Wandertouren

TOUR 57 – SAARLOUIS & VAUBAN-STEIG

Der Morgen zieht blass und still herauf.
In die wächserne Dämmerung mit ihren Schatten und Umrissen hinein breitet sich allmählich ein rötlicher Glanz aus. Zunächst ist es nur ein mattes, schwächliches Schimmern, kaum mehr als ein Zittern der Luft, von dem man fast den Eindruck hat, dass es nach dem nächsten Augenblinzeln schon wieder verschwunden sein könnte, aber nicht einmal zwei Minuten später hüllt es schon die Baumspitzen ein, dann die Stämme, und schließlich füllen sich auch die dunklen, unscharfen Bereiche tief unten am Boden mit warmem Licht. Keine fließenden Schemen mehr, sondern überall klare Linien, die Anker sind für den Blick.

Als ich eine gute Stunde später dann vom Bahnhof Saarlouis in Richtung Großer Markt gehe, leuchtet der Himmel bereits südseelagunenblau, und obwohl ich mich mitten in einer Stadt bewege, ist es, als würde milde Sommermorgenlandluft durch ein geöffnetes Fenster hereinwehen.

Eine richtig lange Tour wird es diesmal nicht werden, aber doch immerhin gut 25 Kilometer, also erheblich mehr als ein bloßes Ausschütteln der Beine. Ich werde mich dabei durch eine Vielfalt unterschiedlichster Räume bewegen. An weiten Feldern vorüber, an stillen Wiesen, über die der Wind herrscht, durch lichte Akazienwälder, steile Hügel hinauf und hinab, dann wieder wie ein Floß auf einem mäandernden Strom an Felskolossen und Überresten alter Steinbrüche vorbei.

Aber das kommt alles später.
Erst einmal statte ich der Kirche St. Ludwig einen kurzen Besuch ab.
Obwohl die Kirche ganz am Rande steht, zieht sie von jedem Punkt des Großen Marktes den Blick auf sich. Im ersten Moment sieht es beinahe so aus, als habe die Kirche drei Türme. Rasch jedoch stellt sich die Erkenntnis ein, dass die beiden kleinen Türme links und rechts gar nicht zu der Kirche gehören, sondern zu den benachbarten Häusern.

Im Innern der Kirche müssen meine Augen sich einen Herzschlag lang an das sanfte, samtene Halbdunkel gewöhnen. Durch die seitlichen Fenster strömt weiches Licht herein, sammelt sich in kleinen Seen.
Ich bleibe hinter der letzten Bankreihe stehen und schaue mich kurz um.
Wie so manch anderes sakrales Bauwerk auch hat St. Ludwig jede Menge Neugestaltungen und Umbauten hinter sich. Die Umwandlung der Kirche in einen „Tempel der Vernunft“ während der Französischen Revolution, ein Brand im Jahre 1880, der Zweite Weltkrieg – kein Wunder, dass von dem ursprünglichen Gebäude kaum mehr übriggeblieben ist als der Grundstein.
Und auf dem steht dann rätselhafterweise auch noch eine Jahreszahl, die mit der tatsächlichen Grundsteinlegung gar nicht übereinstimmt.
„1685 au nom de Louis le Grand…“ usw.

Dabei ist mit dem Bau der Kirche schon 1680 begonnen worden, exakt in dem Jahr, in dem die Errichtung der Stadt Saarlouis selbst auch in Angriff genommen worden ist.
In diesem Zusammenhang wird dann auch klar, warum der Wanderweg, den ich mir für heute ausgesucht habe, Vauban-Steig heißt. Nämlich deshalb, weil es Sébastien de Vauban war, seines Zeichens Festungsbaumeister von Ludwig XIV., der Saarlouis – damals Sarre-Louis – als Grenzstadt oder vielmehr als Grenzfestung an der französischen Ostgrenze entworfen hat.
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Als ich wieder unter freiem Himmel bin, bleibe ich ein paar Augenblicke lang stehen.
Die Sonne vereinnahmt alles.
Wohin ich auch schaue, gleißend helles Licht.
Es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich Funken aus dem Asphalt oder aus den Häuserwänden sprühen würden. Wirklich dunkle oder gar vollkommen lichtlose Bereiche existieren überhaupt nicht.

Ich laufe durch ein paar an die Kirche angrenzende Straßen, an den Kasematten vorüber – die allerdings nicht Teil der ursprünglichen Festungsanlagen waren, sondern erst weit über ein Jahrhundert später von den Preußen angelegt wurden -, folge dem Weg des Lichts hierhin und dorthin, aber bevor daraus ein zielloses Umherstreifen werden kann, fasst etwas in mir den Entschluss, mich allmählich doch mal in Richtung des Vauban-Steigs zu orientieren.

Von dem Moment an, als ich von der Gustav-Heinemann-Brücke zum Altarm der Saar hinuntersteige, ist die Vorstellung darüber, was mich auf dem Rest der Tour erwartet, in etwa so präzise, als würde ich mich am Strand einer unbewohnten Insel wiederfinden, die ich jetzt Schritt für Schritt erforschen müsste.

Ich wandere am Ufer entlang.
Der Lärm der Stadt ist ganz nahe, aber ich höre ihn nur noch gedämpft.
Das Wasser ist fast ohne Bewegung und vielleicht wird deshalb wie von selbst der Blick sehr ruhig. Er springt nicht von einem Punkt zum nächsten, sondern gleitet ohne Hast über alles hin. Verharrt. Sammelt. Reduziert auf kleine Ausschnitte. Erweitert das Sichtfeld dann wieder.

Nach ein paar Minuten biege ich in den benachbarten Stadtgarten ab.
Eine Weile lasse ich mich treiben, ändere wie ein Segelboot, das gegen den Wind manövriert, immer wieder die Richtung. Und dabei habe ich die Muße zu schauen und zu betrachten. Ich suche aber nicht wild drauflos, um nur ja irgendetwas Großartiges zu entdecken, die Dinge begegnen mir einfach.
Zum Beispiel Kunstwerke auf einer Wiese.
Oder ein Teich in einem Licht, von dem man am liebsten einen reichlichen Vorrat für graue Novembertage anlegen würde.

Ich gehe gar nicht mal langsam, aber ich komme mir dennoch vor wie der Erfinder der Zeit.
Allerdings wird mein Gehen nach und nach wieder zielorientierter, denn schließlich will ich ja zum Vauban-Steig.
Um dorthin zu gelangen, muss ich noch ungefähr einen Kilometer durch die Stadt laufen, wobei ich in immer weniger belebte, immer weniger städtisch wirkende Straßen abbiege, und nachdem ich eine Autobahnunterführung hinter mich gebracht habe, bin ich urplötzlich von etwas umgeben, das man fast schon als Beschaulichkeit bezeichnen könnte und das es nicht mehr völlig abwegig erscheinen lässt, dass sich hier in der Nähe ein Premiumwanderweg befindet.
Das Licht spielt mit der Landschaft.
Links und rechts sanft geschwungene Hügel, und Wiesen, ausgerollt wie grüne Teppiche.

Gemächlich trabe ich nach Beaumarais hinein, einem Stadtteil von Saarlouis mit einer Atmosphäre, die erheblich näher an dörflicher Abgeschiedenheit liegt als an urbaner Geschäftigkeit. Unmittelbar hinter dem letzten Haus des Ortes bin ich irgendwie schon mitten in der Natur.
Wild wuchernde Büsche, wild wucherndes Gras.

Nur ein paar hundert Meter weiter stoße ich auf den Vauban-Steig.
Und wieder ein paar hundert Meter weiter bin ich im Wald.
Matte Helligkeit.
Verwaschenes Grün.
Aber nur ein paar Schritte, dann ist der Wald und so ziemlich alles, was sich darin befindet, in einen See aus Licht getaucht. Der Pfad windet sich ganz einnehmend dahin und ich bin entspannt wie ein meditierender Mönch im Gamma-Wellen-Bewusstseinszustand.

Ein schöner Wald, aber mehr Gefallen finde ich heute daran, unter freiem Himmel dahinzuwandern.
Es ist sehr warm, jedoch weit entfernt von lastender Hitze.
Die Mittagssonne leuchtet golden vom Himmel.
Die Landschaft wirkt weit und still.
Nur ein ganz sanftes Geräusch irgendwo.
Als ob eine Vogelschwinge ein Blatt streift, kaum mehr.

Von weitem sehe ich bereits die Teufelsburg.
Der Anstieg da hinauf ist der steilste Abschnitt der gesamten Tour.
Die Bäume stehen vollkommen ruhig.
Das Licht ist jetzt nur noch jenseits der Wipfel, so dass ich fast den Eindruck habe, mich in einem geschlossenen Raum zu bewegen, aber immerhin einem mit einer Glaskuppel.
Dann treten die Bäume ganz dicht zusammen und irgendjemand zieht einen grünen Vorhang zu. Durch das Gewebe der Äste dringen nur noch einzelne Bündel glanzlosen Lichts.
Je weiter ich hinaufsteige, desto mehr füllt sich mein Gesichtsfeld wieder mit Helligkeit, ungefähr so, als würde ich auf das Ende eines langen, dunklen Korridors zugehen.
Ich lasse alles langsamer als langsam auf mich wirken, lasse es sich in Zeitlupengeschwindigkeit entfalten.

Es gibt Erinnerungen, zu denen man immer wieder zurückkehrt. Oder die wie von selbst zurückkehren.
Man kann es auch eine Nummer kleiner machen: Von jeder Tour, von jeder Wanderung bleibt etwas, es erhält einen Platz in den Galerien all der zu Bilder gewordenen Ereignisse und Eindrücke, die man im Laufe der Zeit sammelt.
Und dieser Anstieg zur Teufelsburg hat es durchaus verdient, dort auch verewigt zu werden.

Oben angekommen, habe ich im allerersten Moment den Eindruck, kopfüber in einen blauen Ozean zu stürzen.
Es dauert ein paar Sekunden, bis meine Augen sich wieder an die Helligkeit gewöhnt haben. Dann stelle ich fest, dass das Blau ein sehr lichtes Blau ist, kein tiefes Ultramarinblau, und so einige Wattebauschwolken gibt es auch.
Direkt gegenüber auf einer Bergehalde das Saarpolygon, errichtet in Erinnerung an den im Jahr 2012 endgültig beendeten Steinkohlebergbau im Saarland.

In Anbetracht des hellen Sommerwetters kommt mir die Horizontlinie erstaunlich nah vor.
Aber ein ganz anderer Gedanke zerrt an mir und will zu Ende gedacht werden.
Von hier aus sind es nämlich nur wenige Kilometer bis zur französischen Grenze. Von da, wo ich jetzt stehe, soll man an manchen Tagen bis zu den Vogesen schauen können.
Eine Tour im Elsass – vielleicht grenzüberschreitend – würde mich sehr reizen, und ich nehme mir vor, sie möglichst bald in die Tat umzusetzen.

Dann hat der Wald mich wieder.
Der Pfad springt nun hierhin und dorthin wie ein außer Kontrolle geratenes Jo-Jo.
Über mir ein schimmernder Laubbaldachin.
Astwerk, das ein unhörbarer Wind bewegt.
Der Pfad beruhigt sich wieder, fließt ruhig und behäbig dahin.
Er trägt mich um sanft geschwungene Kurven herum und über schmale Holzstiegen hinweg, die in mein Gehen einen sehr gleichmäßigen Rhythmus hineinbringen, der aber rasch wieder gebrochen wird, weil ich mich an einem Baum mit Ästen wie Fangarmen vorüberlavieren muss.

Irgendwann sitze ich in strahlendem Sonnenschein auf einer Bank, fünfzig Meter vom Wald entfernt.
Nicht allzu weit weg ein kleines Dorf, inmitten von endlosen, goldgelben Wiesen.
Es geschieht nichts.
Fast schon weniger als nichts.
Und genau das ist das Gute.

Nach der Rast wandere ich viele, viele Minuten auf einem schönen, sehr schmalen Pfad am Waldrand hin.
Baumschattenstille.
Wolkenweißstille.
Und wie schon so oft dieses Gefühl, angekommen zu sein, obwohl ich noch unterwegs bin.

Als ich mich wieder im Wald befinde, ist das strahlende Licht immer noch da, es folgt mir weit in die Schatten hinein.
Schwierig ist der Weg nun ganz und gar nicht mehr. Wenn es überhaupt mal bergan geht, dann höchstens ein paar Meter.
Immer wieder kleine Lichtexplosionen irgendwo über mir.
Ich laufe über kleine Stege.
Gleite um Biegungen herum.
Steige in ein Waldtal hinab, in ein Reich heller, flackernder Schatten.
Passiere Felsen, die der Wald schon fast völlig eingenommen hat.
Und irgendwann…

… ist da dieses genügsame Etwas in mir, das nur noch betrachten und erfassen will.
Ich höre auf, Gedankenfäden miteinander zu verknüpfen.
Spätestens das ist der Punkt, an dem sich ein paar Dinge so zusammenfügen, dass es kaum besser passen könnte.

Nachdem ich zweimal oder dreimal aus dem Wald hinaus- und kurze Zeit später wieder hineingewandert bin, gönne ich mir noch eine Pause auf einer Bank im Schatten mit Blick auf eine Pferdekoppel.
Vogelgezwitscher, Stimmen von irgendwoher, Baumwipfelrauschen.
Danach alles wie gehabt: Ein paar Felsen, ein bisschen Akazienwald, idyllische Wiesen, und ein Pfad, auf dem man fast wie von selbst vorankommt. Von einer kurzen, sandigen Passage abgesehen, bei der ich ebenso gut auch über zähflüssigen Teer laufen könnte.

Es ist erst früher Nachmittag, als ich wieder zu der Stelle gelange, wo ich Stunden zuvor auf den Vauban-Steig abgebogen bin.
Noch immer liegt über allem der Schimmer eines wunderbaren, in Blau gehüllten Sommertages.
Ohne jeden Anflug von Eile trabe ich zurück nach Beaumarais, und von da exakt auf dem Weg, den ich gekommen bin, nach Saarlouis.

 

 

Noch eine Sommerwanderung:

Tour 13 Theley – Offizierspfad

Nebel liegt über den Feldern.

Ein dünner, grauer, allmählich emporsteigender Nebel.

Spätsommernebel, fast schon Herbstnebel.

Ein Nebel, wie er in alten Schwarz-Weiß-Filmen mitunter

über einem Moor emporwallt und aus dem dann der er-

stickte Schrei einer Frau dringt.

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One Comment

  • Roxanne

    Text und Bildergalerie gehen auch diesmal wieder eine optimale Verflechtung ein. Der Text ist ohnehin über jeden Zweifel erhaben und sticht stark aus der Masse heraus. Die Bildergalerie ist immer eine gute Ergänzung dazu.

    Roxanne

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