Wandertouren

TOUR 98 – DURCHS MAUDACHER BRUCH IN LUDWIGSHAFEN

Gehen kann viele Ausprägungen haben.
Wahrscheinlich unzählige, wenn man jeden Aspekt berücksichtigen und jeden Lebensbereich einbeziehen würde von dem Moment an, als das erste Wort in der Welt war, das Gehen bedeutete.
Aber selbst wenn man sich lediglich auf die Gegenwart beschränkt, bleiben immer noch mehr als genug Variationen übrig.

Gehen kann bedeuten, in mörderischem Tempo, ohne links und rechts zu schauen, durchs Gelände zu marschieren, genauso gut aber kann man so langsam vor sich hinschlendern, dass man kaum von der Stelle kommt. Oft ist es nichts weiter als eine simple, zielgerichtete Tätigkeit, nur dazu gedacht, von einem Punkt A zu einem Punkt B zu gelangen, ebenso jedoch ist denkbar, dass es zu einem ziellosen Umherschweifen wird, es kann auch erst das eine, dann das andere sein, und bei Spaziergängen wie auch bei den meisten Wanderungen ergibt sich die bemerkenswerte Konstellation, dass man viele Kilometer weit läuft, nur um wieder dorthin zurückzukehren, von wo man losgegangen ist.

Gerade bei Wanderungen ist das Gehen damit teilweise zum Selbstzweck geworden, es braucht oft gar kein übergeordnetes Ziel mehr, sondern nur einen landschaftlichen oder urbanen Rahmen, in dem es stattfindet.

Der Rahmen, den Jana und ich uns für die heutige Wanderung auserkoren haben, ist ein Landschaftsschutzgebiet am westlichen Stadtrand von Ludwigshafen, nämlich das Maudacher Bruch.
Ein Bruch ist Sumpfland.
Eine Landschaft, die vom Wasser geschaffen wurde, vom Rhythmus des Wassers.
Vom permanent vorhandenen, aber kaum steigenden oder fallenden Grundwasser sowie von wochenlangen Überschwemmungen.

Die Geschichte der Bruchlandschaften in Deutschland, aber auch in anderen Teilen Europas, ähnelt sich in vielerlei Hinsicht.
Einst waren es urwüchsige, unzugängliche, unheimlich anmutende Gebiete, aber irgendwann kam unausweichlich der Zeitpunkt, an dem mit der Trockenlegung und der Urbarmachung bzw. Besiedlung begonnen wurde.

Über Jahrhunderte, eher sogar über Jahrtausende hinweg, waren es auch Torfabbaugebiete, denn Torf war gutes Brennmaterial und um bis ins 18. Jahrhundert hinein irgendeine – sei es auch noch so geringfügige – Maßnahme zu finden, die man im weitesten Sinne als Schutz oder als Versuch der Erhaltung von Bruchwäldern oder Mooren oder dergleichen bezeichnen könnte, muss man schon viel guten Willen an den Tag legen.

Das Maudacher Bruch ist gut 500 Hektar groß.
Es gibt zwar zahlreiche Wege, aber die verlaufen nicht etwa kreuz und quer mitten hindurch, sondern am Rande des Bruchs und außerhalb um das Bruch herum.
Aus der Vogelperspektive sieht das Bruch aus wie ein vom Himmel gefallenes Hufeisen. Ringsherum parzellierte Felder und Wiesen und durch Straßen zugleich voneinander getrennte wie miteinander verbundene Wohnblöcke der Ludwigshafener Stadtteile Maudach und Oggersheim.

Unser Startpunkt ist denn auch der Bahnsteig in Oggersheim, einen knappen Kilometer vom Bruch entfernt.
Es ist Frühling, endlich.
Was die Farben angeht, noch ein ziemlich zaghafter Frühling.
Ein paar Schlehenbüsche blühen, hier und da leuchtet ein Ginsterstrauch hinter blassem Heckengrün hervor, viel mehr ist da nicht.
Die Temperaturen sind allerdings beinahe sogar schon sommerlich.
Irgendwann am Nachmittag werden es 24 Grad sein, die sich nach den vielen kalten Tagen und Wochen anfühlen wie ein Sonnenbad an einem Mittelmeerstrand.
Man verliert sich allerdings noch nicht in jener hochsommerlichen, unnachgiebigen Helligkeit, die alles umfasst und nirgends auch nur die kleinste Eintrübung erfährt.

Wir sind hier dem Stadtrand um einiges näher als der Innenstadt und laufen durch verhältnismäßig leere Straßen.
In nicht allzu weiter Entfernung entdecken wir die Türme zweier Kirchen, der evangelischen Markuskirche und der katholischen Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt. Wir werden sie im Laufe unserer Wanderung von mehreren Stellen aus sehen, so dass wir immer wieder einen Anhaltspunkt haben, in welcher Richtung wir uns beim Rückweg orientieren müssen.

Im Stadtpark Oggersheim angekommen, legen wir gleich eine erste Pause ein.
Städtische Maßstäbe angelegt, ist es still wie auf einem Atoll in der Südsee.
Es riecht nach Frühling, nach Wärme, nach Erwachen der Natur.
Über den Himmel ziehen seidenpapierdünne Wolken.
Das alles ist so weit von Winter entfernt, als würden die Tage des Schnees nicht gerade einmal drei Tage, sondern eher drei Lebensalter zurückzuliegen.
Keine Spur mehr von beinahe arktischen Temperaturen, keine Spur von schwarzen oder grauen Wolkenfetzen an einem niedrigen Himmel, von dieser stetig gleichen, unabänderlichen Farblosigkeit, von diesem Horizont, der irgendwie gar keiner ist, weil man sich darunter etwas weit Entferntes vorstellt und nicht etwas, das nur wenige Schritte weit weg schon nicht mehr von dem ohnehin allgegenwärtigen bleichen Wintergrau zu unterscheiden ist.

Jana und ich rätseln zunächst ein wenig herum, wo die Rundwege überhaupt verlaufen. Hundert Meter vom Stadtpark weg entdecken wir am Wegrand jedoch eine Wanderkarte, auf der die beiden Hauptwege einigermaßen anschaulich dargestellt sind.
Von den jeweiligen Symbolen – einem blauen und einem roten Balken – werden wir später allerdings nicht mehr allzu viel zu Gesicht bekommen, aber wenigstens haben wir den Einstieg gefunden.

Es ist von Beginn an eine von den mühelos zu bewältigenden Wegen und dem schönen Wetter gekennzeichnete Wanderung.
Ziemlich rasch befinden wir uns inmitten von Feldern und Äckern, unmittelbar am Wegrand zieht sich ein knochentrockener Graben entlang, die ganze Umgebung ist flach wie eine norddeutsche Küstenlandschaft.
Die Wege sind zunächst breit wie Flussarme, aber binnen weniger Minuten ändert sich das und sie sind plötzlich so schmal, dass wir immer wieder hintereinander gehen müssen, um Radfahrer vorüberzulassen.

Wir bewegen uns kaum schneller als im Spaziertempo voran, bemühen uns, möglichst viel von dem, was um uns herum zu sehen und zu hören ist, mitzubekommen, und seien es vermeintliche Kleinigkeiten.
Das Rauschen des Verkehrs von der nahen Autobahn ist unüberhörbar, aber es stört uns nicht.
Natürlich befinden wir uns hier nicht in einer abgeschiedenen Einöde, in der jedes noch so winzige Geräusch alles in Aufruhr versetzt, und wir sind auch nicht im Frühmittelalter, als das hier noch unbegehbares Sumpfland gewesen ist oder gar in der Bronzezeit, als der Altrheinarm noch existierte, aus dem das Bruch entstanden ist.
Das ist eine stadtnahe oder eher sogar innerstädtische Wanderung im 21. Jahrhundert, und wenn wir hier vollkommene Stille und Abgeschiedenheit erwarten würden, dann hätten wir uns die falsche Zeit und den falschen Ort ausgesucht.

Ich denke, man sollte sich beim Unterwegssein ohnehin von dem Gedanken verabschieden, überall und immer eine Spiegelwelt der eigenen Wünsche vorfinden zu wollen. Gelegentlich mag das ganz angenehm sein, aber auf Sicht beraubt man sich dadurch selbst wesentlicher Erfahrungen und vor allem rennt man mit einer permanenten Unzufriedenheit durch die Gegend, falls die Dinge sich nicht so gestalten wie vorher erhofft.

Der Weg wird noch etwas schmaler.
In der Frühlingssonne glänzt er silbrig-grau wie ein Flusslauf im Mondlicht.
Er ist wie geschaffen dafür, viele Kilometer weit ohne Unterbrechung zu gehen, und wir können jedes Tempo vorlegen, nach dem uns gerade der Sinn steht. Wir können stundenlang zwischen den Äckern hindurchschlendern, ohne auch nur einen einzigen schnelleren Schritt zu tun, wenn wir wollen, es bedeutet aber auch keine große Anstrengung, in einen leichten Trab zu fallen, wenn uns danach ist.

Es wird immer wärmer.
Der Horizont ist glatt wie eine polierte Fensterscheibe.
An einer Stelle zweigt rechts eine breite Straße aus Natursteinpflaster ab, die aussieht wie ein Überbleibsel aus den Anfängen des befestigten Straßenbaus im 18. Jahrhundert.
Wir laufen unter einer Autobahn hindurch und ein Augenblinzeln später befinden wir uns im Wald.

Von dem roten Balken, an dem wir uns ursprünglich zu orientieren gedachten, ist nirgends eine Spur zu finden. Wir ändern ein paarmal die Richtung, laufen ein Stück am Waldrand entlang, und während die Sonne immer höher steigt und auch zwischen den Bäumen die Schatten sich allmählich aufzulösen beginnen, stellen wir plötzlich fest, dass es gar nicht besonders wichtig ist, ob wir nun wirklich zentimetergenau dem Weg mit dem roten Balken folgen. Verlaufen können wir uns hier ohnehin nicht wirklich, denn von praktisch jedem Punkt aus und in jeder Richtung wären wir in Windeseile in irgendeinem Ludwigshafener Wohngebiet.

Jana, die sich wie üblich besser als ich auf die Wanderung vorbereitet hat, kündigt an, dass wir demnächst den Michaelsberg erreichen müssten, eine 125 Meter hohe, begrünte ehemalige Schutthalde.
125 Meter in ansonsten völlig flachem Gelände, das verspricht einen schönen Rundumblick.

Die Wege werden jetzt immer belebter.
Beinahe könnte man meinen, alles, was im Umkreis von zehn Kilometern Beine hat, habe sich auf den Weg hierher gemacht. Bei genauerem Hinsehen sind es aber eigentlich gar nicht so viele Menschen, sie ballen sich nur auf den Pfaden um den Michaelsberg und den benachbarten Jägerweiher herum. Außerdem bekommen wir etliche im Kreis laufende Jogger mehrmals zu Gesicht.

Die Aussicht vom Michaelsberg ist ungefähr so, wie wir sie uns vorgestellt haben.
Die helle Mittagssonne verleiht der Landschaft eine beinahe ozeanhafte Weite.
Völlig egal, dass man auf allen Seiten Hochhäuser sieht, die urbane Umgebung tut der Szenerie keinen Abbruch.
Es hat in den letzten Wochen genug Tage gegeben, an denen der morgens vorhandene Frühlingsfunke allzu rasch erlosch und dann doch noch graue Tristesse Einzug hielt.
Heute ist das anders, ganz anders.

Vom Michaelsberg aus gut zu erkennen ist auch unser nächstes Ziel, der Jägerweiher.
Links daneben sichten wir einen zweiten, kleineren Weiher, bei dem sich aber herausstellen wird, dass der Zugang verboten ist.
Wir steigen einen steilen Pfad hinab und folgen einem der Wege, die von oben wie schmale, zwischen den Äckern ausgerollte Schnüre ausgesehen haben.

Der Jägerweiher ist ein besonderer Ort, ein schöner Ort.
Man kann an manchen Stellen ganz nahe ans Ufer herantreten, und obwohl man nur ein paar Schritte vom Weg entfernt ist, wirkt alles plötzlich ganz anders.
Der Himmel ist weiter entfernt, so empfindet man es jedenfalls, der Weiher dagegen erscheint größer.
Die Wasserfläche ist völlig unbewegt, windlos still.
Die Wolken scheinen in den See hinabgesunken zu sein.

Wir wandern ganz um den Weiher herum.
Verborgen hinter hohem Ufergras entdecken wir zwei vertäute Boote aus Urgroßvaters Zeiten.
Ich glaube, spätestens das ist der Punkt, von dem an nichts mehr diese Wanderung zugrunde richten kann.
Selbst wenn in der nächsten Sekunde Heuschrecken vom Himmel fallen oder Hagelkörner in Medizinballgröße auf uns niederprasseln würden.
Es ist auch müßig, darüber nachzudenken, ob das wieder einmal eines jener Erlebnisse ist, in denen das vermeintlich Unscheinbare zum Abenteuer wird.
Diese beiden alten Kähne am Ufer des Jägerweihers sind heute das i-Tüpfelchen und werden uns wohl noch im Gedächtnis sein, wenn über alle anderen Erinnerungen an diese Tour schon Moos gewachsen sein wird wie über einen verwitterten Grabstein.

Es gibt noch einen weiteren Weiher im Maudacher Bruch, den Holz’schen Weiher.
Mit seinen sandigen, steilen Ufern sieht er zwar ein wenig aus wie eine mit Wasser gefüllte Kiesgrube, aber auf den zweiten Blick ist er beinahe sogar noch idyllischer als der Jägerweiher, alleine schon deshalb, weil es hier viel weniger Spaziergänger und Jogger gibt.
Das Wasser in Ufernähe ist klar wie das einer von Menschen vergessenen Lagune.
Das Blau des Weihers ist eine Spur tiefer als das Blau des Himmels.
Es ist so ein Ort, von dem man denkt, hierher kommen wir bestimmt irgendwann einmal wieder zurück.
Und allein dieser Gedanke – obwohl man ihn vielleicht niemals in die Tat umsetzen wird – ist im Grunde bereits so etwas wie eine Form von Glück.

Danach wandern wir in aller Gemächlichkeit über breite, übersichtliche Wege, um uns herum Äcker, Wiesen und viel Luft, der Himmel beinahe sommerlich, dabei ist der Frühling trotz der Wärme noch immer mehr Ahnung als Realität.
In nicht allzu weiter Entfernung erkennen wir schon die zu Beginn erwähnte Wallfahrtskirche Oggersheim, die ja nur ein paar hundert Meter vom Stadtpark entfernt liegt.

Die Kirche war bei der ab 1801 durchgeführten und mehrere Jahrzehnte andauernden Landesvermessung des Königreichs Bayern der nördliche Bezugspunkt der rhein-bayerischen Verbindungslinie von Oggersheim nach Speyer.
Der schwer zu übersehende Vermessungsstein am Wegrand, an dem wir vorüberlaufen, gibt die Entfernung zwischen der Wallfahrtskirche und dem Dom in Speyer mit rund 6782 Ruthen an, was knapp 20 Kilometern entspricht, rund drei Kilometer weniger, als Online-Kartendienste heutzutage für die Strecke errechnen.

Kurz darauf sind wir zurück im Stadtpark.
Irgendwie war für uns beide die Wanderung heute nahe an perfekt.
Nicht alles, nicht jeder Augenblick, aber viele einzelne Momente.
Ich glaube, darauf läuft ohnehin manches im Leben hinaus – auf möglichst viele gute Momente und auf das Erkennen und Nutzen solcher Momente.

Es ist noch ein wenig wärmer geworden, aber die Sonne brennt nicht wie im Hochsommer.
Der Tag ist hell, aber nicht so gleißend hell, dass man in den Schatten flüchtet.
Es ist genau die Art von noch jungem Frühling, an die man sich gewöhnen könnte.

3 Comments

  • Roxanne

    Wieder ein sehr gut abgestimmter Text. Die gewohnte und gelungene Mischung aus literarischen und informellen Abschnitten, sehr schön.

    Roxanne

  • Jana

    Und wieder mal wird mir bewusst, in was für einer schönen Gegend wir doch wohnen! Wir haben so viele Möglichkeiten zum Wandern und entdecken immer wieder Neues – das Maudacher Bruch ist das aktuellste Beispiel dafür. Von solchen wunderbaren Touren zehre ich immer sehr lange, dir geht es sicher auch so.
    Erneut ein sehr gelungener Text, lieber Torsten!

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Von Ludwigshafen hört man ja sehr oft, was für eine hässliche Stadt das doch sei – aber dass es dort gar keine schönen Stellen gäbe, kann man wirklich nicht behaupten. Parkinsel und Rheinufer (samt Pegeluhr) sowie das Maudacher Bruch sind jedenfalls immer einen Abstecher wert. Bei unserer Wanderung hatten wir natürlich auch Glück, dass es so ziemlich der erste warme Tag seit Wochen war.:-) Und natürlich zehre auch ich von solchen Touren, liebe Jana.

      Liebe Grüße
      Torsten

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