Wandertouren

TOUR 95 – VON NECKARSTEINACH NACH HIRSCHHORN

Wir haben es uns deutlich schlimmer vorgestellt.
In den Meldungen der Wetterapps vom frühen Morgen war die Rede von stundenlangem Schneeregen, von starkem Wind und von Temperaturen, die erwarten ließen, dass wir uns zudem auch noch mit eisglatten Wegen abfinden müssten. Nach dem nahen Weltuntergang hörten die Vorhersagen sich zwar nicht an, fast noch weniger aber nach rundum angenehmen Begleitumständen für eine Wanderung. Ich glaube, ich rechnete damit, dass es von Beginn an eine ziemlich trostlose Angelegenheit werden würde.

Stattdessen aber passiert etwas völlig anderes.
Schon die ersten Augenblicke auf dem Bahnsteig in Neckarsteinach sind alles, nur nicht trostlos.
Es ist völlig windstill.
Von wegen stürmische Böen.
Auf den Gleisen eine dünne Schneeschicht, die aussieht wie Puderzucker.
Es schneit leichte, nasse Flocken, die wohl nicht liegenbleiben werden und die nicht einmal ansatzweise so unangenehm sind, wie Dauerregen es wäre.
Der Himmel zeigt dieses typische helle Wintergrau, das man auch für ein dunkles Weiß halten könnte und das so unauflösbar erscheint, als würde es seit Jahren andauern und noch Jahre fortbestehen.
Aber es ist eben ein helles Grau, zusätzlich auch noch abgemildert durch das Weiß überall auf den Straßen und auf den Dächern der Häuser.
Abgesehen davon – da wir nun schon einmal vorhaben zu wandern, ist es das Beste, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind.

Ich bin wieder einmal mit Jana unterwegs.
Vor drei Jahren, an einem regnerischen Tag im Februar, sind wir schon einmal von Neckarsteinach nach Hirschhorn gewandert. Damals war vom Winter schon nichts mehr übrig, es herrschte eher richtig lausiges Novemberwetter. In Neckarsteinach war der Neckar über die Ufer getreten und braunes, schmutziges Flusswasser schwappte in die ufernahen Straßen. Das haben wir heute zum Glück nicht zu befürchten.

Neckarsteinach liegt in Hessen. Genau genommen befindet sich hier sogar der südlichste Punkt Hessens.
Die Grenze zu Baden-Württemberg verläuft durch den Neckar, was bedeutet, dass wir mitten auf der Schleusenbrücke von einem Bundesland ins andere wechseln. Später zieht sich die Grenze zwischen beiden Bundesländern zeitweise am südlichen Ufer hin, so dass wir uns hinter Neckarhäuserhof bis zu unserem Zielort Hirschhorn wieder in Hessen bewegen.

Der Weg führt zunächst nicht unmittelbar am Neckar entlang, sondern verläuft oberhalb des Schleusengeländes am Rande einer steilen Böschung. Wir könnten uns zwar auf einem halsbrecherischen Pfad irgendwie die Böschung hinabbugsieren, aber wir ziehen die ungefährliche Variante denn doch vor, zumal diese uns 200 oder 300 Meter weiter ebenfalls ans Flussufer bringen wird.
Die Erde unter unseren Schuhen ist matschig und hier und da von einem leichten Schneeflaum überzogen.
Jana erzählt, dass der Weg neuerdings ungefähr ab Neckarhäuserhof geschottert sei. Bis dahin sind es noch ein paar Kilometer, so dass wir uns eine Weile mit dem Schlamm arrangieren müssen, aber das ist halb so wild.

Immer noch kein Wind.
Im Schneeregen wirkt der Fluss glatt und grau.
Ein paar Häuserfassaden stechen aus dem Grau hervor, dahinter verschwimmen alle Konturen und es gibt nur noch ein farbloses Gespinst, das ein bisschen aussieht wie dichter Nebel und ein bisschen wie ein zu oft gewaschener Vorhang.

Die beeinträchtigten Sichtverhältnisse sind auch der Hauptgrund dafür, warum wir in Neckarsteinach keine der vier Burgen aufgesucht haben, die es in der Stadt selbst bzw. in ihrem direkten Umfeld zu sehen gibt. Von der bewohnten und deshalb nicht zu besichtigenden Mittelburg abgesehen ist die älteste der vier Burgen – die Hinterburg – vom Bahnsteig aus am besten und schnellsten zu erreichen. Nur würden wir heute von da oben auch nicht mehr sehen als irgendein konturenloses Rauschen.

Vom Neckar trennt uns jetzt nur noch ein flacher, schmaler Wiesenstreifen.
Flussabwärts erahnt man gerade noch so die Schleusenbrücke, die wir vorhin überquert haben, am nördlichen Ufer liegen ein paar Kähne, von denen zumindest einer oder zwei so aussehen, als befänden sie sich im Anfangsstadium endgültigen Zerfalls, in der entgegengesetzten Richtung sehen wir bis zu einer Flussbiegung, die Hügel dahinter befinden sich dann bereits auf der Schwelle vom Sichtbaren zum Unsichtbaren.
Alles, was an hellen Tagen vielleicht noch Vordergrund wäre, ist heute schon die Grenze des Blickfeldes.

Vor uns, wie vom Himmel gefallen, gehen plötzlich zwei Spaziergänger. Fünf Minuten später sind sie auf ebenso geheimnisvolle Art wieder verschwunden.
Sie müssen einen der vom Uferweg nach rechts abzweigenden Pfade genommen haben, denn die auf dieser Seite sehr steile Böschung werden sie wohl kaum hochgeklettert sein.

Wir haben nicht die ganze Zeit den offenen Fluss neben uns, sondern wandern ab und zu auch durch kleine Wäldchen, was ziemlich angenehm ist, denn dort kriegen wir von dem Schneeregen weniger ab.
Die Böschung hoch entdecke ich ein paar auffällige Felsen, die weniger nach irgendwelchen wilden Gesteinsformationen aussehen als vielmehr nach Resten früherer Steinbrucharbeiten.

Neckarsteinach, überhaupt die ganze Gegend hier bis Heidelberg 15 Kilometer weiter westlich, war jahrhundertelang ein Abbaugebiet für Buntsandstein.
Das Heidelberger Schloss ist unter Verwendung von Buntsandstein errichtet worden, ebenso auch die vier Neckarsteinacher Burgen.
Nicht umsonst trägt die Gegend hier die Bezeichnung Sandstein-Odenwald.

Es ist still wie in einem schalldichten Raum unter der Erde.
Selbst auf der Landstraße, an der wir ein kurzes Stück entlanglaufen müssen, ist nichts zu hören.
Ein gehöriger Teil dieser Stille hat mit dem Winter zu tun, mit dem Winter und dem Schnee und dem weißen Licht über dem Fluss. Mit letzterem vielleicht sogar am meisten, denn über dem Fluss liegt das Zentrum dieser Stille.
Mit fortschreitender Zeit stellen sich von überallher wieder leise und auch ein paar lautere Geräusche ein, aber diese Stille über dem Fluss, die bleibt davon unberührt.

Plötzlich befinden wir uns unmittelbar neben der Landstraße, an der wir eben entlanggelaufen sind.
In rund 150 Metern Entfernung ein Dorf, und zwar das bereits erwähnte Neckarhäuserhof, wie Jana mir mitteilt.
Wir müssen direkt auf dem Seitenstreifen gehen, könnten aber ruhig auch auf dem Mitteilstreifen ein Picknick veranstalten, denn auf der Straße ist weniger los als auf einer verlassenen Forschungsstation in der Antarktis.

Neckarhäuserhof selbst wirkt auf den ersten Blick nicht gerade belebt, um nicht zu sagen wie ausgestorben, was aber auch kein Wunder ist an einem Werktag bei Hundewetter und bei einer Einwohnerzahl, welche 200 kaum übersteigen dürfte.

Am Ende des Dorfes entdecken wir ein kleines Fährhaus.
Es handelt sich dabei nicht etwa um ein historisches Relikt, das längst außer Betrieb ist, wie man vielleicht annehmen könnte. Vielmehr gibt es eine regelmäßig verkehrende Fähre, und zwar vom Morgen bis zum frühen Abend, Tag für Tag.
Gleich mein erster oder zweiter Gedanke ist, dass es vermutlich schwierig sein dürfte, Leute zu finden, die diesen Job ausüben. Später lese ich dann auch tatsächlich in einem älteren Zeitungsartikel, dass einer der beiden Fährleute zum Ende des Jahres 2020 gekündigt hat und dass die Suche nach einem Nachfolger sich alles andere als leicht gestaltet.
Der Punkt ist – wenn es die Fähre nicht gäbe, dann müsste man bis Neckargemünd oder Hirschhorn fahren, um den Neckar zu überqueren. Bzw. bis Neckarsteinach, wenn man als Fußgänger unterwegs ist.
Die Fähre legt genau in dieser Sekunde am jenseitigen Ufer an. Drüben in Neckarhausen gibt es eine S-Bahn-Station, die wohl auch für den einen oder anderen Passagier sorgen dürfte.

Wir bleiben eine Weile am Ufer stehen.
Der Fluss wirkt beinahe blau, natürlich nicht blau wie ein Sommerhimmel, sondern eher wie verwittertes Quarzblau, mit einem hohen Anteil an Grau zweifellos.
Zwischen den Hügeln sammelt sich weißer Nebel, je höher die Hügelflanken hinauf, desto dichter. Ein paar einzelne Fetzen flattern über den Fluss wie aus Büchern herausgerissene Seiten.
Auf der Uferböschung ein uralter, mit einer Kette an einem Steinblock befestigter Nachen.
Wenn man sich den Nachen wegdenkt, dann ist es lediglich ein stilles, malerisches Winterbild.
So aber ist es ein stilles, malerisches Winterbild, das sich für lange Zeit in der Erinnerung festsetzen wird.
Oft sind eben auch die stillen Dinge am Rand eine Art Abenteuer.

Nicht weit hinter Neckarhäuserhof beginnt der von Jana anfangs angekündigte Schotterbelag.
Damit ist der Matsch Geschichte.
Der Weg verläuft nun schnurgerade durch den Wald.
Es ist eine Spur kälter geworden und der Schneeregen nimmt uns zunehmend die Sicht. Der Schneeanteil hat zugenommen, wie es scheint, vielleicht wird von dem Niederschlag also doch etwas liegenbleiben.
Aber das Wetter bereitet uns keinerlei Schwierigkeiten. Das Ausbleiben des prophezeiten stürmischen Windes war unser Glück. Stürmischer Wind nämlich hätte die Wanderung sicher beeinträchtigt, so aber gab es nichts, aber auch wirklich gar nichts, was uns irgendwie gestört hätte.

Gegen 15 Uhr erreichen wir Hirschhorn.
Von unserem Standort am linken Neckarufer aus könnte man die eng beieinanderstehenden Häuser am Rande der Altstadt ohne viel Fantasie auch für unbewohnte Filmkulissengebäude halten.
Das Eindrucksvollste aber ist das Schloss.
Vor dem nebelgrauen Hintergrund und unter dem farblosen Schneehimmel wirkt es wie aus einer lange zurückliegenden oder vielleicht auch nie wirklich existenten Zeit in die Gegenwart hergeträumt.
Zumindest ein paar Herzschläge lang.

Wir wandern über die Schleusenbrücke hinüber auf die andere Neckarseite.
Ein Ende des Schneeregens ist nicht abzusehen.
Für unsere Wanderung spielt das natürlich keine Rolle mehr, denn der Schneeregen hat uns die ganze Zeit nicht sonderlich gestört und auf dem letzten Kilometer durch die Altstadt zum Bahnhof ist das erst recht nicht der Fall.

Jana und ich sind uns einig, dass es heute kaum besser hätte laufen können.
Es ist ein ganz eigenes Gehen mit solch einem eng begrenzten Blickfeld, das kaum weiter reicht als bis zum jenseitigen Flussufer, und mit diesem niedrigen Himmel, an dem nicht einmal die Hoffnung auf eine Ahnung von Frühling ablesbar ist.
Es ist wie ein Spaziergang in einem Raum aus Nebelwänden.
Und auch das hat was für sich.

4 Comments

  • Mata

    Wieder ein wunderbarer Text, bei dem man vom ersten bis zum letzten Schritt „mitwandern“ kann. Das Schloss sieht sehr schön aus. Es strahlt etwas Besonderes aus, wie aus einer anderen Zeit, wie du zurecht schreibst.

    Gruß, Mata

  • Jana

    Oft sind es genau solche kleinen Wanderungen, die ausreichen, um sich gut erholt zu fühlen. Diese fast völlig ebene Neckarwanderung gehört für mich dazu. Und das nicht nur, weil die Strecke vertrautes Terrain für mich ist. Einen wunderbaren Text hast du wieder dazu geschrieben, lieber Torsten. Sollten wir diese schöne Tour irgendwann ein drittes Mal gehen, suchen wir uns sicher auch mal eine andere Jahreszeit aus – vielleicht den malerischen Herbst?

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Ich glaube, wir hätten uns für diesen Tag keine bessere Strecke aussuchen können, liebe Jana. Es waren alles in allem vielleicht 12 Kilometer, aber die haben alles geboten, was für uns beide eine Flusswanderung so schön und interessant macht. Ich bin eigentlich sicher, dass wir die Tour irgendwann auch zum dritten Mal gemeinsam gehen werden, dann vielleicht mal von Neckargemünd aus, das wären ja nur ein paar Kilometer mehr.:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert