TOUR 78: SAARBURG – SAAR-LEUKTAL-PANORAMAWEG
Saarburg liegt unter einer dicken Schicht zerklüfteter Wolken.
Es regnet.
Ein dünner, milder Regen, der alle Konturen verschwimmen und der die Distanzen geringer erscheinen lässt.
Steingrau der Himmel.
Man kommt sich vor wie in einem Raum, in dem die Wände sich aufeinander zubewegen.
Die Häuserzeilen entlang der Saar wirken wie in einen dünnen Kokon aus Regen und Nebel hineingewoben, hier und da sticht ein hellerer Farbton hervor, im Fluss spiegelt sich eine fahle Wolkenlandschaft. Es ist weder kalt noch winterlich, es ist einfach nur grau und nass.
Die Straßen sind nicht gerade belebt.
Auf meinem Weg vom Bahnhof zur Innenstadt begegnet mir nur vereinzelt mal ein Fußgänger.
Sogar der Marktplatz ist vollkommen menschenleer. In einem der erleuchteten Cafés sitzt ein Gast einsam an einem Tisch und liest in einer Zeitung. Im Eingang einer Bäckerei steht eine Verkäuferin und starrt in den Regen hinaus.
Mit den zahlreichen historischen Gebäuden ringsum hat die Szenerie etwas von einem Freilichtmuseum, das vorübergehend für Besucher geschlossen ist.
Saarburg nennt ein ganz besonderes Wahrzeichen sein Eigen, und zwar den im Zentrum der Stadt 18 Meter in die Tiefe stürzenden Wasserfall des Leukbaches, der bereits seit dem 12. Jahrhundert besteht.
An sonnigen Tagen zieht dieser Wasserfall eine Armee von Schaulustigen an, heute stehe ich ganz allein auf der darüber hinwegführenden Brücke.
Ein paar Minuten lang streife ich kreuz und quer durch schmale, verlassene Gassen, wobei ich mich zunächst noch nicht daran orientiere, welches der kürzeste Weg zum Leuktalpfad ist. Ich laufe einfach umher und sammle einige Eindrücke. Schließlich aber schlage ich zielstrebig die Richtung ein, in der ich ein paar hundert Meter oberhalb der Stadt auf den Leuktalpfad zu stoßen gedenke.
Dabei dämmert mir allmählich, dass ich exakt diesen Weg vor mehr als drei Jahren schon einmal gegangen bin, nämlich bei meiner Wanderung von Saarburg nach Saarhölzbach.
Ebenso wie damals stapfe ich jene steile, enge Straße hinauf, die vom Rande der Innenstadt an der ehemaligen Jugendherberge und den letzten Häusern vorüber hinauf zum Kruter Berg führt und ebenso wie damals bin ich innerhalb weniger Minuten in einem vom Wind beherrschten Nirgendwo angekommen, um mich her alles voller Hügel und winziger Dörfer.
Es regnet immer noch, aber das stört mich nicht im Mindesten.
Gehen im Regen ist eine ganz eigene Sache.
Die Außenwelt schrumpft zusammen, manchmal auf nicht mehr als auf das, was man innerhalb seines Gesichtsfeldes erfassen kann, sie wird beinahe zu so etwas wie einem abgeschlossenen Raum, den mehr oder weniger dünne Wände aus herabfallendem Wasser von weiter entfernt liegenden Bereichen trennen.
Man ist mehr bei sich selbst, wenn es regnet, vor allem natürlich, wenn es stark regnet. Manchmal ist sogar der Wegrand schon zu weit entfernt, um wirklich noch wahrgenommen zu werden, manchmal rückt das, was ganz nahe ist, im Regen noch näher heran, mitunter könnte man aber auch genauso gut durch einen lichtlosen Tunnel wandern, da man ohnehin auf nichts anderes mehr achtet als darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Aber im Grunde genommen – wenn die Kleidung dem Wetter angemessen ist, was sollte einen daran hindern, eine Regenwanderung zu machen?
Ein paar hundert Meter hinter den letzten Häusern komme ich an jene Kreuzung am Waldrand, bei der ich drei Jahre zuvor in Richtung Kastel-Staadt abgebogen bin.
Mittlerweile hat sich so manches verändert hier oben.
Das Schild mit der Aufschrift „Kruter Berg“ war damals noch genauso wenig vorhanden wie die drei Bänke am Wegrand und die Panoramatafel mit den Namen der Orte und Hügel, die man von hier aus sehen kann.
Kein Wunder, dass es das alles noch nicht gegeben hat, denn der Saar-Leuktal-Panoramapfad wurde ja auch erst im Jahr 2018 ins Leben gerufen, ist also gerade mal knapp über ein Jahr alt.
Damals hatte ich von dem einzuschlagenden Weg keine genauere Vorstellung, als wenn ich in einer mir völlig unbekannten Gegend mit verbundenen Augen zu einer Wanderung aufgebrochen wäre.
Heute muss ich, wenn alles läuft wie erwartet, einfach nur den Wegweisern des Panoramapfades folgen und werde in drei oder vielleicht auch vier Stunden wieder an der Stelle sein, an der ich mich jetzt befinde.
Was sich überhaupt nicht verändert hat, das ist die Atmosphäre von Abgeschiedenheit, die natürlich noch verstärkt wird durch den unablässigen Regen.
Über den Wiesen steigen weißliche Nebelgespinste auf.
Der Blick in die Ferne ist wie der Blick durch eine beschlagene Scheibe.
Ich mache jetzt erst einmal, dass ich in den Wald komme.
Ich schlage nicht die Richtung von damals ein, sondern laufe geradeaus weiter.
Für den Moment hat der Regen aufgehört, aber ein Blick zum Himmel genügt, um zu wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er wiederkehren wird.
Die Erde ist bedeckt von nassem Laub. Am Rande sprießt etwas Grün. Dünne Birken und Fichten säumen den Pfad, je tiefer die Hänge hinauf oder hinab, desto schemenhafter.
Binnen Minuten stellt sich ein Gefühl ein, als würde ich auf einem Steg an einem Teich hocken und die Beine baumeln lassen.
An dem Wald ist nichts Winterliches. An manchen Ästen hängt sogar noch helles, glänzendes Laub.
Ich laufe ein paar flache, fast unter der Erde verschwindende Stufen hinunter.
Die Bäume stehen weit auseinander, nicht wenige sind offensichtlich in letzter Zeit gefällt worden. Weit in den Wald hinein kann man trotzdem nicht sehen, vielleicht drei oder vier Baumreihen, dann werden die Stämme schon eins mit dem Nebel.
Er hat noch fast etwas vom dämmrigen Licht des frühen Morgens, dieser Nebel, aber irgendwie hat man heute ohnehin den Eindruck, dass es gar nicht so richtig Tag wird.
Der Pfad wird breiter und führt aus dem Wald heraus.
Der Regen macht überraschenderweise immer noch Pause. Ich rechne jeden Augenblick damit, dass es wieder losgeht. Die Frage ist nur, ob es ein vernachlässigbares Getröpfel wird oder ob es schütten wird wie aus Bottichen.
Ich wandere eine Weile am Waldrand entlang.
Irgendwo schräg rechts zwischen zwei Hügeln erblicke ich die Häuser eines winzigen Dorfes.
Zwei, drei Minuten lang hege ich die Erwartung, dass mich der Weg da hinaufführt, aber dann wird mir klar, dass das aus mehreren Gründen extrem unwahrscheinlich ist.
Erstens, weil der Panoramapfad ja nur ca. 11 Kilometer lang ist und allein schon deshalb nicht in hundert Schleifen durchs Gelände mäandern kann.
Zweitens komme ich auf dem gesamten Panoramapfad nur durch ein einziges Dorf, nämlich durch Trassem, den eigentlichen Startpunkt, und dieses Dorf da oben ist ganz bestimmt nicht Trassem.
Im Weiterlaufen versuche ich, mir in groben Umrissen die lokalen geografischen Verhältnisse vor Augen zu führen.
Ein paar Kilometer hinter dem Hügel, auf dem ich jenes Dorf sehe, dürfte schon Luxemburg liegen. Wenn ich von hier aus in südlicher Richtung durch die Luft marschieren würde, dann wäre ich nach schätzungsweise anderthalb Stunden an der Saarschleife. Saarburg, der Ort, von dem aus ich gestartet bin, liegt pi mal Daumen fünf Kilometer nordöstlich von hier und wenn ich von dort aus noch rund zehn Kilometer weiter nach Norden ginge, dann würde ich in Trier landen.
Wieder ein paar flache, kaum sichtbare Stufen.
Danach eine dieser breiten Schneisen, auf denen man eindösen könnte, ohne vom Weg abzukommen.
Es ist völlig still. So still, wie es nur an einem Tag sein kann, an dem es kaum richtig hell wird.
Je kleiner der Ausschnitt des Blickfeldes, desto gegenwärtiger wird diese Stille.
Ich komme an einer kleinen Kapelle vorüber, deren Weiß, auch wenn es nicht gerade blendend ist, eine willkommene Abwechslung für das Auge darstellt.
Allmählich müsste ich mich Trassem nähern, schätze ich.
Es fängt wieder an zu regnen.
Noch nicht besonders stark, aber die Umgebung wirkt im Handumdrehen einige Nuancen grauer. Ich bleibe möglichst ganz am Rande des Weges, denn der Grassaum dort ist nicht ganz so schlammig wie der Weg selbst.
Ein paar zwitschernde Vögel, das wäre es jetzt.
Stattdessen vernehme ich in meinem Rücken das Geräusch eines langsam sich nähernden Wagens.
Ohne mich umzusehen, weiche ich noch einen Schritt weiter zur Seite aus.
Das Auto rollt langsam an mir vorüber, wird noch langsamer und hält ein paar Meter weiter in einer parkplatzähnlichen Bucht an.
Ein älterer Mann steigt aus und ruft mir ein paar Worte zu, die beinahe der Wind mit sich nimmt.
Ich verstehe nur ungefähr jede zweite Silbe, reime mir aber zusammen, dass er wissen will, ob ein 5 Jahre alter Labrador mich in Panik versetzen würde.
Ich schüttele den Kopf.
Daraufhin öffnet er eine der beiden hinteren Türen und eine Millisekunde später kommt ein großer Hund auf mich zugeschossen.
Ich hätte nicht einmal Zeit, die Stirn zu runzeln, so schnell ist er da und springt an mir hoch.
Hätte ich mir ja denken können.
Der Mann ruft den Hund zurück, aber für den Rest der Wanderung trage ich die schlammigen Abdrücke von Hundepfoten an meiner Regenhose mit mir herum.
Wie erwartet, wandere ich jetzt auf Trassem zu.
Von dem Mann mit dem Hund weiß ich, dass ich zuerst in den Ortsteil Perdenbach kommen werde, der aber nur ein paar wenige Häuser umfasse.
Später lese ich, dass das gesamte Gemeindekonstrukt den Namen Trassem-Perdenbach führt und ungefähr 1100 Einwohner hat.
Ich behalte einen alten Briefkasten an der abblätternden Fassade eines alten Hauses und den Turm einer schönen, über schwarze Hausdächer hinausragenden Kirche in Erinnerung.
Außerdem die sumpfige Wiese am Ortsrand, durch die ich wate, und den mit Steinen ausgelegten Bachlauf der Leuk, den ich aber lieber nicht benutze, da die Steine vom Regen glitschig sind wie mit Schmierseife bestrichen. Stattdessen laufe ich lieber über die erheblich ungefährlichere Brücke ein paar Schritte daneben.
Hinter Trassem beginnt bald schon wieder der Wald.
Der Pfad steigt eine ganze Weile bergan.
Der Regen wird immer stärker und verwandelt die Umgebung in eine Welt von Schemen und Schatten. Alles ringsum verliert an Schärfe. Es gibt kein Ganzes mehr, sondern lediglich noch ein Nebeneinander einzelner Elemente, die immer weiter auseinanderzudriften scheinen.
Es ist ein ganz ruhiges, beinahe meditatives Gehen, einfach deshalb, weil da so gut wie nichts ist, was ablenkt.
Meine Wahrnehmungen reduzieren sich auf den Weg selbst und höchstens noch auf Dinge unmittelbar am Rande des Weges. Alles, was weiter weg ist als fünfzig Schritte, verbirgt sich hinter einem Vorhang.
Ich laufe laubübersäte Stufen hinauf, folge Pfaden, die ohne jede Hektik die Richtung wechseln, manchmal flach, manchmal leicht bergan, mitunter glänzt hier und da nasses Moos zwischen den Wurzeln, später dann wieder dieser merkwüdig anmutende Herbstwald, rötliches Oktoberlaub überall, so dass der Pfad oft gar nicht mehr erkennbar ist, und das alles ist keine Grashalmbreite schlechter oder schäbiger als an einem strahlend hellen Sonnentag.
Dass der Regen heute noch aufhört, kann ich vergessen.
Ich lasse den Wald hinter mir und marschiere eine kleine Anhöhe hinauf.
Vor mir eine Straße, die aus dem Grau in noch graueres Grau und gleichzeitig aus dem Nirgendwo in ein noch abgelegeneres Nirgendwo zu führen scheint.
Am Wegrand ein paar schiefe Baumgerippe, unten im Tal ein paar Häuserschemen.
Eine Sekunde später wird mir klar, dass ich das alles kenne, denn bei jener Tour vor gut drei Jahren bin ich schon mal hier vorbeigewandert, allerdings aus der entgegengesetzten Richtung kommend.
Der Blick über die Weiden und die Hügel ist eins zu eins der von damals, vom Regen abgesehen.
Das Dorf in der Senke ist Kastel-Staadt, wo es zwei vor Jahrhunderten von Mönchen in den Fels hineingeschlagene Kammern gibt, die einst weltabgewandten Asketen als Behausung gedient haben.
In Kastel hat Arno Schmidt mal gelebt, sicher einer der namhaftesten deutschen Schriftsteller der Nachkriegsära.
Keine Ahnung, wie er in der Zeit um 1950 herum hierhergepasst hat. Wahrscheinlich ähnlich gut wie JMR Lenz Ende des 18. Jahrhunderts nach Waldersbach in den Vogesen.
Nach vier Jahren zog Schmidt mit seiner Frau denn auch nach Darmstadt um.
Seine Kurzgeschichte „Schlüsseltausch“ spielt in Kastel und beginnt mit dem Satz „Da ist es sehr einsam, da hinten an der Saar.“
Vor 70 Jahren vielleicht noch etwas einsamer als heutzutage.
Ich marschiere weiter durch den Regen.
Die in beide Richtungen im Regendunst sich verlierende Straße wirkt beinahe wie frei in der Luft schwebend, ohne richtigen Anfang, ohne richtiges Ende.
Meistens gehe ich aber nicht direkt auf der Straße, sondern auf einem schmalen, schlammigen Pfad einen Meter daneben.
Den Blick in die Ferne kann ich mir sparen, mehr als ein paar verschwommene Hügellinien erkennt man sowieso nicht.
Es schüttet ununterbrochen und die Wege scheinen aus nichts mehr anderem als aus Schlamm zu bestehen.
Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass mir heute nicht ein einziger Wanderer begegnet.
Ein letztes Mal wandere ich in den Wald hinein.
Schönes, mildes Rot empfängt mich.
Ich vernehme das Geräusch des Regens, und wenn ich in den Regen hineinlausche, dann vernehme ich immer noch kein anderes Geräusch als das des Regens.
Immer wieder führt der Pfad von der Hauptschneise weg den Hang hinunter, in verborgenere Ecken des Waldes.
Plötzlich auch noch Nebel, dick wie eine Mauer. Schon in einer Armlänge Entfernung sieht es aus wie nachts an den Londoner Docks in Zeiten vor der Erfindung des elektrischen Lichts.
Das legt sich aber rasch wieder, so, wie sicher auch der Regen irgendwann enden wird.
Nach einem kurzen, giftigen Anstieg bin ich zurück auf dem Kruter Berg.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass in den Stunden, in denen ich auf dem Panoramapfad unterwegs gewesen bin, niemand hier oben war.
Komischerweise ist das der erste Gedanke, der mir kommt.
Der zweite ist: Die Wanderung hat durch den Regen nicht im Geringsten gelitten, sie hat im Gegenteil dadurch sogar einen besonderen Reiz entfaltet.
Mag für viele nicht nachvollziehbar sein, ist aber nach meinem Empfinden so.
Der dritte Gedanke lautet: Nichts wie ins Trockene!
3 Comments
Mata
Sehr schön zu lesen wieder. Es fällt wie immer sehr leicht, alles nachzuvollziehen und die Strecke „mit zu gehen“. Eine Regenwanderung war mal wieder fällig, die Sonnenwanderungen kommen ja noch früh genug.
Grüße, Mata
gorm
Natürlich bringt eine Regenwanderung ein paar Unannehmlichkeiten mit sich, aber für mich stand die Wanderung einer Tour bei strahlendem Sonnenschein in so gut wie nichts nach. Lediglich die Fernblicke waren stark eingeschränkt.
Vielen Dank für deinen Kommentar.
Grüße
Torsten
Roxanne
Toll geschrieben wieder. Die Regenatmosphäre wunderbar rübergebracht, auch die reduzierten Beobachtungen bei so einer Wanderung. Ich selbst würde nie im Regen wandern, aber darüber lesen kann Spaß machen.
Roxanne