Die Marienwegetappen,  Wandertouren

TOUR 39 – 1. TEIL: VON BURGSINN NACH LOHRHAUPTEN

Ich beobachte die Schattierungen der Dämmerung.
Erst ist da noch ein schmaler Saum bleichen, dünnen Lichtes, kleine Kerben und Linien, die eine nach der anderen zerfallen.
Kein Leuchten mehr, nicht einmal mehr ein Glimmen, nur noch ein verblassendes, brüchiges Grau. Zunächst noch ein helles Grau, sehr rasch aber ein dunkles, schon beinahe undurchdringliches Grau.
Zwischen den Bäumen, unter dem dichten Geäst, haben sich längst die Schatten der Nacht ausgebreitet, still und beklemmend und wie verwoben mit einer im Verborgenen lauernden Gefahr.
Ich bleibe stehen.
Ein paar Herzschläge lang habe ich das Gefühl, in eine vollkommene Leere hineingeraten zu sein.
Dann gehe ich weiter.
Ich gehe einfach weiter an dieser Landstraße irgendwo im Spessart entlang, von der ich nicht einmal weiß, wohin sie führt.
Dann der allerletzte erlöschende Widerhall eines Schimmers, der nicht mehr richtig dem Licht angehört, aber auch noch nicht der Dunkelheit.
Dann Schwärze.
Nacht.

Viele Stunden zuvor stehe ich bei gleißendem Sonnenschein und unter einem Himmel, so schimmernd wie eines der Blaueisfelder in der Antarktis, auf dem Bahnsteig in Burgsinn.
Wieder liegen vier Tage des Gehens und Wanderns vor mir.
Es wird in diesen vier Tagen Augenblicke geben, in denen ich das Gefühl habe, eine ganz plötzlich gleichsam aus dem Nichts entstehende wertvolle Erkenntnis gewonnen zu haben.
Es wird Augenblicke geben, in denen ich eine rationale Distanz zu vielen Dingen gewinne, die es mir ermöglicht, mich selbst und mein Denken beinahe so zu betrachten, als nähme ich einen übergeordneten, sozusagen ichlosen Standpunkt ein.
Oft werde ich einfach nur Schritt vor Schritt setzen, unzählige flüchtige und viele bleibende Eindrücke sammeln, mein Gedächtnis mit Bildern und Wahrnehmungen anfüllen und meine Gedanken schweifen lassen.

Den ersten Schritt einer Wanderung zu machen ist fast so, wie das allererste Wort eines Romans auf ein leeres Blatt Papier zu schreiben. Danach verflüchtigen sich die Parallelen ziemlich rasch, aber erst einmal ist beides ein Aufbruch ins Ungewisse, egal, wie viele Details man vorher plant und festlegt.

Ich habe durch Zugverspätungen schon fast zwei Stunden verloren. Statt um kurz nach eins bin ich erst gegen drei Uhr in Burgsinn eingetroffen.
Damit wird mein Tagesplan zu so einer Art Versuchung des Schicksals.
Von Burgsinn aus erst an der Sinn vorbei nach Rieneck, von dort aus dann mitten durch den Spessart nach Rengersbrunn und dann nach Lohrhaupten zum Hotel marschieren, das sind 28 Kilometer und auf den letzten vier oder fünf Kilometern muss ich auch noch vom Marienweg abweichen, womit dann auch die Orientierung an dem vertrauten Wandersymbol wegfällt.
Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass diesmal nichts, aber auch wirklich gar nichts schiefgehen darf, wenn ich es vor Einbruch der Dunkelheit ins Hotel schaffen will.
Keine Umwege, keine Extrakilometer, kein Suchen nach verschwundenen Wegweisern, kein Versinken in ratloser Orientierungslosigkeit, nicht mal vorübergehend. Ich muss so reibungslos vorankommen wie Schallwellen in warmem Meerwasser.

Burgsinn liegt ein paar Kilometer abseits des Marienweges.
Ich habe die Stadt als Ausgangspunkt gewählt, weil ich mir die Wasserburg anschauen will, die es hier gibt. Und weil ich einkaufen und mich mit Getränken eindecken will.

Das Einkaufen ist in kurzer Zeit erledigt, dann werfe ich im Vorbeischlendern noch einen Blick auf das Rienecker Tor und auf einen kleinen Brunnen mitten im Ort und danach trotte ich wie geplant durch den Park, in dem sich die Wasserburg befindet und schaue sie mir in aller Ruhe von allen Seiten an.
Es hat sich gelohnt.
Ich könnte mir zwar vorstellen, dass die Burg bei Gewitter und unter bleigrauem Düsterhimmel durchaus ein wenig so wirken könnte wie der Stammsitz der Blutgräfin Elisabeth Bathory, aber an einem Frühlingstag wie von filigranster Feenhand gezeichnet, ist nichts Schauriges an ihr.

Die ersten Kilometer.
Erst an der Aura, dann an der Sinn entlang wandere ich nach Rieneck.
Ich bin Teil eines großen, allumfassenden Leuchtens und Flirrens.
Auf den Spitzen der Blätter, auf den winzigen Wellen des dahinströmenden Wassers, überall.
Und um das Maß vollzumachen, windet der Weg sich ästhetisch ansprechend und dabei vollkommen eben durch die Landschaft.
Alles an diesem Gehen und überhaupt an allem fühlt sich leicht an, unkompliziert. Ich spüre kaum, wie sich meine Beine bewegen, und immer, wenn ich gerade erst eine Wahrnehmung in bewusstes Erkennen umgesetzt habe, stelle ich fest, dass ich mittlerweile schon wieder ein paar hundert Meter weitergegangen bin.

Kurz vor Rieneck passiere ich die Stelle, an der ich vor rund zwei Monaten die ersten vier Etappen abgeschlossen habe.
Auf einer Bank am Ufer der Sinn lege ich eine kurze Rast ein.
Es ist fünf Uhr.
Bis zum Hotel habe ich noch knapp 20 Kilometer zu gehen, mitten durch die Abgeschiedenheit des nördlichen Spessarts.
Nicht dass ich zu zweifeln beginnen würde, aber irgendwo an der Peripherie meines Bewusstseins, am äußersten Rand, zeigt sich der Schatten einer Ahnung, dass es diesmal tatsächlich eng werden könnte.
Manches hängt auch davon ab, wie schwierig die Strecke von jetzt an sein wird. Ich rechne natürlich mit einigen Steigungen, hoffe aber, dass mir ein stetes, zeitraubendes Auf und Ab erspart bleibt.

Ich setze meinen Weg fort.
Auch diesmal werfe ich nur von weitem einen Blick auf die Burg, mehr Zeit habe ich nicht.
Ein paar hundert Meter noch bleibt die Strecke flach wie lasergeglättet, aber unmittelbar nachdem ich die Sinn überquert habe, erwartet mich der erste richtige Anstieg.
Der Bürgersteig, auf dem ich gehe, ist schmal wie eine Rasierklinge und die Autos rollen gefühlte Millimeter an mir vorüber.
Dann erblicke ich etwas, womit ich hier ungefähr so sehr gerechnet habe wie mit Flugmanövern in einer Zebraherde.
Unmittelbar neben der Straße, mitten in der Stadt, stürzt ein Wasserfall in Kaskaden in die Senke hinab.
Auf einer kleinen Brücke, die über den Wasserfall hinwegführt, bleibe ich zwei oder drei Minuten stehen und blicke nach unten.

Befände sich der Wasserfall irgendwo an einem halbwegs stillen Plätzchen, wären aus den zwei oder drei Minuten vielleicht ein paar mehr geworden.
Aber mein Bedürfnis, am Rande dieser lauten Straße stehenzubleiben, ist nicht allzu groß, und außerdem ist heute wirklich jede Minute kostbar.
Am Ende der Steigung wechsele ich die Straßenseite und trotte über einen kleinen Platz. Schräg gegenüber erblicke ich einen schönen Kirchturm. Eigentlich jedoch ist das historische Rathaus, das sich unmittelbar neben der Kirche befindet, der größere Blickfang.
Um mich herum Autos, Menschen, dezenter Lärm.
Ich biege in eine Nebenstraße ab.
Mit jedem Schritt entferne ich mich nun von dem Lärm wie ein abgeschossener Pfeil von der Bogensehne.
Der Bürgersteig wird immer schmaler und dann – von einem Schritt zum nächsten – gibt es ihn einfach nicht mehr und ich muss auf der Straße weitermarschieren.
Kurz darauf ist er zwar wieder da, aber dafür wird es jetzt richtig steil. Da kann ich mich ja schon mal auf das einrichten, was mich vermutlich noch erwarten wird in den kommenden Tagen.
Die Straßen sind jetzt still und leer. Und eine ganz eigene Atmosphäre der Abgeschiedenheit ist spürbar, es fühlt sich an wie Abendnebel auf einer einsamen Waldlichtung.

Dann habe ich die letzten Häuser von Rieneck hinter mir.
„Rengersbrunn zehn Kilometer“ steht auf einem Holzschild.
Immer tiefer bewege ich mich von nun an in die Abgeschiedenheit hinein.
Da ist nichts mehr, kein Laut, keine Regung.
Nur Stille, tief und allgegenwärtig.

Farben:
Das grünlich schimmernde Licht auf den Blättern.
Das helle Gelb, dort, wo die Sonnenstrahlen sich im Gras verfangen.
Das rotgoldene Licht des Spätnachmittags.
Gerüche:
Der Wald, die Erde.
Ich gehe gleichmäßig.
Im sanften Wind gehe ich, durch den schweigenden Wald.
Ich atme ein.
Atme aus.
Kurve folgt auf Kurve, Biegung auf Biegung.

Noch sieben Kilometer bis Rengersbrunn.
Ich beschließe, im Hotel anzurufen, sobald ich in Rengersbrunn angekommen bin, und Bescheid zu geben, dass es später als acht Uhr werden wird, bis ich eintreffe.
Im Moment aber möchte ich mich auf das Gehen und auf den Weg konzentrieren und nicht weiter über den Augenblick hinausdenken, als es für die nächsten zehn Schritte erforderlich ist.
Außer meinem Gehen und dem Strom meines Atems gibt es keine Bewegung mehr, nicht einmal ein winziges Flattern oder ein sanftes Gewisper des Windes in den Zweigen.
Zwischen den Bäumen ein beinahe mystisches Feenlicht.

Noch fünf Kilometer.
Ich biege von der breiten Waldpiste, auf der ich seit Rieneck dahinstapfe, auf einen pfadlosen Weg ab.
Die Bäume treten ganz nahe zusammen. Das Licht, das zwischen den Stämmen hindurchströmt, ist jetzt unverkennbar schon ein abendliches Licht.
Immer unwegsamer wird der Pfad.
Und er teilt sich in Verzweigungen auf wie ein Flussdelta.
Meine Konzentration auf das Hier und Jetzt erodiert. Noch kann ich mich am Marienwegsymbol orientieren, aber irgendwo hinter Rengersbrunn werde ich keine andere Wahl haben, als vom Marienweg abzuweichen, und so ganz allmählich bröckelt das Fundament meiner Sicherheit und meine Zuversicht treibt davon wie ein steuerloses Schiff im Nebel.
Der Pfad unter meinen Füßen ist jetzt nur noch irgendein holpriges, von Ästen und Steinen übersätes Gebilde, und er führt immer tiefer zwischen immer dunklere Bäume hinein.

Irgendetwas hat endgültig alle Geräusche mit sich genommen, da ist nur noch diese alles erfüllende Stille, in die man hineinlauschen kann und die so deutlich spürbar ist wie der eigene Herzschlag.
Und immer noch tiefer hinein in diese Stille und diese völlige Verlorenheit gehe ich, es ist ein Gehen wie selten zuvor, in diesem schweigenden, großen Wald.
Manchmal marschiere ich unter belaubten Ästen dahin wie unter einem Schattendach.
Dann endlich wieder ein ganz leichter Wind, der durch die Zweige streicht.
Ich laufe ein kurzes Stück über eine Wiese, dann aber sofort wieder in den Wald hinein.
Atme den Abend und das gedämpfte Funkeln der allmählich sinkenden Sonne.

Dann trete ich aus dem Wald heraus und plötzlich strömt mir gleißendes Licht entgegen.
Jedenfalls empfinde ich es nach der relativen Dunkelheit im Wald so.
Nach ungefähr einer Minute Blinzeln sehe ich aber alles deutlich und scharf umrissen.
Ein Pfad, einsam zwischen Wiesen und Bäumen ins Nirgendwo hineinführend.
Am Wegesrand kniehohes Gras.
Bäume in der Abendsonne.
Unten, ins Tal hineingeschmiegt, Rengersbrunn, endlich.
Obwohl wirklich jede Minute zählt, verharre ich einige Augenblicke und verinnerliche die Szenerie, lausche dem ruhigen, kaum spürbaren Atem der Landschaft.

Dann trabe ich in den Ort hinunter.
Gleich beim allerersten Haus frage ich eine Frau, die in ihrem Garten herumhantiert, wie ich zu Fuß von Rengersbrunn nach Lohrhaupten komme.
Sie sieht mich an, als hätte ich mich danach erkundigt, ob sich hier im Ort eine Startrampe für bemannte Marsflüge befände.
Erst als ich ihr erkläre, dass ich auf dem Marienweg unterwegs bin und in Lohrhaupten übernachten möchte, findet sie meine Frage einigermaßen nachvollziehbar.
Sie gibt mir eine detaillierte Wegbeschreibung, die für meinen Geschmack allerdings zu oft das Wort „abbiegen“ beinhaltet.
“Hoffentlich kommen Sie gut an“, sagt sie zum Schluss, und an diese Worte werde ich später mehr als einmal zurückdenken.

Auf die Kirche „Maria Geburt“, die Wallfahrtsstätte Nummer sieben auf dem Marienweg, werfe ich nur im Vorbeigehen einen etwas längeren Blick.
Es ist mittlerweile halb acht. Bis zum Hotel habe ich noch knappe sechs Kilometer zu gehen.
Ich erledige den Anruf im Hotel, teile kurz mit, dass ich vermutlich so gegen Viertel vor neun eintreffen werde.
Ich habe keine Ahnung, ob ich selbst wirklich daran glaube, das zu schaffen, aber ich verbanne alle Zweifel in die tiefsten Verliese meines Unterbewusstseins.

Von der Wallfahrtskirche aus marschiere ich noch ein kurzes Stück an der Hauptstraße entlang, und von dieser Straße, die im fortschreitenden Abend ohnehin bereits wie der Inbegriff von Einsamkeit und Verlassenheit wirkt, biege ich in eine noch einsamere, noch verlassenere Straße ab.
Die letzten Häuser.
Und dann – ein Loch im Universum.
Oder einfach nur: das Nichts.
Ein langer, steiler Anstieg. Auch das noch.
Ich stapfe an einer Scheune vorüber, an Wiesen.
Dann wieder Wald.

Ich gehe und gehe.
Gehe durch diesen endlosen Wald, gehe in die immer mehr anwachsenden Schatten hinein, die nach und nach alles einhüllen.
Verzweigungen, viel zu viele.
Dann ein Wegweiser: „Bayerische Schanz 1,2 Kilometer“.
Ich nehme mir drei Minuten Zeit, vielleicht auch vier, rase durch labyrinthische Gedankengänge, wäge Wahrscheinlichkeiten ab, durchleuchte die Katakomben meines Gedächtnisses, und dann entscheide ich, dass hier die richtige Stelle ist, vom Marienweg abzuweichen.
Und von diesem Moment an – ohne dass ich es weiß – gibt es keine Lösung mehr, sondern nur noch Variationen des Scheiterns.

Ich laufe auf einem breiten Pfad dahin.
Der Wald nimmt und nimmt einfach kein Ende.
Es wird acht, dann halb neun, neun, halb zehn.
Bei jedem Gespräch, das ich über mein Handy zu führen versuche, bricht die Verbindung innerhalb von wenigen Sekunden ab.
Zu sagen, ich wüsste auch nur ungefähr, wo ich mich befinde, wäre übertrieben. Ich bin irgendwo mitten im Nichts, exakter kann ich es nicht mehr bestimmen.
Längst beschäftigt sich mein Gehirn mit den Möglichkeiten, die mir noch bleiben.
Ich habe keinen Schlafsack dabei, geschweige denn ein Zelt.
Soll ich auf einem Hochsitz übernachten? Oder mich irgendwo zwischen die Bäume kauern? Ich glaube, hier könnte ich die nächsten zehn Jahre liegen, nach und nach ein Teil des Erdreichs werden, mit einem Haarschopf aus Moos und Augen aus Anemonen, und niemand würde meine Gebeine entdecken.

Wenigstens finde ich mit dem allerletzten kümmerlichen Licht der Dämmerung aus dem Wald heraus.
Eine Landstraße.
Dunkelheit.
Nacht.
Ich versuche wieder anzurufen, aber mitten im Nichts gibt es natürlich auch keine Verbindung zur Welt mehr.
Ich kann nichts mehr tun.
Außer mir hier irgendwo einen Platz zum Schlafen suchen.

Mehrmals wandere ich auf der nächtlichen Landstraße hin und her.
Nach einer Weile entdecke ich im Mondlicht zwei Straßenschilder, einen Bildstock und eine Bank.
Auf dem ersten Schild steht: „Fellen drei Kilometer“, auf dem zweiten, das in eine andere Richtung zeigt: „Wohnrod 4 Kilometer“.
In diesem Moment geht mir wenigstens ein Licht auf, wo ich mich befinde, denn schließlich hatte ich mir vorher verschiedene Varianten meiner heutigen Route überlegt und sie mir ziemlich gut eingeprägt. Nicht gut genug, wie ich mittlerweile ja erfahren musste, aber um meinen jetzigen Standort einigermaßen genau zu bestimmen, genügt es immerhin.
Vom Hotel bin ich ungefähr genauso weit weg wie Stunden zuvor in Rengersbrunn, nämlich sechs Kilometer.
Inzwischen ist es Mitternacht.
Aus den ursprünglich berechneten 28 Kilometern sind pi mal Daumen 40 geworden.
Nicht dass ich allzu rasch aufgeben würde, aber hier und jetzt und für diesmal ist es das Ende.
Ein letzter Versuch, jemanden zu erreichen.
Die Verbindung hält gerade lange genug, um eine einzige SMS abzuschicken, dann geht endgültig gar nichts mehr.
Ich lege mich auf die Bank, wickle mich möglichst eng in mein Regencape ein, decke noch zwei Pullis über mich, und so verbringe ich die Nacht.
Und obwohl sie nur vier Stunden dauert, wird es eine lange, kalte, unbequeme Nacht.

In der allerersten spärlichen, grauen Morgendämmerung breche ich wieder auf.
Dafür, dass ich keine einzige Sekunde geschlafen habe, fühle ich mich recht frisch. Aber irgendwo in meinem Gehirn lauert eine bleierne Müdigkeit, die früher oder später zum Ausbruch kommen wird.
Während der Nacht habe ich einen Entschluss gefasst, den ich auch jetzt am Morgen noch für sinnvoll halte.
In Anbetracht der Umstände werde ich die eigentlich für heute vorgesehene Etappe von Lohrhaupten nach Schöllkrippen streichen und irgendwann in der Zukunft nachholen.
40 Kilometer mitten durch den einsamsten Teil des Spessarts und das ohne ausreichende Verpflegung und mit der Ungewissheit, ob ich unterwegs auf Läden stoße, in denen ich mich eindecken kann, das wäre nach diesem ersten Tag eher eine Variante von Harakiri als eine Wandertour.
Stattdessen werde ich über Fellen nach Burgsinn zurückkehren, von dort dann mit dem Zug über Gemünden und Aschaffenburg nach Schöllkrippen fahren und dann einfach weitermachen wie vorgesehen.

Nebel liegt über den Wiesen.
Ich stapfe einfach an der Landstraße entlang.
Alles, was ich mir im Moment wünsche, ist ein Morgen ohne böse Überraschungen.
Die drei Kilometer bis Fellen sind rasch zurückgelegt. Die vier Kilometer von Fellen bis Burgsinn wären es auch, aber nach ein paar hundert Metern habe ich genug davon, stumpf an der Landstraße entlangzutrotten und biege in Richtung Wald ab.

Der Weg wird sehr rasch ziemlich steil, aber ich wandere in einen wunderbaren, leuchtenden Frühlingsmorgen hinein.
Lange sitze ich dann auf einer Bank und lasse die Zeit verstreichen.
Esse die letzten Müsliriegel. Trinke mein letztes Wasser.
Egal.
In Burgsinn gibt es Geschäfte, in denen ich einkaufen kann.
Mit einem Spaziergänger führe ich ein Gespräch, das immer weiter und weitergeht und schließlich über eine Stunde gedauert haben wird. Am Ende bedankt er sich sogar.

Irgendwann mache ich mich dann auf den Weg hinunter nach Burgsinn.
Ich fühle mich gut.

13 Comments

    • gorm

      Vielen Dank!:-)
      Es war auch eine ganz besondere Etappe, die mir sicher noch sehr lange in Erinnerung bleiben wird. Allzu oft möchte ich Erlebnisse dieser Art aber nicht mehr haben.

      Grüße
      Torsten

  • Sylban70

    Einfach super! Man ist ein wenig im Zwiespalt, ob man Dir wünschen soll, dass in Zukunft alles glatt verläuft, denn Deine Touren leben ja auch von solchen nicht eingeplanten Ereignissen.

    Gruß,
    Sylban

    • gorm

      Tja, in diesem Zwiespalt stecke ich auch so ein wenig. Allerdings: So heftig wie bei dieser Tour muss es wirklich nicht mehr werden.:-)
      Vielen Dank für den Kommentar!

      Grüße
      Torsten

  • Knorke

    Wow, und das in Deinem Alter! Ein Skandal, dass es mitten in diesem Nirwana weder schwedische Gardinen, geschweige denn eine Telefonzelle gab 😏

    Eine wunderschöne Schilderung – für mich die schönste bisher!

    Kia Ora lieber Torsten

    • gorm

      Hi Frank,
      ja, es war eine denkwürdige Tour, die an lange zurückliegende Zeiten erinnerte.:-) Unter dem Strich – mit all den Erlebnissen, Begegnungen und auch der Landschaft – war es eine tolle Wanderung und ich freue mich schon auf die nächsten Etappen im Spessart. Gegebenenfalls werde ich dann am Tag vorher anreisen, dann stehe ich nicht so unter Druck wie diesmal.
      Danke für Deinen Kommentar und beste Grüße
      Torsten

  • Jana

    Tja, lieber Torsten, nun hast du also deine erste Nacht im Freien verbracht – wenn auch völlig ungeplant und unvorbereitet. Da gab es intensive Überlegungen zum Umgang mit Gewitter, zu Begegnungen mit Wildschweinen … und dann das! Ich habe versucht, mir anhand deiner Beschreibungen deine Lage an diesem Abend/in dieser Nacht vorzustellen. Nun wünsche ich dir einfach, dass dir künftig Erfahrungen dieser Art erspart bleiben!
    Im Übrigen: Toller Blogbeitrag wieder – ich mag deine Art des Schreibens sehr.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Jana.
      Das war eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Etappe, auch vom Gehen her eine der eindrücklichsten überhaupt bisher. Die intensiven Überlegungen vorher haben sich bezahlt gemacht, denn ich habe die Tour ja um zwei Tage verschoben, und das war gut so. An den Tagen vorher wäre ich in heftige Gewitter geraten und das hätte dann richtig übel werden können. Trotzdem muss ich in Zukunft dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder passiert.
      Vielen Dank für Deinen Kommentar und liebe Grüße
      Torsten

  • Roxanne

    Beeindruckend, wie Du Deine Wanderungen schilderst. Und die Fotos der Bildergalerie runden die Sache sehr schön und nachvollziehbar ab.

    • gorm

      Vielen Dank!:-) Freut mich sehr, dass es Dir gefällt.
      Die Erganzung der Texte durch die Bildergalerien hat sich mittlerweile etabliert und kommt auch ganz gut an.

      Beste Grüße
      Torsten

    • gorm

      Vielen Dank! War eine denkwürdige Tour. Und zwar nicht nur wegen der Übernachtung auf der Bank, sondern z. B. auch deshalb, weil die rund 10 Kilometer zwischen Rieneck und Rengersbrunn das schönste Teilstück aller Touren bisher war.

  • Stormcloud

    Liest sich fast wie ein Krimi mit poetischen oder so Einschüben. Wanderaspekt kommt trotzdem auch nicht zu kurz. Schönheit der Sprache und Schönheit der Landschaft, imo gelungene Mischung.

    Stormcloud

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