TOUR 8: VON KOMPROMISSEN UND ENTSCHLÜSSEN
Kapelle Macherbach – Schloss Buseck – „Großer Kapellenweg“
(teilweise)
Diese Wanderung ist ein Kompromiss. Ein Kompromiss
zwischen Unvernunft und Selbsterhaltung. Ich will unbe-
dingt wandern, komme aber nicht umhin, der Tatsache
Rechnung zu tragen, dass ich leicht erkältet bin. Die
Erkältung ist zwar bereits dabei, sich zu verabschieden,
aber ein vereinzeltes Husten zeigt mir, dass sie immer
noch auf ihre Chance lauert.
Wie auch immer, ich reagiere auf die Umstände und
suche mir eine Strecke aus, die praktisch vor meiner
Haustür liegt.
Um mich schon ein wenig in Schwung zu bringen und
an die Bewegung zu gewöhnen, fahre ich die paar Kilo-
meter zum Ausgangspunkt der Tour mit dem Rad.
An einer kleinen, irgendwo im Niemandsland zwischen
drei Dörfern liegenden Kapelle geht es los. Das Fahr-
rad sperre ich ab und lasse es dort zurück.
Auf einem Feld in der Nähe der Kapelle hat ein Bauer
mit seinem Traktor ein chaotisches Furchenopus ge-
schaffen.
Aus den Tiefen irgendeines Erinnerungsverlieses
tauchen plötzlich Bilder von Kornkreisen auf. Wenn
mich nicht alles täuscht, gab es Zeiten, als bei-
nahe täglich Meldungen über solche Kornkreise
durch die Medien geisterten. Bei der flächen-
deckenden Hysterie damals muss es sich doch
beinahe schon um einen überdimensionierten
Rorschach-Test gehandelt haben, einen groß angelegten
Versuch, die Psyche des Volkes zu erkunden, von
irgendwelchen Zynikern in einem Geheimministerium
entwickelt.
Ich trotte eine Dorfstraße entlang bis zu Schloss Buseck,
umrunde dort einen nicht besonders ansehnlichen Teich –
und zwar im Uhrzeigersinn, was das merkwürdige Gefühl
hervorruft, etwas Falsches zu tun, denn unsere Ge-
wohnheit, unsere innere Peilung, bevorzugt die Richtung
gegen den Uhrzeigersinn.
Noch etwa einen Kilometer gehe ich danach durch
Nebenstraßen zweier ineinander übergehender Dörfer,
dann biege ich in einen schmalen Spazierweg ein.
Rechts von mir Geleise, links ein schmaler Fluss
mit Wiesenidyll.
Ich lasse mir Zeit, halte häufig an, um Fotos zu machen.
Es ist sehr warm. Der Hauch des Sommers macht das
Herz weit. In dieser Atmosphäre sterben sämtliche
Überreste trüber Gedanken eines raschen Todes.
Da ich meine Zeit nicht gestohlen habe, lege ich jetzt
doch einen Zahn zu.
Am Ende des Spazierweges überquere ich eine Land-
straße, bei der ich ewig und drei Tage lang warten
muss, bis sich endlich eine Lücke im Autoverkehr ergibt.
Danach kommt der erste Härtetest für meinen Gesundheits-
zustand, nämlich ein steiler Anstieg durch ein Wohngebiet,
der tückischerweise in zwei Etappen verläuft. Man denkt,
man hat ihn schon hinter sich, doch der steilste Teil kommt
dann erst.
Die durch und durch positive Erkenntnis: Kein Husten,
keine Schwäche, nichts.
Im Vorbeigehen beobachte ich einige typische Samstag-
morgenaktivitäten: Rinnstein fegen, Hecke stutzen,
Rasenmähen.
Dann endlich Landschaft.
Ein weiter Blick über Dörfer, Wiesen, Hügel. Durch-
atmen. Da-Sein.
Eine kurze Rast an einer zweiten Kapelle.
Danach an Wiesen entlang und in lichten Wald hinein.
Das schräg durch die Bäume fallende Sonnenlicht
zeichnet seltsame Muster auf den Waldboden. Für
ein paar Minuten verlasse ich den Pfad und begebe
mich in das von einzelnen hellen Lichtschneisen zer-
teilte Schattenchaos zwischen den Bäumen.
Kaum bin ich wieder auf den Weg zurückgekehrt, höre
ich Schritte hinter mir. Irgendetwas an diesen Schritten
gefällt mir nicht. Sie klingen schwer und müde und
besorgniserregend unrhythmisch.
Eine Joggerin läuft an mir vorüber. Man hört ihrem
Schnaufen sehr deutlich an, dass sie in einem Tempo
unterwegs ist, mit dem sie nicht unterwegs sein sollte.
Sie verschwindet hinter eine Biegung.
Als ich die Biegung erreiche, sehe ich sie nur wenige
Schritte entfernt, gegen einen Baum gelehnt, das Gesicht
weiß wie die Blüte einer Zaunwinde.
Ich gehe zu ihr hin.
„Alles in Ordnung?“
Sie nickt.
„Ich bin gleich zu Hause. Im nächsten Dorf.“
Das nächste Dorf, das sind immerhin noch rund zwei
Kilometer.
Zwei Kilometer in einem Zustand, in dem der Körper
Notsignale sendet, können verdammt lang sein.
„Haben Sie ein Handy dabei? Wollen Sie vielleicht
jemanden anrufen?“
„Nein.“
Sie schüttelt den Kopf.
„Danke“, sagt sie dann, „es geht schon.“
Mein Eindruck ist zwar ein anderer, aber ab diesem
Zeitpunkt bestünde die Gefahr, dass meine Hilfsbe-
reitschaft in Aufdringlichkeit umschlägt, also setze
ich meinen Weg fort.
Ich verlasse den Wald und marschiere über einen
schmalen, asphaltierten Weg.
Nachdem ich mich bei einer dritten Kapelle kurz auf
einer Bank ausgeruht habe, folgt wieder Wald.
An einer kleinen Einbuchtung hat irgendein Verein
aus einem der umliegenden Dörfer Blätter „heimischer
Laubbäume“ in einem Glasbehälter ausgelegt und
fordert dazu auf, sich an ihrer Zuordnung zu ver-
suchen.
Ich stelle mich der Herausforderung und erziele ein
niederschmetterndes Ergebnis. Ich erkenne nur sechs
von achtzehn. Jede Ulme kann sich mir gegenüber un-
gestraft für eine Linde ausgeben und umgekehrt.
Da ich ein wenig unter Zeitdruck bin, erhöhe ich nun
mein Tempo deutlich. Ich gehe eine lange, steile Straße
hinab, überquere mal wieder eine Landstraße und darf
dann auf der anderen Seite eine ebenso lange und steile
Straße hinaufgehen.
Die landschaftliche Dörfer-Wiesen-Hügel-Komposition
begleitet mich während der ganzen Zeit.
Jede Landschaft hat ihren eigenen Charakter und als
Wanderer muss man sich darauf einlassen. Ich per-
sönlich brauche kein spektakuläres Panorama, sondern
gebe mich auch mit Wiesen- und Weizenfeldimpressionen
zufrieden.
Es ist inzwischen kurz nach Mittag und ich habe jetzt
doch das Bedürfnis, die Wanderung allmählich zu einem
Ende zu bringen.
Von ferne bietet sich mir noch der Blick auf einen
Aussichtsturm, den ich an einem Tag, an dem ich mehr
Zeit zur Verfügung gehabt hätte, vielleicht sogar noch
angesteuert hätte.
So aber beschließe ich das heutige Kompromissunter-
fangen und kehre auf schnellstem Wege zu meinem Aus-
gangspunkt zurück.
Ein wenig wird sich in Zukunft doch ändern, was die
Konzeption meiner Wanderungen betrifft. Diesen Ent-
schluss habe ich während dieser Tour gefasst. Davon
jedoch mehr beim nächsten Mal.
2 Comments
Ursula Dahinden-Florinett
Die irgendwo im Niemandsland liegende Kapelle, mit ihren Sitzbänken und den wild wuchernden Pflanzen lädt zum Verweilen ein. Ob wohl die Geleise auf deinem Bild eine stillgelegte Strecke ist.
Wieder eine wunderschön beschriebene Wanderung.
gorm
Nein, das ist eine halbstündlich bis stündlich befahrene Nebenstrecke nach Saarbrücken.:-) Vielen Dank für Deinen Kommentar!:-)