Wandertouren

TOUR 58 – Itzenplitzer Pingenpfad

52 Tage sind seit meiner letzten Wanderung ins Land gegangen.
Beinahe ein ganzer Herbst ist gekommen, hat über viele Wochen hinweg alles in ein Farbenmeer verwandelt und liegt jetzt in den letzten Zügen, ohne dass ich auch nur einen einzigen Schritt auf einem Wanderpfad zurückgelegt hätte.
Ein paar Wochen lang habe ich das rechte Bein nach einer Meniskusverletzung irgendwie mitgeschleppt, aber mit beinahe jedem Tag habe ich mich ein winziges Stück von einer Fortbewegungsart, die von simplem Gehen so weit entfernt war wie Schlammwaten von Höhlentauche, einem Zustand angenähert, der es mir erlaubt, mich endlich wieder auf den Weg zu machen.

Der trübe Novembermorgen geht fast übergangslos in einen sonnigen, mit Farben aus unbekannten Sphären ausgestatteten Herbsttag über. Keine Rede mehr von undurchdringlichen grauen Nebelschleiern, von einem steingrauen Himmel, an dem kein noch so blasser Lichtschimmer sich zeigt, von Konturen, die schon in wenigen Metern Entfernung zu langsam sich auflösenden Schemen werden, als würden sie auf den Grund eines dunklen Sees hinabsinken.
Weiß wie ein Gletscher auf Island funkelt die Sonne über den Dächern und enthüllt nach und nach immer mehr von der Landschaft.

Ich denke bei dieser Wanderung buchstäblich von einem Schritt zum nächsten. Kein Wunder, dass heute mehr als je zuvor bei einer Tour die Wahrnehmung, das Empfinden des Augenblicks zählt.
Und zwar von Beginn an.

Der Bahnsteig in Merchweiler ist ebenso wie der Ort selbst überschaubar, was den Vorteil hat, dass es keine allzu weiten Wege gibt.
Kräfte sparen, das immer noch nicht ganz gesunde Knie keiner zu hohen Belastung aussetzen, unwegsame Stellen möglichst meiden, das sind heute die Kriterien, auf die ich in erster Linie mein Augenmerk richte.
Wenn ich am Ende der Wanderung sagen kann, dass die Tour nicht zu früh gekommen ist, dann genügt mir das völlig als elementare Erkenntnis.

Auf den eigens mitgebrachten Nordic-Walking-Stock gestützt, bugsiere ich mich die Treppen einer Eisenbahnbrücke hinauf und auf der anderen Seite wieder hinab und dann tauche ich erst einmal in ein Meer aus goldenem Licht ein.
Ein Sonnenball, so riesig, dass es scheint, als würde er den ganzen Himmel einnehmen.
Und während ich an den Geleisen entlang Richtung Ortsmitte wandere, wird es wärmer und wärmer.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass meine ersten Schritte so vorsichtig ausfallen würden, als unternähme ich den Versuch, auf Stelzen einen zugefrorenen Teich zu überqueren, aber so ist es ganz und gar nicht. Die Art und Weise, wie ich mich voranbewege, ist fast schon wieder als richtiges Gehen zu bezeichnen, zumindest auf ebener Strecke und bergauf. Bei abschüssigem Gelände sieht es noch etwas anders aus, und ich kann nur hoffen, dass mich keine richtig steil abfallenden Passagen erwarten.

Kaum bin ich an den letzten Häusern vorüber, befinde ich mich in einem Herbstland, wie es farbenfroher nicht sein könnte.
Ich wandere einen breiten, gewundenen Waldweg hinauf bis zu einer Landstraße, und ziemlich genau in dem Moment, als ich die Landstraße überquert habe, fällt mein Blick auch schon auf das Wandersymbol des Pingenpfades.

Der erste Kilometer der Tour ist damit bewältigt.
Meine Aufmerksamkeit löst sich nun allmählich vom Vordergründigen, vom bloßen Abspulen der Schritte, und ich gewinne Raum in meinen Gedanken für andere Dinge.
Ich stelle fest, dass ich das Staunen, den Reiz des Unterwegsseins nach dieser langen Pause beinahe so intensiv spüre wie bei den ersten Schritten meiner allerersten Tour vor zweieinhalb Jahren. Es ist, als hätte ich mich gerade zur Erkundung einer noch nicht erforschten Welt aufgemacht, die ich jetzt Schritt für Schritt, Blick für Blick kennenlerne.

Fast alles hat den Anflug von etwas Besonderem: Die dunklen Schattenfelder zwischen den fast schon winterstarren Bäumen, in die manchmal ein greller Funke fällt, das Licht, das durchs Geäst strömt, die milde Herbstluft.
Irgendwo weiter vorne, in hundert oder vielleicht auch hundertfünfzig Schritten Entfernung, sind die Umrisse der Bäume allerdings nur noch verschwommen erkennbar, der Weg driftet in einen fahlen Wattenebel hinein.
Die Erde ist übersät von welkem, schwerem Laub, das nicht mehr raschelt, sondern fast schon wie ein Bestandteil der Erde ist.
Die Sonne ist nur noch ein fahler, fast lichtloser Klumpen irgendwo im Grau.

Aber keine zwei Atemzüge später plötzlich goldenes, warmes Licht.
Ich wandere über einen weichen Teppich aus rötlichen, schimmernden Blättern, das starre Gewebe der Zweige gerät in sanfte Bewegung und scheint Funken zu sprühen.
Dann hört die Bewegung wieder auf.
Keine Regung mehr.
Kein noch so schwaches Zittern von Ästen, keine Windhand, die Stämme biegt.
Die Sonne steigt langsam höher und der letzte Rest von Grau löst sich auf.
Tiefer unter den Bäumen bleiben allerdings ein paar Schattenräume, in die sich nur von Zeit zu Zeit für ein paar Sekunden Lichtfinger hineintasten.
In einer Senke ein kleiner Lichtsee.
Jenseits davon ein schmaler, unbesiegbarer Streifen Dunkelheit, noch weiter entfernt ein wässriges, helles Aquamarinblau.

Der Boden ist feucht vom Regen der vergangenen Tage, und dass heute ein Herbsttag wie aus dem Bilderbuch ist, ändert nichts daran, dass ich mich an einigen Stellen so vorsichtig vorantasten muss, als würde ich in zehn Metern Höhe auf einem Giebeldach balancieren.
Als wäre das allein nicht schon tückisch genug, kommen oft auch noch unter dem Laub verborgene Wurzeln und Steine hinzu.
Nicht selten komme ich mir vor wie ein falsch zusammengesetzter humanoider Roboter.
Dort, wo es richtig abschüssig wird, brauche ich manchmal eine Minute und länger, um ein paar wenige Meter hinter mich zu bringen.
Aber irgendwie funktioniert es am Ende doch immer und unter dem Strich komme ich gar nicht einmal so langsam voran.

Das Feenlicht und das unentwegte Gehen im Wald mögen zwar den Eindruck von Abgeschiedenheit hervorrufen, aber dem ist eigentlich gar nicht so.
Von überallher vernehme ich Geräusche, die keine Waldgeräusche sind. Die Gegend ist schließlich auch ziemlich dicht besiedelt.

Viele der Dörfer ringsum sind ehemalige Bergbaudörfer und dabei ist nicht von irgendeiner fast prähistorischen Zeit die Rede, sondern vom letzten, teilweise sogar noch von diesem Jahrhundert.
Damit muss man dann auch nicht mehr lange nach der Bedeutung des Begriffes Pingenpfad suchen, denn Pinge sind nichts anderes als Vertiefungen im Boden, die durch Bergbautätigkeiten entstanden sind.

Eine Weile wandere ich durch einen lichten Birkenwald.
Es ist warm und von allen Seiten stürzen Farben auf mich ein, die so gar nichts von einem schwarzgrauen November haben.
Die Natur scheint in einen Zustand vollkommener Ruhe versetzt, die dünnen Stämme wirken wie Pfeiler in einem Haus ohne Dach und der Wald gleicht einem Saal mit riesigen, weit offenen Flügeltüren.
Es ist eine ganz eigene Atmosphäre, wie geschaffen dafür, vor einem langen, dunklen Winter ein letztes Mal die Sinne mit ein paar farbenprächtigen Eindrücken zu erfreuen.

Am besten komme ich heute auf den breiten Waldschneisen voran. Glücklicherweise gibt es davon gar nicht so wenige, womit ich vorher nicht unbedingt gerechnet hatte.
Aber es ist und bleibt eine ganz spezielle Wanderung. Ich humpele, schlurfe, kränge, es gibt keinen einzigen Moment während der gesamten Tour, an dem das verletzte Knie nicht zumindest unterschwellig in meinen Gedanken herumspukt, und trotzdem ist alles irgendwie großartig.
Die Lust am Unterwegssein ist wie ein Sog, der mich mit sich reißt, und in mir pulsiert ein Gefühl, das wahrscheinlich durch eine Mischung aus Freude am Hier und Jetzt und Vorfreude auf Künftiges zustandekommt.

Mit einem Mal hat der Wald ein Ende und ich merke jetzt erst so richtig, wie leuchtend hell es ist.
Ich folge einem schmalen Pfad zwischen zwei kleinen Teichen hindurch, gelange auf einen breiten Spazierpfad mit Herbstbäumen, die um die Wette blühen und kaum habe ich mich daran einigermaßen sattgesehen, bemerke ich vor mir ein intensives Dauerblinken, wie von einem riesigen Reflektor. Ich befinde mich am Itzenplitzer Weiher, entstanden vor rund 140 Jahren im Zuge eines Dammbaus, heute Mittelpunkt eines Naherholungsgebietes.

Überall Spaziergänger.
Überall Menschen auf Bänken, die sich die Mittagssonne ins Gesicht scheinen lassen.
Im Wald war das Licht ständigen Veränderungen unterworfen, es war mal klar, mal trübe, mal löwenzahngelb, mal ganz fahl, so, als sei die Sonne hinter einem Stück Pergamentpapier versteckt, aber hier und jetzt unter dem fließenden Himmel ist es einfach nur gleißend hell.

Der Pingenpfad führt vom Itzenplitzer Weiher weg in den Wald hinein, ich aber steuere erst einmal ein knallweißes Gebäude am gegenüberliegenden Weiherufer an, das mir schon von weitem ins Auge springt und das sich als historisches Pumpenhaus aus dem Jahre 1908 entpuppt.
Es ist der einzige Umweg des Tages.
Ich lege dadurch etwa zwei Kilometer mehr zurück als vorgesehen, mit dem nur eingeschränkt einsatzfähigen rechten Bein alles andere als eine kurze Strecke.
Und dann stellt sich auch noch heraus, dass ich mir den Umweg hätte sparen können, denn der Pingenpfad führt zwar zunächst vom Weiher weg, dann aber in einem weiten Bogen auch wieder dahin zurück.

Die Schritte summieren sich.
Einer folgt auf den nächsten, immer weiter.
Vom Weiher einen Hügel hinauf, zwischen schlanken, fast blätterlosen Bäumen hindurch.
Ringsumher ein sanftes, entrücktes Zwielicht.
Farben, deren Namen erst noch erfunden werden müssen.
Hauchdünne Schattenschleier, die sich aber nur zwischen den Baumwurzeln behaupten können.
Für ein paar Minuten scheint die Welt sich langsamer zu drehen.

Ein Aussichtspunkt, der einzige am heutigen Tag.
Besonders hoch gelegen ist er zwar nicht gerade, aber er bietet mir trotzdem einen recht schönen Blick hinunter auf den Weiher und das Pumpenhaus.
Und wenn ich mich halb umwende, dann habe ich freien Blick auf eine wuchtige, zweitürmige Kirche, eindrucksvoll auf einen Hügel appliziert.

Der Abstieg hinunter zum Weiher ist – für die Maßstäbe, die heute nun mal für mich gelten – ungefähr das, was eine im Sturm hin und her schwankende Strickleiter an normalen Tagen wäre.
Ich schaffe ihn nur deshalb unfallfrei, weil ich den Nordic-Walking-Stock zum Einsatz bringe, aber genau für solche Passagen habe ich ihn ja schließlich auch dabei.
Unten angekommen, umrunde ich den Weiher ein zweites Mal.
Sitze dann noch am Uferrand auf einer Bank und tue zehn Minuten oder länger nichts anderes als abzuwarten, wie die Zeit verstreicht.

Für eine Weile ist der Blick über die im Sonnenschein leuchtende Wasseroberfläche des Weihers noch ziemlich präsent, auch noch, als ich längst wieder im Wald bin.
Ich wandere an einem Fördergerüst vorüber, das aus dem Jahr 1886 stammt und damit das älteste noch erhaltene Fördergerüst im Saarland darstellt. Mittlerweile sind allerdings bereits Jahrzehnte vergangen, seit hier die letzte Kohle zu Tage gefördert wurde.
Nichts bleibt, wie es war, eine simple, aber zutreffende Erkenntnis.

Ganz langsam scheint das Licht sich aus dem Wald zurückzuziehen und ihn den Schatten zu überlassen.
Ein letzter Anstieg.
Immer mehr Schatten, aber auch leuchtendes gelbes Laub an den Bäumen, und zwischen den Stämmen das helle Blau eines Nachmittags, an dem noch immer so ziemlich gar nichts ist, was an November erinnert.

Mehr und mehr nähere ich mich nun wieder der Landstraße, die ich am Beginn der Wanderung überqueren musste.
Noch einmal eine Brandung aus Licht, so hell, dass es beinahe scheint, als würde die Erde von innen heraus leuchten.
Aber es ist kaum mehr als ein Augenblick, wie die Ahnung einer Erinnerung, die man nicht festhalten kann.
Auf dem letzten Kilometer zurück zum Bahnsteig in Merchweiler übernehmen dann allmählich die Schatten die Herrschaft.

 

 

 

 

Noch eine Wanderung ganz in der Nähe:

Tour 56 Von Bexbach über vier Premiumwege nach Ottweiler

Es gibt keine lange Dämmerung an diesem Morgen. Das

nächtliche Dunkel geht für kaum länger als einen tiefen

Atemzug in ein grau schimmerndes Zwielicht über,

dann aber zieht ein strahlend heller Tag herauf. Am Him-

mel steht eine diamantene Sonne. Selbst in den engen

Straßen, zwischen all den Begrenzungen durch Häuser-

fassaden und…    weiterlesen      Bildergalerie

 

6 Comments

  • Mata

    Wieder ein toller Text. Man spürt die Freude am Gehen und am Herbst. Es scheint sich um einen schönen Wanderweg zu handeln. Ich hoffe natürlich, dass wir jetzt bald auch wieder längere Touren zu lesen bekommen, denn die sind doch so etwas wie die „Seele“ deines Blogs.

    Grüße, Mata

    • gorm

      Vielen Dank für die positiven Worte.
      Der Wanderweg wurde halt optimal in Szene gesetzt von dem tollen Licht dieses Herbsttages. Er ist erst vor ganz kurzer Zeit zum Premiumwanderweg aufgewertet worden und widmet sich dem Thema „Bergbau in der Region“. Dazu das Naherholungsgebiet Itzenplitz und in einem der Dörfer der Umgebung das Gondwanaland, also, es wird schon etwas geboten.
      Was die längeren Touren betrifft, so kann ich es selbst kaum erwarten, bis es wieder so weit ist.:-)

      Grüße
      Torsten

  • Nicole Schramm

    Manchmal ist eine unvorhergesehene Pause doch wichtig. So erlebst du hier die Intensität des Augenblicks doppelt intensiv. Ich hatte deine wundervollen Eindrücke bereits vermisst. Willkommen zurück und weiterhin gute Besserung für dein Knie.
    Liebe Grüße Nicole

    • gorm

      Ich sage mal so, man kann so eine Pause zumindest möglichst sinnvoll nutzen. Und letztlich konnte ich ohnehin nichts daran ändern, also habe ich mich einfach darauf eingestellt. Jetzt lege ich aber wieder los.:-)
      Vielen Dank für die positiven Worte und liebe Grüße
      Torsten

  • Jana

    Perfektes Timing, perfekte Tourauswahl nach dem noch vorsichtigen Wiedereinstieg: ein Herbsttag, wie er im November schöner wohl fast nicht hätte sein können, ein Wald, den das Licht zu einem Zauberwald krönte, dazu tolle Wege, ausgelegt mit üppigen Blätterteppichen. Und alles wieder so wunderbar in deinem besonderen Schreibstil festgehalten, dass man zu gern mit dabei gewesen wäre! Auch wenn diese Tour für deine Verhältnisse aus Gründen nicht lang war – man liest heraus, dass du sie mit allen Sinnen sehr genossen hast. Und das Knie hielt durch, es geht aufwärts, lieber Torsten!

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Hallo, liebe Jana, vielen Dank für deinen schönen Kommentar.:-)
      Es passte an diesem Tag alles. Tolle Atmosphäre, sehr schöner Wald, ein Pfad, der nicht zu schwierig war und bei dem ich das verletzte Knie nicht zu stark belasten musste. Der Itzenplitzer Weiher nach ca. 5 Kilometern kam dann auch noch genau richtig, ansonsten besteht der Pfad ausschließlich aus Waldpassagen. Ich war einfach froh, wieder unterwegs zu sein, werde mich jetzt langsam wieder an längere Strecken heranpirschen. Im März oder April möchte ich dann wieder bereit sein für Mehrtageswanderungen wie den Marienweg und lange Tagestouren.

      Liebe Grüße für dich
      Torsten

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert