Wandertouren

TOUR 79 – SCHRIESHEIM – SCHAUENBURG – SCHRIESHEIM

Es muss so eine Art Bestimmung sein.
Das Gehen, meine ich.
Etwas, das wie eine phönizische Amphore oder ein keltischer Armreif lange Zeit irgendwo vergraben liegt, irgendwann aber gefunden wird, und von da an weiß man um sein Vorhandensein und es wird nach und nach so selbstverständlich, als wäre es immer schon da gewesen.
Vielleicht ist es auch in den Genen zahlloser Ahnen angelegt und wurde über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg weitergetragen wie eine Fackel, die mit jedem Mal heller brennt, keine Ahnung.

Jedenfalls ist da irgendetwas, das manche dazu bringt, Tag für Tag lange Strecken zu Fuß zurückzulegen und oft Dutzende von Kilometern immer einen Schritt vor den nächsten zu setzen, manchmal sogar scheinbar ziellos, von einem geheimnisvollen Ansporn dazu gebracht, aber keineswegs rastlos, keineswegs von innerer Unruhe erfasst.

Ich selbst gehe in erster Linie um des Gehens willen. Ich bin weder auf der Suche nach irgendeiner Art von innerem Wandel noch will ich Wanderstempel anhäufen noch habe ich den Ehrgeiz, möglichst weite Strecken in möglichst kurzer Zeit zurückzulegen.
Wenn ich etwas durch das Gehen gelernt habe in all diesen Jahren, in einem gewissen Maß zumindest, dann ist es das Geschehenlassen. Ich bin nicht mehr dort, wo ich am Anfang meiner Wanderungen war, in vielerlei Hinsicht nicht. Aber so viel habe ich gar nicht dafür tun müssen, außer eben – zu gehen.

Auch heute bin ich mit Jana unterwegs.
Wieder einmal haben wir uns eine Strecke ausgesucht, die nicht besonders lang ist – pi mal Daumen 12 Kilometer -, die aber dennoch einiges verspricht.
Ein Blick zum Himmel offenbart, dass kaum unangenehme Überraschungen zu erwarten sind. Es ist nicht gerade so hell, dass man Angst haben müsste, sich in der gleißenden Helligkeit aufzulösen, aber von düster kann auch keine Rede sein.
Ein paar einzelne Wolken treiben am Himmel, im Hintergrund ein etwas dunkleres Wolkenriff, aber die vorherrschende Farbe ist Blau.

Als Ausgangspunkt unserer Wanderung haben wir die Straßenbahnhaltestelle Schriesheim Süd auserkoren.
Jana hat einen Wanderführer dabei, der schon ein paar Jährchen auf dem Buckel hat, was sich später auch nachteilig bemerkbar machen wird, wobei das allerdings nicht mehr als eine Fußnote bleibt.

Von Schriesheim prägt sich mir im Grunde vor allem der Blick aus den Weinbergen über die Dächer der Stadt ein, der fast sommerliche Himmel, das ruhige Weiß, das ruhige Blau, es könnte auch ein Foto sein, das wir betrachten, denn es gibt nirgends Bewegung.
Von hier oben kann man so gut wie keine Straßen erkennen, nur Haus an Haus, ein rotes Giebeldach neben dem anderen, aber das spielt kaum eine Rolle, denn das Auge bleibt ohnehin an den leuchtend weißen Türmen zweier Kirchen hängen, die weit über die Dächer hinausragen.
Wenn sich der Blick aber doch einmal davon löst, ergibt sich eine Ahnung von Weite. Man schaut über die Ebene hinweg wie über ein Meer.

Wir wandern in die Weinberge hinein.
Die Ruine der Strahlenburg unmittelbar oberhalb von Schriesheim nehmen wir buchstäblich nur im Vorbeigehen wahr.
Es sind die Wege, die unsere Aufmerksamkeit fesseln.
Einer führt den Hügel hinauf und irgendwo oben zwischen fast schwarze Bäume hinein.
Der Weg, den wir wählen, bleibt erst einmal deutlich unterhalb des Hügelkammes. In Wellen und Spiralen führt er einfach mitten durch die Weinberge.

Es ist etwas Anachronistisches an diesen Wegen, vielleicht auch etwas Zeitloses.
Man könnte sich beinahe in Zeiten zurückversetzt fühlen, als es für viele Menschen normal war, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen.
Allerdings blieb den Menschen früherer Jahrhunderte oft kaum etwas anderes übrig, als sich zu Fuß fortzubewegen, während wir beide das freiwillig tun. Einen fundamentaleren Unterschied kann es eigentlich kaum geben.
Das Gehen unserer Vorfahren – von Ausnahmen abgesehen – beruhte auf Notwendigkeit, es gab mangels Alternativen schlicht keine andere Möglichkeit. Freiwillig umherzuwandern wäre den meisten wohl kaum in den Sinn gekommen.

Vielleicht wäre es Jana und mir in früheren Zeiten so ergangen wie dem deutschen Schriftsteller Karl Philipp Moritz 1782 bei seinen Fußreisen durchs südliche England:
„Jetzt, lieber Freund, da ich von hier an Sie schreibe, habe ich schon so manches Ungemach als Fußgänger erfahren, daß ich beinahe unschlüssig bin, ob ich meine Reise so fortsetzen soll oder nicht. Ein Fußgänger scheint hier ein Wundertier zu sein, das von jedermann, der ihm begegnet, angestaunt, bedauert, in Verdacht gehalten und geflohen wird, wenigstens ist es mir auf meinem Wege von Richmond nach Windsor so gegangen.“

Es ist früher Nachmittag.
Die Wolkenbänke sind eine Winzigkeit dunkler geworden.
Das Licht über den Dächern und über der Landschaft ist uneinheitlich. Je weiter dem Horizont zu, desto schwächer ist es.
In den Mulden, dort, wo der Himmel sich nur wenige Zentimeter über dem Scheitelpunkt des Weges zu befinden scheint, wirkt das vom Wolkenweiß eingerahmte Blau sehr hell, die dunkleren Bereiche sehen aus wie kleine Strudel in einem schnell dahinströmenden Fluss.

Der Weg ist ein typischer Weinbergweg: Krümmungen, Senken, Kuppen, mal driftet er nach rechts ab wie vom Wind zur Seite gedrückt, mal sieht er aus wie eine in der Bewegung erstarrte Riesenwelle.
Wir wandern über eine Kuppe hinweg.
Irgendwo in dem Weinberg, an dem wir gerade vorbeilaufen, entdeckt Jana ein altes, von zwei Bäumen beschattetes Weinberghäuschen.
Die meisten dieser Häuschen werden heutzutage vermutlich lediglich noch zur Aufbewahrung von Gerätschaften und vielleicht noch als Zufluchtsort bei Unwettern genutzt, aber dieses hier hat etwas von einem überdimensionierten Schmuckkästchen.

Die nächste Kuppe.
Dahinter verändert sich das Erscheinungsbild des Pfades merklich.
Kein Asphalt mehr, sondern weiche Erde und von Zeit zu Zeit einige Grasbüschel. Überall Gestrüpp, ein paar nackte Bäume und Hecken, dazwischen ein bisschen Grün.

Später dann doch wieder Weinberge, aber im Wechsel mit schmalen, verschlungenen Wegen, ab und zu ein paar alte, von irgendwas irgendwie zusammengehaltene Mauern am Wegrand, hier und da blüht es gelb, plötzlich sogar richtige Felsen, von einem Moosflaum bedeckt.

Die Sonne hat sich hinter die Wolken verzogen. Es ist aber weder diesig noch grau.
Hinter einer Kurve öffnet sich der Blick mit einem Mal wieder.
Von nun an ähnelt der Weg für eine Weile dem zu Beginn, nur dass wir jetzt nicht mehr oberhalb von Schriesheim durch die Weinberge wandern, sondern oberhalb von Dossenheim.

In Janas Wanderführer steht etwas von einem blauen B, nach dem wir uns richten sollen, aber davon ist nirgends eine Spur zu entdecken.
Auf jeden Fall müssen wir irgendwo am Rande von Dossenheim in den Wald abbiegen und genau das tun wir auch.

Sofort wird es ein paar Nuancen dunkler.
In trägen, weiten Kurven windet der Pfad sich den Hügel hinauf.
Der Strom der Spaziergänger, dem wir in den Weinbergen begegnet sind, reißt mit einem Mal ab.
Aus irgendeinem Grund hat sich bei mir auf den ersten Kilometern hartnäckig der Gedanke festgesetzt, dass wir heute im Großen und Ganzen nichts anderes zu sehen bekommen werden als Weinberge und noch einmal Weinberge, aber spätestens jetzt kann ich mich von diesem Irrtum verabschieden.

Wenn wir auf dem richtigen Weg sind, dann müssten wir uns allmählich der Schauenburg nähern, der Ruine einer vor rund 900 Jahren errichteten Spornburg. Eine Burg – am besten noch eine, von der aus man weit ins Land schauen kann – wäre eine willkommene Abwechslung. Eigentlich müsste sie sich bald auf der Bergkuppe links von uns zeigen.

Die Burg lässt jedoch auf sich warten, dafür befinden wir uns plötzlich unterhalb eines Steinbruchs, der im ersten Moment in dem grauen Januarwald fast geisterhaft wirkt.
Schon von Schriesheim aus waren die kahlen Flächen unübersehbar, sie sahen aus wie offene Wunden des Waldes.
Schön anzusehen ist der Steinbruch wirklich nicht, aber er hat eine Geschichte, wie sie vermutlich nicht viele Steinbrüche aufweisen können.
Genau hier wurden nämlich vor mehr als 100 Jahren viele Außenszenen der ersten deutschen Western gedreht, zum Beispiel von „Bull Arizona, der Wüstenadler“, in dem die Akteure mit den üblichen theatralischen Gesten der Stummfilmzeit agieren, zumindest den gut fünf Minuten nach zu urteilen, die von dem Film noch erhalten sind.

Erfolgreich waren Werke dieser Art damals nur bedingt, was wohl weniger an mangelndem Interesse des Publikums lag, als vielmehr an der restriktiven Zensurpolitik der Filmprüfstellen des Deutschen Reiches, die schnell bei der Hand waren, etwas in die Kategorie „Schund und Schmutz“ einzuordnen.

Wir wandern immer weiter den Hügel hinauf.
Der Pfad zieht sich in die Länge wie ein Gummiseil.
Endlich zweigt links ein schmaler, etwas steilerer Saum zur Schauenburg ab und für ein paar Augenblicke fühlen wir uns beinahe an einen Vorfrühlingswald erinnert. Leicht und hell strömt der Himmel über die Baumspitzen hin, auch von den Seiten fällt Licht ein wie durch große Fenster. Selbst in den dunkelsten Winkeln des Waldes ist eine Ahnung von irgendetwas Hellem existent. Nur das alte, trockene Laub auf den Böschungen erinnert weniger an Frühling als an Spätherbst.

Von einer Sekunde auf die andere kommt Wind auf.
Ein richtig kräftiger und nicht gerade warmer Wind, der oben auf dem Burgplateau noch stärker wird.
Aus der Vogelperspektive würde die Burg vermutlich wie ein beinahe geschlossener Ring aussehen. Teile der Umfassungsmauern sind noch erhalten, ebenso die Grundmauern einiger Gebäude.

Wir laufen an der neu gebauten Brücke über den Halsgraben vorüber, um die halbe Burg herum und dann durch eine breite Mauerlücke zum Bergfried hinauf.
In der nächsten halben Stunde bleiben wir hier oben.
Wir könnten auch eine volle Stunde oder zwei Stunden bleiben, die Zeit würde uns trotzdem nicht zu lang werden.

Die Landschaft wirkt sehr flach unter dem tiefen Himmel. Es scheint gar keine richtige Trennlinie zwischen beidem zu geben. Dem Horizont zu nimmt der Himmel immer mehr Raum ein, und je länger man hinschaut, desto riesiger wirkt er.
Unmittelbar unter uns die Häuser von Dossenheim, etwas weiter entfernt Heidelberg samt Hinterland.

Wir kehren in den Wald zurück.
Der Pfad führt wieder bergan, wie gehabt in weiten, stetig aufeinanderfolgenden Kurven.
Die Abzweigungen und Wegkreuzungen häufen sich.
Es fühlt sich an, als entfernten wir uns jetzt zusehends von bewohnten Orten. Wahrscheinlich marschieren wir gerade mitten in den südlichen Odenwald hinein.
Es wird immer stiller.
Der Wind bringt einen Anflug winterlicher Kälte mit sich. Das Licht über den Baumwipfeln schwächt sich ab. Wenn es ein dichter Wald wäre, dann würde jetzt wahrscheinlich schon beinahe abendliche Dunkelheit herrschen.

Die Wege, auf denen wir wandern, sehen alle gleich aus – breite Trassen, die leicht bergan verlaufen, rechts und links Streichholzbäume, ab und zu ein faseriges Grün dazwischen.
Wenn man vom Wind absieht, ist es still wie auf dem Grund eines Ozeans.

Eigentlich ist es ein sehr schönes Wandern, nur dass wir keinen Anhaltspunkt mehr haben, wo genau wir uns befinden und welche Richtung wir überhaupt einschlagen.
Der Wanderführer ist mittlerweile eher verwirrend als hilfreich, so dass wir davon absehen, ihn noch zu Rate zu ziehen.
Ursprünglich hatten wir vor, von der Schauenburg aus einen großen Bogen zu schlagen und dann noch zur Grube Anna-Elisabeth zu wandern, einem ungefähr 700 Jahre alten Silberbergwerk, aber dieses Vorhaben können wir zu den Akten legen.

An der zwölften oder ich weiß nicht wievielten Wegkreuzung des Tages biegen wir im rechten Winkel ab und von nun an hat die Tour eher das Flair eines kleinen Erkundungsspaziergangs am Samstagnachmittag.
Statt ins Tal traben wir aber erst noch ein Stück weiter bergauf.
Egal, auf jeden Fall bewegen wir uns jetzt wieder auf Schriesheim zu,

Von einer Startrampe für Drachenflieger aus bietet sich uns dann noch einmal ein Fernblick bis zu einem weit entfernten Horizont.
Der Himmel wirkt immer noch sehr weit, die Ebene ist in erstaunlich helles Licht getaucht.
Irgendwo in der Luft zwei Drachenflieger, winzige Punkte im Nichts.

Es tut gut, hier zu stehen und den Wind auf dem Gesicht zu spüren, es tut gut, in diese Weite hinauszuschauen und sich beinahe als Teil davon zu fühlen, es ist fast, als wäre man nur einen Schritt davon entfernt, durch die Luft marschieren zu können.
Die Startrampe mutet allerdings schon etwas halsbrecherisch an. Unmittelbar hinter der Hangkante geht es nahezu lotrecht nach unten. Sieht für mich so aus, als sollte man hier beim Start besser keine falsche Entscheidung treffen.

Wir machen uns endgültig auf den Weg zurück nach Schriesheim.
Für mich war die Schauenburg der Höhepunkt der heutigen Wanderung, für Jana war es irgendwie das Zusammenspiel von allem.

Als wir die Strahlenburg erreichen, ist es später Nachmittag.
Wieder dieser Blick auf die Häuserdächer und die beiden auffälligen Kirchtürme. Alles sieht schön sortiert aus, als hätte jemand für jedes einzelne Gebäude genau den richtigen Platz gefunden.
Gemächlich traben wir von der Burg wieder in die Stadt hinunter.

5 Comments

  • Asgardloki

    „Moritz ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin.“
    Dieses Goethe-Zitat über Moritz habe ich gefunden.
    Gaaaaaanz dunkel erinnere ich mich, mal Teile von Anton Reiser gelesen zu haben. Eher einer der heute Vergessenen.
    Das Zitat im Text ist wahrscheinlich bezeichnend für die damalige Zeit. Außerhalb Deutschlands wurde eben so gut wie nicht gewandert.

    A. Schellenbrock

    • gorm

      Es wäre in diesem Zusammenhang sicher interessant, tiefer in die Geschichte des Gehens und des Wanderns einzutauchen. Mal sehen, ob ich das in den nächsten Texten weiterverfolge.
      Danke für den Kommentar.:-)

  • Jana

    Obwohl wir nicht die geplante Route gingen (habe jetzt einen aktuellen Wanderführer!), hat mir die Wanderung wieder gut gefallen. Die Fernblicke waren wunderbar, die genießen wir beide ja immer sehr auf unseren gemeinsamen Wanderungen. Ein paar Highlights hatten wir ja auch mit der Schauenburg und der Strahlenburg. Und an so einer Startrampe für Drachenflieger habe ich auch noch nie gestanden. Mutig, sich dort hinabgleiten zu lassen!
    Es war sehr schön, mich an die Tour beim Lesen deines wieder sehr gelungenen Textes noch mal zu erinnern, lieber Torsten.
    Unsere nächste Wanderung folgt in Kürze – ein neues Wandergebiet für uns! Ich bin gespannt und freue mich schon sehr.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Hallo, liebe Jana.:-)
      Letztlich hat die Wanderung das gebracht, was man vorher davon erwarten konnte – Weinberge, Fernblicke, ein bisschen Wald und dann eben noch die beiden Burgen. Nicht zu vergessen, dass es sich teilweise um ein Naturschutzgebiet handelt. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass eine Wanderung nicht wahnsinnig lang sein muss, um viel Abwechslung zu bieten.
      Am Wochenende schauen wir uns jetzt mal an, was die Schwäbische Alb zu bieten hat.:-) Meine Kenntnisse über diese Gegend beschränken sich im Großen und Ganzen auf ein paar Dokus und die Erzählungen von Freunden. Mal sehen, was uns erwartet.:-)

      Liebe Grüße für dich
      Torsten

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