TOUR 113/3. & 4. TAG – VON KARLSTADT NACH LOHR
Ab und zu gibt es diese besonderen Anfänge.
Diese ersten Minuten einer Wanderung, in denen der Lauf der Zeit sich zu verlangsamen scheint, in denen der Tag noch beinahe endlos vor uns liegt, weit ausgedehnt wie eine horizontlose Sonnenebene, und sich behutsam so ziemlich alles auflöst, was nicht unmittelbare Gegenwart ist. So lange, bis man ganz allmählich beginnt, die Welt so zu sehen, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen, kein Früher oder Später, sondern nichts anderes als das, was in diesem Moment und an diesem Ort geschieht.
Ungefähr so ein Anfang ist das heute.
Kein Wunder, denn Karlstadt ist an diesem hellen Spätsommermorgen eine Insel der Stille, zumindest wenn man den Bahnsteig mit den immerzu durchbrausenden Güterzügen erst einmal hinter sich gelassen hat.
In den Gassen um den Marktplatz herum und auf dem Marktplatz selbst ist kaum eine Menschenseele unterwegs.
Auf dem kürzesten Wege wandern Jana und ich zum Mainufer. Dort stellt sich alles ziemlich exakt so dar, wie wir es erwartet haben.
Der Fluss ist morgendlich still.
Die Autos auf dem Parkplatz am Ufer machen den Eindruck dekorativer Stilllebenelemente, die schon ewig ungenutzt an ihrem Platz stehen.
Die Stille bleibt uns zunächst erhalten.
Sie ist überall ringsumher.
Über dem Fluss, diesseits und jenseits der Hügel, vor und hinter uns auf dem Asphaltweg, den wir entlanggehen. Sie ist wie aus einer jahrhundertealten Welt entliehen, als es noch keine technischen Geräusche gab.
Wir gehen nicht besonders schnell.
So eine Flusswanderung ist etwas völlig anderes als eine Wanderung über Stock und Stein durchs Gelände, alleine schon deshalb weil es keine pulsbeschleunigenden Anstiege gibt. Und natürlich wegen der ständigen Nähe des Wassers.
Jana ist hier ganz in ihrem Element. Für sie sind Flusswanderungen so etwas wie die höchste Vollendung des Genusswanderns.
An einem Tag wie heute lässt sich das auch sehr leicht nachvollziehen.
Der Morgen ist genauso hell, wie wir gehofft hatten.
Mir wird plötzlich klar, was für eine Vielfalt uns geboten wird, eine Vielfalt der Natur und der Eindrücke.
An beiden Ufern eine Phalanx aus Bäumen, die Hügel dahinter gewölbt wie Schildkrötenpanzer, der Fluss wirkt sanft und ruhig und auch ziemlich breit, beinahe wie ein See. Ein in der Strömung treibendes Holzstück ist im Grunde alles an Bewegung, was erkennbar ist. Das Licht zwischen Fluss und Horizont ist noch ein Licht des frühen Morgens, es ist kühl und blass, das Licht über dem Wasser dagegen ist ein grelles, unbeugsames Sommerlicht.
Wir werden heute mehr als einen Fluss zu Gesicht bekommen, denn das Ziel dieser Etappe ist Gemünden.
Gemünden, die Drei-Flüsse-Stadt.
Neben dem Main gibt es hier auch noch die Fränkische Saale und die Sinn. Die Saale habe ich von meiner Wanderung hier einerseits als etwas düsteren Fluss in Erinnerung, der mit ein paar Mangroven und mit sumpfigem Gelände im Uferbereich problemlos als Dschungelfluss durchgehen würde, andererseits ließen an jenem Tag zumindest zu Beginn die Wolken kaum einen Sonnenstrahl durch, und später, als es dann doch heller wurde, da sah auch der Fluss erheblich freundlicher aus.
Die Sinn schließlich als dritter Fluss, der durch Gemünden fließt, ist kein Nebenfluss des Mains, sondern mündet in die Fränkische Saale.
Die Sinn ist ein Fluss des Spessarts und der Rhön.
Ein schmaler Fluss, eigentlich kaum mehr als ein Bach, im Unterlauf oft zwischen Wiesen eingebettet, manchmal aber auch wie bei Rieneck ein paar Kilometer nördlich von Gemünden durchaus zwischen etwas steilere Böschungen.
Der Name bedeutet „die Fließende“, etwas abstrakter könnte man vielleicht auch „die Gehende“ sagen, was natürlich sehr gut zu unserer Wandertätigkeit passen würde.
Die heutige Etappe ist mehrere Kilometer kürzer als die auch schon recht kurze Tour am Tag zuvor von Veitshöchheim nach Karlstadt. Bis in die Fußgängerzone von Gemünden sind es gerade einmal 14 Kilometer.
Würden wir 14 Kilometer in der benachbarten Rhön oder irgendeinem anderen Mittelgebirge wandern, dann würde sich allein schon aufgrund des Geländes mit all dem zu erwartenden Auf und Ab ein völlig anderer Gehrhythmus ergeben. Es würden wie von selbst Passagen unterschiedlicher Intensität und unterschiedlicher Geschwindigkeiten zustandekommen, während wir bei einer Flusswanderung – wenn wir wollten – mühelos von Anfang bis Ende im selben Tempo unterwegs sein könnten. Wir könnten diese 14 Kilometer, ohne uns anzustrengen, in zweieinhalb Stunden zurücklegen, und dass wir davon nichts hätten, wäre auch falsch, denn immerhin hätten wir gesunde zweieinhalb Stunden an der frischen Luft verbracht.
Aber wer wandert, der möchte etwas sehen, der möchte den Blick schweifen lassen, die Umgebung erkunden, mitbekommen, was rechts und links vom Wegrand zu finden ist, und bis zu einem gewissen Grad möchte er ein Teil dessen sein, was er durchwandert. Nicht zuletzt deshalb gehört zum Wandern auch das Innehalten.
Und bei einer Flusswanderung bedeutet das zum Beispiel: ans Ufer herantreten und beobachten. Oder vielleicht auch einfach nur betrachten. Das, was sich dem Blick bietet, wirken lassen.
Wie an den Tagen zuvor setzt im Laufe des Vormittags die Hitze ein. Die schweren Morgenschatten weichen immer mehr zurück und übrig bleiben meistens nur löchrige Schattenmuster, welche den Asphalt wie ein leichter Flaum bedecken.
Es ist ein wunderbarer Tag.
Die Wege schmiegen sich in die Landschaft hinein wie silberne Fäden.
Oft füllt der Main beinahe unser ganzes Blickfeld aus. Zugleich scheint der Fluss so eine Art Grenze für Geräusche darzustellen, denn von jenseits der gegenüberliegenden Uferlinie dringt kein Ton herüber.
Die Farbe der Wiesen ist zwar nach Wochen fast vollkommener Trockenheit viel näher an Ocker als an Grün, aber selbst das tut der Idylle keinen Abbruch.
Die Gegend ist um einiges einsamer als gestern. Wir bewegen uns im Moment am östlichen Rand des Spessarts, einem Landstrich mit vielen kleinen Dörfern und viel Landschaft dazwischen.
Ein paar Kilometer weiter nordwestlich verlief im Mittelalter über eher flache Hügelkämme hinweg ein Handelsweg von Gemünden nach Zeitlofs an der Sinn, wo er auf eine von Würzburg kommende Handelsroute traf.
Auch über die von hier gar nicht so weit entfernte Bayerische Schanz – ehemals Zollstation zwischen Bayern und Preußen – führte schon vor Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, ein Handelsweg.
Den Main haben die Menschen, die solche Routen in Anspruch nahmen, sicherlich aus einer etwas andereren Perspektive betrachtet, als Jana und ich es heute tun, denn für Reisende im Mittelalter war der Main in erster Linie ein Hindernis, das es zu überwinden galt.
Rast am Wegrand.
Es geht allmählich auf die Mittagszeit zu und wir müssen aufpassen, dass die Radfahrer uns nicht über die Füße fahren, so viele sind mittlerweile wieder unterwegs.
Die Hitze hat sich bis in die Baumschatten vorangekämpft.
Später finden wir ein wunderbares Plätzchen unter den Ästen eines hohen Baumes, wo wir ein paar Meter abseits des Weges sitzen können.
Jetzt, ruhig dahockend, kommt gewissermaßen auch die Landschaft um uns herum zum Stillstand. Solange wir uns in Bewegung befunden haben, veränderte sich auch unsere Umgebung, langsam selbstredend, wie es nun mal so ist, wenn man nicht in einem fahrenden Auto sitzt, sondern zu Fuß unterwegs ist. Nun aber ist es auch mit diesen behutsamen Veränderungen vorüber, es ist, als würden wir einen angehaltenen Film oder eine Fotografie betrachten.
Von irgendwoher fällt ein Geräusch in die Stille, ein paar Sekunden lang, dann ebbt es ab und verliert sich.
Wie an den Tagen vorher hat Jana wieder Wassermelonenstücke gekauft. Zwei ganze Wassermelonen wären für die kleinen Rucksäcke, die wir mithaben, viel zu sperrig, aber diese Melonenstücke sind das Beste, was es an einem heißen Sommertag gibt.
Auf Wernfeld zu, das bereits zu Gemünden gehört, begleiten uns wieder die Bahngeleise. Von Gemünden aus in nördlicher Richtung gibt es immerhin in einigen Spessartdörfern einen Bahnhaltepunkt, was sie gleich um einiges weniger abgelegen erscheinen lässt als die Spessartdörfer ohne Bahnanschluss.
An einem Brückengeländer hängt ein riesiges Schild mit der Information, dass an dieser Stelle der Fluss Wern in den Main mündet. Die Sonne blendet aber so stark, dass wir von der Wern so gut wie nichts sehen, weil alles hinter einem grellen Funkenregen verborgen bleibt.
Die letzten zwei, drei Kilometer bis Gemünden.
Das immer hellere Licht verändert die Landschaft, sie scheint weiter zu werden, sich auszudehnen. Das Nahe rückt weiter weg, das Ferne dafür näher heran. Das schmale graue Band des Asphaltweges zeichnet sich unter dem blauen Himmel bis ganz an den Rand unseres Gesichtsfeldes sehr deutlich ab.
In Gemünden angekommen, unternehmen wir nicht mehr viel.
Wir kaufen uns Nudeln mit Tofu und setzen uns damit in die Nähe des Mainufers.
Auf einen Abstecher hinauf zur Scherenburg verzichten wir, zumal es von unten so aussieht, als werde daran gebaut.
Es genügt uns, was wir im Vorübergehen von der Stadt sehen – die langgezogene Straße durch die Fußgängerzone, ein paar schöne Gebäude, eine Kirche.
Auch diese dritte Etappe hat ihren ganz eigenen Rhythmus und ihre ganz eigenen Bilder hervorgebracht.
Und vermutlich wird das bei der vierten und letzten Etappe genauso sein.
Vierter Tag.
Es ist schade, dass es bereits das Ende und nicht ein Wandertag vor vielen noch bevorstehenden Wandertagen ist.
Für einen Moment, kürzer, als das Zerplatzen eines Regentropfens dauert, schält sich irgendwann während dieser Tour ein ganz bestimmter Gedanke aus dem Nebel vieler anderer Gedanken. Dass es nämlich bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Etappen unserer Flusswanderung eine Sache gibt, die von Anfang bis Ende da war, nämlich die meditative Ruhe des Gehens. Gerade im Kontrast zu den unaufhörlich an uns vorüberrasenden Radfahrerhorden tritt diese Ruhe besonders deutlich hervor, von motorisierten Verkehrsmitteln ganz zu schweigen.
Diesmal hat unsere Tour schon viel von einem Abspann beim Film, auch wenn das vielleicht ein bisschen ungerecht ist, denn es ist eine schöne Wanderung. Es fehlt ihr ein wenig das Faszinierende und das Stille vor allem des zweiten und des dritten Tages, das schon, aber das liegt in erster Linie daran, dass ein großer Teil dieser Etappe durch Stadtstraßen und entlang der Landstraße verläuft.
Wären wir von Gemünden aus Richtung Norden gewandert, tief in den einsamen nördlichen Spessart hinein, wäre das natürlich völlig anders gewesen. Dann wäre es aber keine Flusswanderung mehr gewesen, denn der Main vollzieht hinter Gemünden einen Bogen nach Süden, und diesem folgen wir natürlich.
Es ist ein Morgen, der von der Klarheit des sommerlichen Lichts lebt. Die Hitze staut sich erst ganz allmählich auf, so dass wir wie an den vorhergehenden Tagen eine Stunde und mehr noch halbwegs angenehme Temperaturen genießen können.
Die schönsten Passagen sind die unmittelbar entlang des Mainufers.
Oft scheint das Wasser nur eine Hand breit vom Himmel entfernt zu sein. Die hier und da dicht an den Fluss heranreichenden Hügel erzeugen das eine oder andere Mal den merkwürdig anmutenden Eindruck, man liefe auf eine Schlucht zu.
Hinter Langenprozelten wird die Landschaft allerdings für eine Weile etwas offener und der Weg führt auch ein Stück weg vom Main. Irgendwo hier – aber auf der gegenüberliegenden Flussseite – liegt eine Burgruine, die Ruine Schönrain. Von dort hätte man ohne Frage einen phänomenalen Blick hinab ins Maintal.
Aber weder Jana noch ich verschwenden jetzt noch irgendeinen Gedanken an einen Abstecher.
Der Vormittag kommt und geht und wir nähern uns bereits Lohr, unserem Ziel.
Wir genießen die letzten Kilometer.
Es fällt nicht ins Gewicht, dass der Weg längere Zeit neben oder manchmal auch ein Stück unterhalb der Landstraße verläuft, und dass die Hitze mal wieder Backofentemperaturen erreicht.
Es ist alles gut so, wie es ist.
Der Abschluss.
Zwei lange Kilometer laufen wir durch die Straßen von Lohr bis in die Innenstadt.
Alles, was sich irgendwie nach Wind anfühlen würde, und sei es die schwächste Brise, wäre erwünscht, aber es regt sich kein Lüftchen.
In der Hitze zerbröseln meine Gedanken zu so etwas wie Staub in einem ausgetrockneten Flussbett.
Kein Problem.
Das Schöne, das Jana und ich auf diesen vier Etappen erlebt haben, ist unantastbar.
3 Comments
Dirk
Eine offenbar ja sehr schöne Wanderung in einer schönen Gegend. Danke fürs Teilen.
Dirk
Jana
Vielen Dank, lieber Torsten, dass du mit diesem wie gewohnt wunderbaren Text meine Erinnerungen an unsere herrlichen Tage in Unterfranken aufgefrischt hast. Ich konnte davon profitieren, dass du die Gegend dort sehr gut kennst. So hast du mir u. a. das Käppele in Würzburg und den schönen Rokokogarten in Veitshöchheim gezeigt. Und die von dir ausgewählten Wander-Etappen entlang des Mains waren das Sahnehäubchen!
Liebe Grüße
Jana
Torsten Wirschum
Es waren vier tolle Wandertage, liebe Jana.:-) Ich glaube, dass wir einen der schönsten Mainabschnitte für unsere Touren ausgewählt haben. Die unterfränkischen Kleinstädte plus natürlich WÜ waren eine wunderbare Kulisse, ebenso der Spessart. Obwohl ich die Gegend sehr gut kenne, war ja auch für mich das eine oder andere Neue dabei. Insgesamt haben die vier Tage jedenfalls alles gehalten, was wir uns davon versprochen haben.:-)
Liebe Grüße
Torsten