TOUR 65 – VON MILTENBERG NACH AMORBACH
Erster Teil: Weiß
Das Weiß ist nicht überall.
Der milchige Schimmer zum Beispiel, der über dem Main liegt, ist nicht weiß. Er ist nicht weiß und nicht silbern und nicht blau und doch von allem etwas. Er ist wie der allerletzte, feine Überrest eines Nebelgespinstes, das von der Morgendämmerung noch geblieben ist und das sich nun endgültig verflüchtigt.
Obwohl es bereits halb zehn ist, hat man dadurch den Eindruck, als sei es noch ganz früh am Morgen.
In erster Linie ist das Weiß am Himmel und jenseits der Hügel.
Es bewirkt ein unaufdringliches, fast behutsames Licht, das nach und nach immer heller wird. Ganz aber löst sich der Dunst nicht auf. Irgendwo in der weißen Helligkeit bleibt noch für ein paar Stunden ein kaum erahnbarer, aber trotzdem vorhandener trüber Schein, wie graues Gestein unter einer glitzernden Wasserfläche.
Es ist so ein Morgen, an dem man vom ersten Schritt an von einem durch so gut wie nichts zu beeinträchtigenden Hochgefühl durchströmt wird, einfach deshalb, weil alles stimmt: Die Stadt ist schön, das Wetter ist mehr als brauchbar, und die eigene Vorfreude auf die Wanderung könnte größer nicht sein.
Und auch Zeit habe ich mehr als genug, denn die Wanderung wird kurz sein, nur etwa 15 Kilometer.
Wenn mir danach ist, dann kann ich auf jeder Bank, die ich finde, eine Pause einlegen.
Wenn mir danach ist, kann ich auf Schritt und Tritt jeden noch so banalen oder nebensächlichen Sinneseindruck in ein komplexes Netz von Beobachtungen einfügen, von der Straßenbeschaffenheit über die Farbe der Häuserfassaden bis zur Anzahl der auf dem Bürgersteig abgestellten Autos.
Und selbst wenn ich riesige Umwege mache oder zwischendurch einen Mittagsschlaf halte, werde ich immer noch viel Zeit haben.
Vom Bahnhof aus wandere ich zunächst einmal in Richtung Innenstadt.
Miltenberg bietet eine ziemlich einprägsame Kulisse: Die Mainbrücke mit dem die Straße überspannenden Torhaus, der breite Fluss, die Türme und Mauern der Mildenburg, dazu die Hügel des Spessarts und des Odenwalds rings um die Stadt.
Bevor ich die Mainbrücke überquere, stoße ich zum ersten Mal für heute auf das Marienwegsymbol.
Von der letzten Etappe im Mai 2018 weiß ich noch, dass der Marienweg unmittelbar hinter der Brücke nach rechts abzweigt. Ich laufe aber erst einmal in die entgegengesetzte Richtung, durch die Ziegelgasse und die Hauptstraße bis zum Würzburger Tor. Irgendwie habe ich das nämlich beim letzten Mal verpasst, obwohl ich nur ein paar hundert Meter davon entfernt übernachtet habe.
Ich bin exakt in dem Tempo unterwegs, das jemand an den Tag legt, der keinerlei zeitliche Fesseln spürt, nämlich langsam. Nicht ganz so langsam wie ein Tourist, der einen Schaufensterbummel unternimmt, aber auch nicht wesentlich schneller.
Bevor ich die Etappe endgültig in Angriff nehme, mache ich dann sogar noch eine Rast auf einer Bank am Main.
Beobachte die Spaziergänger.
Schaue aufs Wasser.
Irgendwann kurz vor Mittag trabe ich los.
Es wird immer heller, jeden Atemzug ein wenig mehr.
Über dem Fluss verflüchtigt sich der Dunst, immer mehr Hügelsilhouetten werden sichtbar.
Das Weiß ist noch existent, aber es ist jetzt beinahe ausschließlich ein Wolkenweiß, das allerdings den größten Teil des Himmels einnimmt.
Auf der Strecke von Miltenberg nach Amorbach ist der Marienweg deckungsgleich mit dem Nibelungensteig. Ich kann mich heute komfortablerweise also an zwei Wegmarkierungen orientieren.
Von Amorbach aus verläuft der Nibelungensteig dann aber in südlicher Richtung und endet nach gut 100 Kilometern im hessischen Zwingenberg zwischen Darmstadt und Heppenheim.
Der Marienweg dagegen führt hinter Amorbach gen Osten weiter und schlägt bei Gottersdorf einen Haken nach Norden, so dass man nach ca. 40 Kilometern Wandern über Berg und Tal fast wieder in Miltenberg landet.
Jetzt aber zählt das Hier und Heute.
Vom Alten Marktplatz an geht es steil den Berg hinauf.
Und trotzdem fühlt es sich beinahe an, als würde ich ganz entspannt auf einer Rolltreppe nach oben fahren. Die Straße verengt sich immer mehr. Ich durchschreite den engen, niedrigen Torbogen des Schnatterlochturmes und danach bin ich beinahe ohne Übergang im Wald.
Ein paar Herzschläge lang bleibe ich stehen.
Vor mir ein geschwungener, fast schon verschnörkelter Pfad, zwischen moosbewachsenen Mauern weiter bergan führend.
Mattes Licht, nicht hell, aber auch weit entfernt von dunkel, die Bäume ganz ruhig, kein Windsog, nichts, die Geräusche aus der Stadt zwar noch sehr nah, aber doch fast schon wie aus einer Parallelwelt stammend.
Am liebsten würde ich mir diese Augenblicke einpacken und mitnehmen, um sie später noch einmal erleben zu können.
Weiter den Berg hinauf.
Es wird heller.
Das Licht über den Wipfeln ist das Licht eines dunstigen Frühlingstages, das Licht zwischen den Bäumen hat etwas von einem rauen, regnerischen Herbstmorgen.
Vor mir, verdeckt von Bäumen, ein Türmchen, das hierher passt, als wäre es ein Bestandteil des Waldes. Es scheint allerdings zu einem Privatgrundstück zu gehören, deshalb kann ich meinen Impuls, es näher in Augenschein zu nehmen, gleich wieder vergessen.
Es geht immer weiter bergauf.
Ich durchwandere eine winzige, tunnelartige Unterführung, steige ein paar Treppenstufen hinauf, und dann weicht der harte Asphalt zum ersten Mal nachgiebigem Waldboden.
Helles, frisches Grün.
Vogelschreie über lichten Baumwipfeln.
Etwas in mir erinnert sich an viele ähnliche Momente bei anderen Wanderungen.
Hält sie für ein paar Atemzüge fest.
Ist dann wieder ganz zurück im Jetzt.
Ein paar hundert Schritte später der erste Panoramablick über Miltenberg hinweg.
Die Hügel, die vorhin noch im weißen Dunst des Morgens verborgen gewesen sind, erscheinen jetzt so scharf konturiert, als wären sie mit einem Messer in die Landschaft hineingeritzt worden.
Direkt unterhalb von mir, noch erstaunlich nahe, die zweitürmige Kirche St. Jakobus.
Das Weiß ist mittlerweile auf eine kleine Fläche irgendwo am Horizont zusammengeschrumpft und die Sonne hat ein Flechtwerk aus hellerem und dunklerem Licht über die Stadt gespannt.
Zweiter Teil: Niemandsland
Immer noch weiter bergauf.
Der Pfad driftet um eine Kurve herum, wirft dann Falten wie ein ungeschickt ausgerollter Teppich, und exakt an dem Punkt, an dem man den Eindruck haben könnte, dem Himmel entgegenzuwandern, wenn man nur noch einen einzigen Schritt weitergehen würde, bietet sich der zweite Blick hinab auf die Stadt.
Die Häuser, der Fluss, die Hügel, die Mainbrücke – alles ist weiter weg gerückt. Aber die Luft ist mittlerweile so klar, dass man winzigste Details erkennt.
Alles ist ruhig.
Nicht wie schlafend, nicht wie verlassen, sondern wie seit langer Zeit zum Stillstand gekommen.
Nach einer Weile gehe ich weiter.
An die Stelle des steil zum Main hin abfallenden Hanges tritt jetzt ein Wald mit hohen Nadelbäumen, die fast alles Licht fernhalten.
Urplötzlich ist es so dunkel, als würde ich aus der Helligkeit eines Sommertages in ein Zimmer mit blinden Scheiben treten.
Vereinzelt ist Totholz bis zum Rand des Weges herabgerutscht und der Pfad ist voller Laub, fast wie im Spätherbst.
Nach wenigen Minuten aber kehrt das Licht in den Wald zurück. Die Spitzen der Bäume bewegen sich sanft in einem kaum spürbaren Wind.
Der Pfad steigt nur noch ganz leicht an, haargenau richtig für ein ruhiges, entspanntes, harmonisches Wandern.
Irgendwann aber stört etwas diese Harmonie, und mir ist auch beinahe sofort klar, was es ist.
An den Bäumen zeigt sich zwar in regelmäßigen Abständen das grüne Symbol irgendeines von Miltenberg ausgehenden und wieder dahin zurückführenden Wanderweges, aber von Nibelungensteig und Marienweg habe ich seit mindestens einer Viertelstunde nichts gesehen. Sie sind einfach weg.
Damit habe ich trotz aller bisherigen Erfahrungen mit unfreiwilligen Umwegen doch nicht gerechnet. Zwei gut ausgeschilderte Fernwanderwege, an denen ich mich orientieren kann, und jetzt habe ich beide aus den Augen verloren.
Oder sind sie vielleicht gar nicht so gut ausgeschildert?
Wie auch immer, mir wird klar, dass ich mich viel zu nahe an der Landstraße befinde.
Zwar weit oberhalb davon irgendwo in den Hügeln des Odenwaldes, aber die Straßengeräusche sind deutlich zu vernehmen, wenn ich darauf achte.
Der Marienweg macht jedoch nicht weit hinter Miltenberg einen scharfen Knick und verläuft für ein paar Kilometer weitab von der Landstraße, ehe er sich ihr irgendwann wieder annähert. Einen Zweifel daran, dass ich eine Abzweigung verpasst habe, kann es also nicht mehr geben.
Ich überlege, ob ich umkehren soll, aber irgendetwas in mir trifft die Entscheidung, einfach weiterzugehen. Solange ich den Eindruck habe, mich auf Amorbach zuzubewegen, ist alles noch im Toleranzbereich.
Kurz nach Mittag.
Die Sonne ist hinter der milchigen Wand aus Wolken hervorgekommen.
Licht überall.
Von den Spitzen der Hügel bis ins Tal hinab.
Unten ein Dorf, wahrscheinlich Breitendiel.
Zehn Minuten lang bleibe ich auf der Anhöhe stehen und während ich das Zusammenwirken von Licht und Weite auf mich wirken lasse, treiben die letzten Reste von Ärger über die verpasste Abzweigung davon.
Völlig egal, ob ich auf dem Marienweg unterwegs bin oder sonstwo, das hier ist pures Wanderglück.
Es ist mittlerweile so warm geworden, dass ich die Ärmel hochkrempeln kann.
Das Sonnenlicht macht die Landschaft noch stiller, und als ich weiterwandere, ist es, als würde der Pfad mich mit sich tragen wie eine ganz leichte Strömung.
Von der Landstraße entferne ich mich jetzt immer weiter. Nicht lange und ich bin von nichts anderem mehr umgeben als vom Rauschen der Baumwipfel.
Der Pfad wird zusehends schmaler.
Zwischen den Stämmen ein schönes Zwielicht, aus dem Schattendunkel hervorleuchtendes Moos, Steine, die grau aus dem Erdreich ragen.
Es ist wie so oft: Wenn man aufmerksam genug ist, dann kann man das Besondere auch und gerade im Kleinen entdecken.
Noch immer bewege ich mich zumindest grob in Richtung Amorbach, wenn mich nicht alles täuscht.
Irgendwann macht der Pfad aber eine Krümmung und führt danach fast exakt in die entgegengesetzte Richtung.
Noch ein paar Kurven und ein kurzer Anstieg, dann stehe ich mit einem Mal am Rand eines Niemandslandes aus Wiesen und Äckern.
Ich trabe ein paar hundert Meter am Waldrand entlang, und irgendwie setzt sich dabei Schritt für Schritt bei mir der Wunsch fest, doch noch den Versuch zu unternehmen, den Marienweg wiederzufinden.
Auf jeden Fall muss ich mich dafür erst einmal weiter von Amorbach wegbewegen, und dann muss ich erstens darauf hoffen, dass meine Einschätzung, wo der Marienweg verläuft, ungefähr richtig ist, und zweitens muss ich darauf hoffen, dass der Pfad, den ich einschlage, auch dorthin führt.
Ich wandere über einen einsamen Feldweg, von dem ich zwar nicht die geringste Ahnung habe, wohin er mich bringen wird, auf dem sich aber zumindest wunderbar gehen lässt.
Über den Wiesen liegt immer noch ein feiner Dunst.
Sachter Wind, kaum stark genug, um die Grashalmspitzen zu bewegen.
Irgendwo mitten in der Verlassenheit der Felder eine Scheune.
Alles weit und offen und entgrenzt.
Die Minuten kommen und gehen.
Von Amorbach entferne ich mich immer weiter.
Der Feldweg wird zu einer schmalen Asphaltstraße, die in eine Senke hinabführt.
Vor mir ein paar Häuser.
Im ersten Moment weiß ich gar nicht so recht, ob es sich um ein richtiges Dorf handelt oder einfach nur um ein Gehöft mit mehreren Gebäuden.
Mein Blick folgt der Straße, die sich irgendwo jenseits der Senke im Wald verliert.
Schweift über eine Weide mit ein paar Kühen.
Bleibt an einem Holzkasten mit der Aufschrift „Honig“ hängen.
Unmittelbar davor zwei in die Erde gerammte Holzpfosten, und an einem davon entdecke ich das rote N des Nibelungensteigs und darüber das Symbol des Marienweges. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Wandersymbol nach vielen Kilometern Irrweg wieder auftaucht, aber diesmal kommt es besonders unerwartet.
Ich setze mich erst einmal auf eine Bank am Wegrand.
Das Dorf ist wirklich winzig, aber es ist eindeutig ein Dorf und nicht bloß ein Gehöft.
Später lese ich nach, dass es sich um Monbrunn handelt, dass hier 62 Menschen leben und dass es eine Gaststätte und einen Reiterhof gibt.
Wie weit ich von hier aus noch bis Amorbach zu gehen habe, weiß ich nicht genau, aber mehr als fünf oder sechs Kilometer können es nicht sein.
Eigentlich ist es wie immer oder zumindest wie fast immer: Im Nachhinein sind die Touren, bei denen ich mich bis zu einem gewissen Grad der Ungewissheit überlasse, die wertvollsten. Ich glaube, der Tag, an dem ich mich nur noch nach einem exakt ausgearbeiteten Drehbuch richte, wird der Tag sein, an dem ich mit dem Wandern aufhöre.
Dritter Teil: Ausklang
Von nun an ist die Wanderung wie ein Tanz im Frühlingswind auf einem Felsen über dem Meer.
Alles ist leicht.
Ich muss nicht mehr suchen, sondern der Weg findet mich.
Es ist ungefähr so, als hätten sich die losen Fäden einer komplizierten Geschichte endlich zu einem stimmigen Ganzen zusammenführen lassen.
Tendenziell bewege ich mich von Monbrunn an immer weiter ins Tal hinab.
Heller Wald, unten in der Senke ein Bach – den ich irgendwann über eine kleine Brücke überquere -, ein paar geschäftige Waldarbeiter, der eine oder andere Bildstock, und jede Menge Bänke zum Ausruhen. Dazu leuchtend grüne Wiesen, manchmal auch niedrige Hänge, die fast ein wenig an Hohlwege erinnern, und noch ein weiteres winziges Dorf, bei dem ich mich wie schon in Monbrunn frage, mit welchen Augen wohl die Einwohner all die fremden Wandergestalten betrachten, die durch ihren Ort marschieren.
Je näher ich Amorbach komme, desto mehr füllt sich der Wald mit Spaziergängern und Wanderern.
Kein Wunder, es ist Samstagnachmittag und besseres Wetter kann man sich kaum wünschen.
Oberhalb von Amorbach habe ich einen wunderbaren Blick auf die Hügellandschaft und die darin eingebettete Stadt, in der von hier oben aus besonders die Türme der beiden Kirchen den Blick auf sich ziehen.
Der letzte Kilometer nach Amorbach hinunter.
Ein abschüssiger, schmaler Pfad, der in einer Doku „Schönes Unterfranken“ hervorragend aufgehoben wäre.
Dann die ersten Häuser.
Ich bin da angekommen, wo ich wollte, wenn auch nicht unbedingt auf dem vorgesehenen Weg.
Aber genau das hat einmal mehr aus einer schönen Wanderung eine ganz besondere gemacht.
Noch eine Marienwegetappe:
Tour 53/2. Tag Von Kleinwallstadt nach Miltenberg
Der Tag beginnt mit dem steten Geräusch eines feinen,
dünnen Regens. Der Wind treibt ihn durch die Straßen,
trägt ihn weit übers Land.
Nach und nach weicht das samtene Schwarz der Nacht
einer brüchigen, trüben Dämmerung.
Auf den Straßen graue Pfützen, in denen sich ein graues
Licht spiegelt. weiterlesen Bildergalerie
4 Comments
Mata
Ich lese alle deine Wanderschilderungen gerne, aber die Marienwegetappen haben es mir besonders angetan. Man kann sich treiben lassen und sieht ein paar Minuten lang die Welt mit einem ganz besonderen Blick. Das ist nämlich für mich mit das Schönste an deinen Texten, der besondere Blick, den du für die Dinge hast.
Grüße, Mata
gorm
Vielen Dank für die positive Resonanz, freut mich sehr.:-)
Beste Grüße
Torsten
JuRa
Wunderbar. So viele schöne, gelungene Sätze. Hoher Lesespaßfaktor.
JuRa
gorm
Vielen Dank, freut mich.:-)
Beste Grüße
Torsten