TOUR 50: VON OSTHOFEN NACH ALSHEIM
Wie fast immer am Tag einer Wanderung gilt mein erster halbwegs wacher Blick an diesem Morgen den Wetterprognosen.
Es wird ein kurzer Blick.
Zweistellige Temperaturen, ein paar Stunden nahezu wolkenloser Himmel, kein Regen, kein Gewitter, kein Sturm, nichts, was nach einer wirklichen Beeinträchtigung aussieht.
Mein zweiter, schon etwas wacherer Blick, ist dem Plan für heute gewidmet.
Rund 16 leichte Kilometer auf dem Rheinterrassenweg sind vorgesehen, von Osthofen – wo ich im Mai letzten Jahres schon einmal gewesen bin – über Mettenheim bis Alsheim.
Ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was mich erwartet, aber dennoch wird es auch diesmal an überraschenden, an unerwarteten Momenten nicht fehlen.
Der Beginn der Wanderung ist zäh wie das nicht enden wollende erste Kapitel eines langweiligen Krimis.
Um es vorwegzunehmen: Das wird nicht so bleiben.
Mit der Zeit gewinnt der Weg immer mehr an Reiz und Ästhetik, er enthüllt sein ganz eigenes, markantes Gesicht.
Die flachen Weinberge mit ihren Rebstockspalieren, die weite, stille Ebene, kleine Dörfer irgendwo, wie aus Versehen abgelegt und vergessen.
Oft wird aus einem zufälligen, flüchtigen Blick in die Landschaft ein längeres, einzelne kleine Details herausarbeitendes Betrachten oder auch einfach nur ein unscharfes Erfassen, das sich aber Zeit nimmt und das noch keine Worte sucht, sondern nur Bilder abspeichert.
Erst einmal aber laufe ich durch leere, sonnendurchflutete Nebenstraßen und dann die lange, enge Hauptstraße entlang bis zum Ortsende. Der Rheinterrassenweg biegt ein paar hundert Meter vorher allerdings in eine ganz andere Richtung ab, was ich irgendwie verpasst habe.
Ich überlege gar nicht erst lange und kehre nicht etwa um, sondern stapfe zur Bergkirche hinauf, denn ziemlich genau dort habe ich bei der Wanderung ein knappes Jahr zuvor den Rheinterrassenweg verlassen.
Es ist warm und am Himmel zeigen sich verschiedenste Variationen von Blau: Südseelagunenblau, Libellenflügelblau, Tintenblau.
Ich trabe an einem Friedhof vorbei, kurz darauf dann durch ein paar stille, schmale Gassen, aber danach befinde ich mich entgegen meiner Erwartung noch nicht in den Weinbergen, sondern wandere auf einem fußbreiten Pfad an Häusergärten vorüber.
Es ist unübersehbar, dass der Frühling begonnen hat.
Ein üppiges Blühen und Leuchten stiehlt sich an vielen Stellen in das von den Wintertagen noch übriggebliebene schäbige Braun kahlästiger Bäume. Die Luft ist frisch wie von einem Ostseestrand hierher importiert.
Nachdem ich die letzten Gärten hinter mir habe, laufe ich auf einem bis zum Horizont schnurgeraden Weg mitten in den Himmel hinein, als würde ich von einer sanften Welle darauf zu getragen werden.
Ein Windhauch, gerade einmal stark genug, um die Spitzen der Halme zu bewegen, streicht über die Ebene hin.
Ich bin jetzt fast vollkommen im Augenblick verankert.
Gehe langsam, die Augen auf irgendeinen fernen Punkt gerichtet.
Bin erfüllt von einem umfassenden Gefühl von Geduld.
Zu beiden Seiten Felder wie aufgeschlagene Buchseiten, wenig später dann Weinberge, die allerdings oft nicht einmal Weinhügel sind. Der Weg führt zwischen ihnen hindurch wie lasergeglättet. Von Zeit zu Zeit, wie eine ganz schwache Dünung, eine winzige Erhebung, mehr nicht.
Die Beine wollen einfach nur gehen, gehen, gehen, von hier nach da, von einem Punkt zum nächsten, von Horizont zu Horizont.
Der Himmel ist jetzt für Minuten milchig weiß, mit einem kaum merklichen Schatten von Grau, der sich aber bald schon wieder verflüchtigt, vorerst jedenfalls.
Ich trabe auf ein Dorf im Mittagsschlummer zu.
Wenn mich nicht alles täuscht, dann muss das Bechtheim sein.
Zwei Dinge ziehen sofort den Blick auf sich: Der hoch über die Dächer hinausragende Turm einer Kirche und außerdem ein jenseits des Dorfes chaotisch wie ein ungebändigter Flusslauf durch die Weinberge sich schlängelnder Pfad.
Dann ist da noch jener einzeln stehende Baum auf der Kammlinie der Hügelwelle, der dem Panorama einen Hauch von Wuthering heights verleiht.
Gemächlich trotte ich in den Ort hinab.
Man merkt sofort, dass heute ein Feiertag ist. Nichts hier wirkt geschäftig oder gar gehetzt.
Die Straßen sind so leer und so still, dass man meine Schritte wahrscheinlich von einem Ende des Dorfes bis zum anderen vernimmt. Ich würde mir gerne die Basilika St. Lambert mit ihren Resten gotischer Wandmalereien etwas näher anschauen, aber leider ist sie verschlossen.
Wenig später wandere ich den Pfad hinauf, den ich vorhin aus der Ferne gesehen habe.
Innerhalb weniger Minuten hat sich das leuchtende Blau über der Landschaft in einen farblosen Dunst verwandelt. Der Himmel erscheint dadurch viel niedriger als zuvor, es hat ungefähr die Wirkung, als würde ich aus einer großen, hohen Halle in einen Raum treten, in dem ich mit dem Kopf fast an die Zimmerdecke stoße.
Aber als ich den kleinen Anstieg hinter mir habe und wieder über die Weinstöcke hinwegblicken kann, stelle ich fest, dass man immer noch weit ins Land schauen kann.
Einige leuchtende, schimmernde Augenblicke lang bricht sogar die Sonne noch einmal durch, die Landschaft ist plötzlich sehr hell und beinahe transparent, nur ganz weit draußen hält sich der Dunst, zitternd, ungewiss, und Wiesen, Hügel, Horizont, alles kaum unterscheidbar, wie zusammen in eine Flasche abgefüllt und kräftig durchgeschüttelt.
Am Wegrand entdecke ich plötzlich Schilder mit den Namen von Prominenten: Götz
Alsmann, Claus Theo Gärtner, Heide Ecker-Rosendahl und noch viele mehr.
Ich habe keine Ahnung, was es damit auf sich hat.
Später lese ich nach, dass in den Weinbergen um Bechtheim herum alljährlich eine Weinwanderung stattfindet, bei der eine bekannte Persönlichkeit als sogenannter Weinpilger in Erscheinung tritt.
Es finden sich auch noch andere Schilder. Darauf ist die Funktion verschiedener historischer landwirtschaftlicher Gerätschaften erläutert. So erfahre ich zum Beispiel, was ein Rigol ist, nämlich ein bis etwa 1950 eingesetzter Rodepflug. Und von der Existenz des bis ungefähr 1960 unter anderem zur Unkrautbekämpfung eingesetzten Grubbers hatte ich bis zu dieser Sekunde auch noch keinen blassen Schimmer.
Das nächste Kapitel der Tour trägt die banale Überschrift Auf einer Bank sitzen.
Auf einer Bank sitzen und den Blick schweifen lassen, bis die Gedankenströme ganz ruhig dahinfließen und man nur noch einen Schritt davon entfernt ist, selbst zu einem Teil der Landschaft zu werden.
Es ist friedlich und still. Und warm. Und Eile habe ich auch keine. Eindrücke wehen herbei und wieder davon. Die Weinberge. Die Dächer des nahen Dorfes. Stimmen vorüberflanierender Spaziergänger.
Irgendwann nach zwanzig oder vielleicht auch dreißig Minuten setze ich meine Wanderung fort.
Von nun an ist der Weg erst einmal wieder flach wie eine Uferpromenade.
Links und rechts natürlich immer noch Weinberge, ab und zu ragt ein verloren in der Landschaft herumstehender Baum darüber hinaus. Von schnurgerade kann allerdings keine Rede mehr sein, stattdessen oszilliert der Pfad in weiten Schwüngen durchs Gelände.
Die Fernblicke sind ebenso zahlreich wie eindrucksvoll und sie erhalten durch diesen wie aus Morgentau und einem ganz dünnen Nebelschleier gesponnenen Dunst eine besondere Note.
Ich wandere über eine kleine Kuppe hinweg. Jenseits davon senkt sich der Pfad wie eine Wippe wieder hinab und dann befinde ich mich plötzlich auf einem leicht abschüssigen Weg, der zwischen von wucherndem Gestrüpp bewachsenen Geländebuckeln hindurchführt.
Das ist der erste von mehreren Hohlwegen auf den nächsten fünf, sechs Kilometern.
Unten, in eine Senke hineingepfropft, das Dorf Mettenheim. Dort endet die zweite Etappe des Rheinterrassenweges, was für mich aber keine Rolle spielt, denn ich will ja noch bis nach Alsheim wandern.
Zwei Herzschläge später folgt auch schon der nächste Hohlweg.
Für ein paar kurze Meter wird der Pfad beinahe steil, er trägt mich über eine kleine Anhöhe hinweg und schon ein paar Atemzüge später stapfe ich doch tatsächlich schon wieder bergauf, und diesmal ist es nicht nur eine fast nicht existente, winzige Bodenwelle, sondern wirklich mal ein richtiger Anstieg.
Eine Windung folgt auf die nächste. Um mich herum wird es immer grüner: Wiesengrün, Efeugrün.
Und irgendwie hat der Pfad mit seinen grauen, rauen Steinen und den knorrigen Bäumen am Rand jetzt etwas von einem geheimen Verbindungsweg nach Mittelerde.
Nicht schlecht.
Danach bewege ich mich jedoch wieder in der vertrauten Szenerie der flachen Weinhänge.
Am Himmel ein blasses, fast farbloses Blau. Aber trotz der stumpfen Farben ist die Fernsicht großartig.
Kann es wirklich sein, dass diese dunkle Hügellinie ganz weit da hinten der Odenwald ist?
Es sieht so aus, oder warum sollte die kleine Aussichtskanzel am Wegrand sonst den Namen „Odenwaldblick“ bekommen haben?
Kein einziger Schritt heute führt durch irgendetwas, das nach Wald aussieht, aber das tut der Wanderung keinen Abbruch.
Und zwar wirklich gar keinen.
Die Wege durch die flachen Weinhügel hindurch sind wie für stetes, gleichmäßiges Gehen geschaffen und in dem Naturgemälde aus Weinbergen, Ebene und Hügelkämmen ist irgendwie alles im richtigen Maßstab einander zugeordnet. So ganz nebenbei gerate ich heute kein einziges Mal auf Wege, die ins Nichts führen oder sich in irgendeinem unentwirrbaren Knäuel von Pfaden und Abzweigungen verlieren oder schlicht unauffindbar sind, so, als wäre ich in Tolkiens Alten Wald geraten, in dem die Bäume Pfade hervorbringen und im nächsten Augenblick wieder verschwinden lassen können.
Die letzten zwei oder drei Kilometer.
Noch einer dieser seltsamen, aber auch großartigen Hohlwege, der vierte oder fünfte mittlerweile.
Ich muss aufpassen, wohin ich meine Füße setze, denn die Pflastersteine, aus denen der Weg besteht, liegen ungefähr so gleichmäßig wie blind geworfene Würfel.
Danach ein Schlammpfad – hatte ich ja heute noch nicht! – und dann passiere ich auch schon den nächsten dieser eigenartigen Hohlwege. Wobei es sich, wenn ich den Blick auf dem in weiten Schwüngen dahinfließenden Pfad weit vorauseilen lasse, beinahe so anfühlt, als treibe ich wie ein schwankender Kahn auf einer schnellen Flussströmung dahin.
Kurz vor Alsheim vollzieht der Weg einen letzten, unerwarteten Richtungswechsel und führt noch einmal in die Weinberge hinein.
Ich stapfe über sauberen, glatten Asphalt.
Es ist wieder etwas heller geworden, der Horizont wirkt dadurch nicht mehr verschwommen, sondern kantig, abgegrenzt, so dass es aussieht, als würde man jenseits davon ins Nichts stürzen.
In Alsheim angekommen, verzichte ich darauf, mich noch etwas im Ort umzuschauen.
Ich werfe nur im Vorbeigehen einen Blick auf das barocke Rathaus und dann bin ich auch schon am Bahnhof.
Der Rheinterrassenweg führt von hier aus noch gut 50 Kilometer weiter, über Oppenheim und Nierstein bis nach Bingen.
Irgendwann werde ich sicher wieder in dieser Gegend sein und weitere Etappen dieses eher kurzen Fernweges in Angriff nehmen.
Noch eine Tour auf dem Rheinterrassenweg:
Tour 54 Von Alsheim nach Oppenheim
Am späten Vormittag treffe ich in Alsheim ein.
In den fast menschenleeren Straßen staut sich eine
drückende, durch keinen noch so leichten Windhauch
abgemilderte Hitze.
Das Licht über den Dächern ist hell wie ein Gamma-
strahlenblitz. Selbst… weiterlesen Bildergalerie
4 Comments
Mata
Einmal mehr eine atmosphärisch sehr stimmig beschriebene Tour mit vielen ganz eigenen und schönen Formulierungen. Es macht einfach Spaß, deine Berichte zu lesen. War dieser Abschnitt des Rheinterrassenweges eigentlich schöner als die erste Etappe?
Grüße,
Mata
gorm
Vielen Dank für deinen Kommentar!:-)
Ich persönlich fand die jetzige Tour etwas schöner, ja. Die Hohlwege sind schon etwas Besonderes und die Fernblicke in die Rheinebene hinein hatten auch was. Allerdings war auch die Tour vor einem Jahr alles andere als schlecht. Der Schlosspark Herrnsheim, der Stadtrundgang in Worems, später dann die Weinberge, das kann sich ebenfalls sehen lassen. Und das Gelände ist so unkompliziert und eben, dass man wirklich wunderbar und ohne große Anstrengung dort wandern kann.
Grüße
Torsten
Jana
Zunächst einmal gratuliere ich dir ganz herzlich zum zweijährigen Jubiläum deines wunderbaren Blogs, lieber Torsten! Vielen Dank, dass du uns in deinem ganz eigenen Schreibstil an deinen Wanderungen teilhaben lässt.
Auch diese Tour ist dir sprachlich wieder ausgezeichnet gelungen. Und ich muss sagen, dass sie ganz nach meinem Gusto wäre: Diese schnurgeraden, ebenen Wege, diese Weitblicke – herrlich! Es muss ja nicht immer Wald sein. Ganz fasziniert bin ich von den Hohlwegen.
Du bist an einem Feiertag gewandert und es sieht auf den Fotos so aus, als ob du diese Abschnitte des Rheinterrassenweges nahezu für dich allein gehabt hast. Muss eine tolle Tour zum Abschalten gewesen sein!
Liebe Grüße
Jana
gorm
Vielen Dank, liebe Jana.:-) Es war einfach mal was anderes, um es ganz schlicht auszudrücken. Die Hohlwege haben mich wirklich sehr positiv überrascht, ich habe vorher nicht damit gerechnet, dass sie dem Wanderweg tatsächlich so erkennbar eine eigene Prägung geben. Die vielen Fernblicke in die Rheinebene hinein und das Spalier der Rebflächen stellen dazu eine tolle Ergänzung dar. Na ja, und dass man fast die ganze Zeit auf einem tischebenen Pfad unterwegs ist, das ist ja auch mal ganz schön. Und natürlich würde dir der Weg auch sehr gut gefallen, das weiß ich.:-)
Liebe Grüße
Torsten