dieser Erlebnisse werden, die unter anderem gerade dadurch einen so überwältigenden Eindruck hinterlassen, weil sie so unerwartet kommen.
Das gilt natürlich nur für mich, denn Jana ist hier in der Gegend zu Hause und sie ist es auch, die diese Wanderung zusammengestellt hat.
Die Fotos der Frühlingswanderung, die sie vor zwei Jahren im Holdergrund gemacht hat, zeigen eine idyllische Waldlandschaft – eine Brücke, einen Bach, wucherndes Grün überall, irgendwo darüber ein heller Himmel, nichts von Ahnung, nichts von Andeutung, alles ist ganz scharf umrissen.
Damals ein bereits mehrere Wochen alter Frühling, heute ein noch in den Kinderschuhen steckender Herbst, von dem irgendwie noch gar nicht so viel zu sehen ist.

Ganz so bleibt es allerdings nicht.
Solange wir uns in den Straßen der Stadt bewegen, ist es im Grunde nur ein windiger, trüber Septembertag, und dass der Herbst begonnen hat, zeigt sich lediglich an ein paar wenigen verfärbten Blättern, die der Wind umherwirbelt.

Aber schon wenige Schritte hinter den letzten Häusern ändert sich das grundlegend.
Mit einem Mal spürt und sieht man den Herbst viel intensiver als in der Stadt.
Überall auf der Erde verwelktes Laub, an manchen Bäumen noch mattes Grün, aber durchsetzt von Farben, die der Sommer nicht kennt.
Das Licht über den Baumwipfeln wirkt fast grau, aber es ist ein helles Grau, an der Schwelle zu Weiß.

Der Weg führt ein ganzes Stück den Berg hinauf, nicht allzu steil, aber stetig.
Von Wanderern oder Spaziergängern keine Spur.
Es ist erstaunlich, wie rasch wir in eine beinahe vollkommene Waldstille gelangen. Vom letzten Haus Eberbachs aus gerechnet wandern wir gerade einmal dreihundert Meter und schon ist von irgendwelchen Stadtgeräuschen nicht mehr das Geringste zu hören.

Auf dem Parkplatz, von dem aus viele Wanderer zum Holdergrund-Rundweg aufbrechen, steht kein einziges Auto.
Sieht also fast so aus, als hätten wir den Wanderpfad heute ganz für uns.
Wir entdecken aber gleich auch etwas, das uns nicht besonders gefällt – ein Teil der Strecke ist nämlich gesperrt, wohl wegen Windbruchs.
Jana mutmaßt, das beträfe nur den zur Strecke gehörenden Vogellehrpfad, so dass wir nach rund anderthalb Kilometern einfach umkehren und den gleichen Weg zurückwandern müssten.
Hierher zurückkehren müssen wir in jedem Fall, wenn wir zum Scheuerberg wollen, ob wir später nun umkehren oder doch den gesamten Rundweg gehen.

Der Gegensatz zwischen dem Nachhall von Sommer an den Bäumen und sattem, schon fortgeschrittenem Herbst auf dem Boden besteht weiter.
Es ist auch nicht so, dass das trübe Wetter alles mit einem nahezu undurchdringlichen Felsgrau umhüllt, so dass man den Eindruck haben könnte, als würde das Blickfeld von Betonmauern begrenzt. Ein paar Sonnenstrahlen würden das Ganze noch etwas eindrucksvoller in Szene setzen, aber das ist eigentlich auch schon alles.

Eine Weile bewegen wir uns auf einem breiten Waldweg oberhalb eines Wildgeheges voran, bei dem der Geruchssinn allein ausreicht, um zu wissen, dass es da ist, dann biegen wir auf einen schmalen Saum ab, an den wir uns aber gar nicht erst zu gewöhnen brauchen, da er schon nach hundert Metern wieder zu Ende ist.

Unten exakt jenes ganz stille, entrückte Bild mit der Holzbrücke und dem Bach, das ich von Janas Foto her bereits kenne. Nur dass es eben Frühherbst und nicht Frühling ist.
Ich glaube, das ist der Punkt, an dem ich weiß, dass diese Wanderung heute durch nichts mehr zerstört werden kann, selbst wenn der Rest der Tour von jetzt an durch stickige unterirdische Gänge verliefe.
Jana kennt die Stelle natürlich schon, aber hierher kann man ruhig auch häufiger als einmal kommen und trotzdem noch immer begeistert sein.

Über ein paar Steinbrocken balanciere ich in die Mitte des Bachbettes und verharre dort.
Aus dieser Perspektive sieht es fast so aus, als seien Teile der Brücke überwuchert und als beginne dahinter ein kleiner Urwald.
Ungefähr eine Minute lang bleibe ich da stehen, während sich ganz langsam so eine Art gedämpftes Hochgefühl in mir aufbaut.
Mitunter muss man weit, sehr weit wandern, damit sich vielleicht irgendwann das Gefühl einstellt, dass man wirklich vorangekommen ist, aber in Augenblicken wie diesem kommt man dahinter, dass dazu am richtigen Ort und zur richtigen Zeit auch schon mal ein paar wenige Schritte ausreichen können.

Die Sperrung des Weges fällt, wie erhofft, überhaupt nicht ins Gewicht.
Und das, obwohl der Holdergund-Rundweg insgesamt nicht mehr als etwa dreieinhalb Kilometer lang ist und wir durch die Sperrung fast die Hälfte davon verpassen.
Aber es ist einfach nicht wichtig, weil der verbliebene Rest des Weges keine Wünsche offenlässt.

Wir überqueren die Brücke und setzen unsere Wanderung fort.
Es scheint eine Gesetzmäßigkeit zu sein, dass Holzbrücken auf Wanderwegen immer im Rudel anzutreffen sind.
Einer ersten Holzbrücke folgt eigentlich so gut wie immer irgendwann eine zweite, oft auch eine dritte oder vierte.
Diesmal dauert es kaum länger als ein Augenblinzeln, ehe die zweite Brücke auftaucht, und sie wirkt beinahe ebenso idyllisch-pittoresk wie die erste. Im Übrigen führt der Pfad sehr anmutig an dem erwähnten Bachlauf vorüber, das Wasser ist so klar, dass man die Steine auf dem Grund zählen kann.
Von irgendwoher hört man gedämpfte Autogeräusche, aber nur wenige Sekunden lang, dann ist es wieder so still wie im Inneren einer Raumsonde am Rande des Sonnensystems.

Überraschung.
An dem Punkt, an dem wir wegen der Sperrung des Weges umkehren müssen, kommt uns ein Wanderpärchen entgegen, das sich offensichtlich nicht darum kümmert, ob der Pfad gesperrt ist oder nicht.
Das unübersehbare Schild mit der Aufschrift „Lebensgefahr“ ist zumindest Jana und mir aber deutlich genug.

So viel Zeit wir uns auf dem Hinweg gelassen haben, so rasch bringen wir den Rückweg hinter uns. Es dauert nicht einmal eine Viertelstunde und schon befinden wir uns wieder auf dem Parkplatz am Startpunkt des Rundwegs, und der ist immer noch genauso leer wie eine Stunde zuvor.

Der Scheuerberg liegt von hier aus gesehen deutlich höher.
Kein Wunder also, dass der Weg jetzt wieder bergan führt.
Der Asphalt ist stellenweise feucht, aber es lässt sich so gut darauf gehen, als wäre seit Wochen kein einziger Tropfen Regen mehr gefallen.
Auch hier dieser Kontrast zwischen hellem, schimmerndem Laub an den Straßenrändern und beinahe frühlingshaftem Grün an den Bäumen.
Am Himmel zwar immer noch das trübe Asteroidengrau, das von Beginn an da war, aber ganz langsam scheint es sich doch ein wenig aufzuhellen.

Jana ist sich sicher, dass über den Scheuerberg der Neckarsteig verläuft, der ja in Heidelberg beginnt und von da über offiziell neun Etappen durch den Odenwald bis nach Bad Wimpfen führt.
Es dauert auch gar nicht lange, da entdecken wir das den Neckarsteig symbolisierende blaue N auf weißem Grund an einem Baumstamm.
Gut möglich, dass wir dem Steig einfach nur weiter folgen müssten, um zum Breitenstein und zur Teufelskanzel zu gelangen, aber ebenso gut kann uns der Weg in die entgegengesetzte Richtung führen und dann würden wir uns unserem Ziel nicht nähern, sondern uns davon entfernen.

Wenn es nicht schon spät am Nachmittag wäre, dann würden wir vielleicht sogar tatsächlich einfach weiterwandern, egal, wo der Weg uns hinführt, denn erstens sind wir gerade so schön im Gehen drin und zweitens können wir uns kaum etwas Besseres wünschen als die herbstlich anmutende, stille Hügelkuppe, die wir hier vorfinden.
Ich bin ziemlich erstaunt, wie vollkommen abgeschieden alles hier wirkt, obwohl wir kaum mehr als zwei Kilometer von Eberbach entfernt sein können. Eigentlich ist nichts zu hören als unsere Stimmen und das Rauschen des Windes in den Baumkronen.
Trübes Wetter hin oder her, man sollte eigentlich annehmen, dass so ein frischer, milder Herbsttag eine Menge Leute hinter dem Ofen hervorlockt, aber davon kann bisher keine Rede sein.

Für vielleicht eine halbe Stunde arbeitet sich völlig unerwartet die Sonne hervor.
Es wird hell, heller als jemals zuvor am heutigen Tag.
Mit der Helligkeit kommt das Leuchten.
Es ist kein richtiges Indian-Summer-Leuchten, aber es ist immerhin so etwas wie ein Vorgeschmack darauf.

Wir laufen wieder ein Stück auf dem Weg zurück, den wir gekommen sind, biegen dann aber irgendwann nach links statt nach rechts ab und finden uns alsbald auf dem uns schon bekannten Asphaltweg wieder.
Es ist immer noch ganz still, man könnte fast meinen, hier oben sei seit hundert Jahren niemand mehr gewesen.
Das Bild, das sich uns bietet, ist um einiges herbstlicher als noch im Holdergrund.
Zwar immer noch viel Grün an den Bäumen, aber unter das Grün mischen sich auch viele andere Farben.
Der Weg ist von einem breiten, lückenlosen Blätterteppich bedeckt, auch die Böschungen zu beiden Seiten sind völlig von buntem Laub eingenommen.

Die Sonne ist mittlerweile schon wieder hinter dunklen Wolkenriffen verschwunden.Trotzdem ist es angenehm mild, keine Spur von Kälte.
Der allmählich hereinbrechende Abend lässt die Farben matter erscheinen und nimmt mit beinahe jeder Minute ein Stück mehr vom Horizont weg.
Die Welt schrumpft nach und nach zusammen, der Himmel ist nicht mehr trübe, sondern blass.

Allein schon wegen der nicht mehr allzu weit entfernten Dämmerung wird es höchste Zeit, dass wir zum Breitenstein bzw. zur Teufelskanzel kommen, denn wenn es zu dunkel ist, haben wir von dem Ausblick auf den Neckar nicht mehr viel.

Jana äußert die Vermutung, dass es nicht mehr allzu weit bis zum Parkplatz am Breitenstein sein kann.
Wir wandern durch ein fast schon völlig lichtloses Waldstück und kurz darauf einen Abhang hinunter, der so steil abfällt wie ein zugefrorener Wasserfall, aber dann sind wir tatsächlich auch schon so gut wie da.
Im Gegensatz zu dem Parkplatz am Holdergrund stehen auf dem am Breitenstein ein paar Autos und wir begegnen endlich auch wieder Spaziergängern.

Bis zur Teufelskanzel haben wir nun noch vielleicht einen Kilometer zurückzulegen, mehr nicht.
Es ist ein schöner Kilometer.
Apfelbäume im schwindenden Tageslicht, die Sonne noch eine Handbreit über den Hügeln, ein Weg, der aus der Stille kommt und in die Stille hineinführt, Wiesen wie frei schwebende Ebenen übereinandergeschichtet, dazwischen uralte Trockenmauern, im Wald dann schwaches, abendgraues Licht, aber keine hundert Schritte entfernt, dort, wo die Bäume enden, ein Lichtkreis, hell wie eine leuchtende Wolke.

Die Teufelskanzel.
Wir sehen ein winziges Stück vom Neckar, eingebettet in die Hügellandschaft des Kleinen Odenwalds.
Deutlich zu erkennen auch die Staustufe Rockenau. Dahinter nur noch ein kurzes Aufblinken von Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche, dann nehmen die Hügel uns die Sicht auf den Fluss.

Am Ende der Wanderung, zurück auf dem Lindenplatz in Eberbach, werden wir exakt 14 Kilometer zurückgelegt haben, und trotzdem habe zumindest ich ansatzweise das Gefühl, tagelang irgendwo in den Tiefen des Odenwalds umhergestreift zu sein und die Eindrücke mehrerer Wanderungen aufgenommen zu haben.
Exakt in dem Moment, in dem wir auf dem Lindenplatz ankommen, setzt der schon vor Stunden erwartete Regen ein, aber das kann uns jetzt egal sein.

3 Comments

  • Mata

    Es zieht sich wie ein roter Faden durch deine Wandertexte, dass es vom ersten bis zum letzten Schritt ganz leichtfällt, alles nachzuvollziehen. Die schönen Fotos tun ihr Übriges.

    Grüße, Mata

  • Jana

    Es war so schön, mit dir hier stadtnah durch die Natur zu streifen, lieber Torsten! Eberbach ist umgeben von vielen (Umlauf-)Bergen, die gespickt sind mit teils sehr schönen Wanderwegen und tolle Ausblicke bieten. Wenn du wieder hier bist, gehen wir auf den Itterberg, schlage ich vor.
    Vielen Dank für den wieder wunderbaren Text zu unserer Wanderung, ich habe das Lesen sehr genossen.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Die nähere und weitere Umgebung von Eberbach ist einfach großartig. Ein paar Dinge habe ich im Text ja aufgezählt, aber das ist bei weitem nicht alles. Und was die Wanderwege angeht, so gibt es neben den schönen lokalen Wanderwegen ja auch noch den Neckarsteig und den Katzensteig als Fernwanderwege. Da ist nun wirklich für jeden was dabei. Unsere Wanderung war wunderbar, liebe Jana, vom ersten bis zum letzten Schritt, und auf den Itterberg freue ich mich jetzt schon.:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

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