Wandertouren

TOUR 18 – VON KONZ NACH SAARBURG

Der Morgen, das ist ein müdes Blinzeln am Rande einer jenseitigen Dunkelwelt, aus der wie durch einen dünnen, durchlässigen Schleier Bilder von Träumen in mein noch
nicht ganz waches Bewusstsein treiben.
Es ist ein samtenes Rauschen von Regen, fein und stetig und dunkel.
Es ist die wispernde Stimme des Spätsommers, die bereits die Melancholie eines zu Ende gehenden Jahres erahnen lässt.

Die Müdigkeit lässt mich an diesem Tag eine ganze Weile nicht los. Sogar auf der Zugfahrt nach Konz lässt sie noch nicht locker. Erst als ich bereits unterwegs bin, verflüchtigt sie sich nach und nach.

Es wird eine der längsten Wanderungen bisher werden, alle freiwilligen und unfreiwilligen Umwege eingerechnet mehr als 20 Kilometer, und sie ist von Beginn an ein Suchen, ein Erahnen, ein Kombinieren und Abschätzen, und das eine oder andere Mal ist sie einfach nur das Vertrauen auf die Gerechtigkeit des Karma.

Es beginnt schon damit, dass ich vom Bahnhof aus nicht geradeaus gehe, sondern einen Bogen um einen Häuserblock schlage, nur um eine Viertelstunde später dort zu sein, wo ich schon nach einer Minute hätte sein können.

Wenig später überquere ich eine Brücke, über die Auto an Auto rollt, und lande beim Versuch, einer Frau mit Kinderwagen auszuweichen, fast auf der Fahrbahn.
Unmittelbar hinter der Brücke biege ich zum Saarufer ab.
Der Uferweg ist schnurgerade, aber dafür eine Windeinfallschneise.
Der Wind ist zwar nicht stark, doch er wechselt so rasch und so oft die Richtung, dass es beinahe ist, als käme er von allen Seiten gleichzeitig. Als Rückenwind ist er nicht so richtig brauchbar, als Gegenwind schafft er es aber auch nicht, mich wirklich zu bremsen. Es ist ein Wellenkräuselwind und vor allem ist er schön kühl.
Wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat, ist es ein ganz angenehmes Gehen.

Schon bald führt der Weg jedoch vom Saarufer weg und ich darf erst über einen Aldi-Parkplatz hinwegtrotten und kurz darauf fünf – oder sind es zehn? – Minuten lang an der B51 entlangstiefeln, auf der Autos im Sekundentakt an mir vorübersausen. Nun gut, ich bin schließlich nicht auf einem Wanderpfad irgendwo in abgelegener Natur unterwegs.
Was mich viel mehr beschäftigt ist die Frage, ob ich mich überhaupt auf dem richtigen Weg befinde. Der Zweifel nagt an mir, denn bis jetzt habe ich das Wegesymbol, an dem ich mich orientieren will, noch nicht zu Gesicht bekommen, richte mich nur nach der notdürftigen Beschreibung einer Website.

Als ich das zweite Mal zum Saarufer abbiege, fällt mein Blick rein zufällig auf eine Leitplanke – und da entdecke ich es, groß und leuchtend blau: das gesuchte Wegesymbol!
Es wäre übertrieben zu sagen, dass meine Erleichterung keine Grenzen kennt, aber es ist ein gutes Gefühl, dass die Zweifel ausgeräumt sind. Fürs Erste zumindest.

Eigentlich böte sich der Asphaltweg an der Saar entlang nun dazu an, den Turbo zu zünden, aber stattdessen stapfe ich nur so vor mich hin. Nicht langsam, aber auch alles andere als schnell.
Von Zeit zu Zeit kommt mir ein Radfahrer entgegen.
Irgendwo am Ufer hockt ein einsamer, in sich versunkener Angler.
Auf der gegenüberliegenden Flussseite fährt ein Zug vorüber. Mit dem wäre ich in zehn Minuten in Saarburg.

Wieder weg vom Flussufer.
Ein Dorf.
An einem Sportplatz vorüber und dann die Hauptstraße entlang.
Der Wind ist immer noch da, ein bisschen Sonne auch, aber nur zeitweise.
Ich denke gerade: Da habe ich aber schon ruhigere Straßen in größeren Dörfern erlebt, da entdecke ich ein an einer Häuserwand angebrachtes Schild, auf dem die Worte stehen: „Hierzuland fehlt eine Ortsumgehung.“

Glücklicherweise kann ich bald in eine ruhige Seitenstraße abbiegen. Der Verkehrslärm verebbt immer mehr, und dann, mit einem Mal, ist es, als habe jemand auf den „Stumm“-Knopf gedrückt.
Und endlich auch: Wald!
Erst noch Asphalt, der vom Regen an manchen Stellen so glitschig ist, als würde ich über Seife marschieren, dann weicher, feuchter Waldboden.

Blick über die Regenlandschaft.
Hügel, Dörfer.
Nah und fern zugleich.
Wind, der durchs Geäst der Bäume streicht.
Schwarze Wolken bedecken den Himmel.
Es ist dunkel.
Wenn ich nicht wüsste, dass es erst kurz nach Mittag ist, würde ich jeden Augenblick damit rechnen, dass die Dämmerung hereinbricht.

An einer Schutzhütte vorüber stapfe ich tiefer in den Wald hinein.
Das Wegesymbol scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, deshalb gehe ich an jeder Kreuzung einfach geradeaus, mit einem immer mulmiger werdenden Gefühl allerdings.
Dann komme ich an eine Stelle, an der links und rechts breite Waldwege abzweigen, während sich in gerader Richtung der Pfad im Unterholz verliert.

Ich bleibe stehen, schaue mich um.
Kein Symbol, nirgends.
Ich gehe ein paar hundert Meter nach links, kehre wieder um, gehe ein paar hundert Meter nach rechts, aber dass dieser Weg der richtige ist, kommt mir noch unwahrscheinlicher vor.
Ich wiederhole dieses Spielchen.
Es bleibt dabei: Kein Symbol, nirgends.
Ich kann jetzt noch hundert Mal hin- und hergehen und jede Borke absuchen, hier ist kein Symbol.
Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt und nach einem anderen Ausweg schreit, ich habe keine andere Wahl als umzukehren und bei jeder Kreuzung die verschiedenen Varianten zu erkunden, so lange, bis ich dieses elende Wegesymbol endlich gefunden habe.

Man kann nicht sagen, dass ich durch den Wald irre, das nicht. Ich gehe ziemlich planmäßig vor. Unter dem Strich jedoch werde ich durch die Sucherei nach dem Symbol sicher drei bis vier Kilometer mehr in den Beinen haben.
Und ich weiß ja nicht, was noch kommt.

Irgendirgendirgendwann entdecke ich das Symbol an einem Baum. Unter einem halben Dutzend anderer Symbole und so verwittert, dass ich nur erahnen kann, in welche Richtung ich gehen muss.
Immerhin, von nun an habe ich endlich wieder das Gefühl, mich auf das Ziel zuzubewegen und nicht sinnlos Vierecke und andere geometrische Figuren abzuschreiten.

Und die Strecke gibt mir gewissermaßen sogar etwas zurück, und zwar in Form des Aussichtspunktes Rundfels.
Das ist ja mal ein Anblick! Den sollte man ständig abrufbar in irgendeiner Erinnerungskammer aufbewahren!
Unter einem Himmel voller ineinander verkeilter Wolken ein steiler, baumbestandener Hang, und zwischen von Bäumen gesäumten Ufern der Fluss, in die Landschaft sich hineinschmiegend und irgendwo in der Ferne im dunstigen Horizont sich verlierend.

Eine Viertelstunde halte ich mich am Rundfels auf, dann mache ich mich wieder auf den Weg.
Zum ersten Mal bin ich richtig in den Weinbergen.
Einen tückischen Geröllpfad hinab gelange ich auf einen asphaltierten Weg, überquere eine Landstraße und dann bin ich zur Abwechslung mal wieder am Saarufer.

„Saaruferweg“ lese ich auf einem Holzschild.
Das hört sich nach einer flachen, unkomplizierten Passage an, und das ist genau das, was ich jetzt brauche.
Für zweieinhalb Kilometer finden meine Füße den Weg praktisch von allein und ich bin einfach nur Auge und Atem und Gedanke.
Oder vielmehr: Nicht ich atme, sondern es atmet mich. Nicht ich denke, sondern es denkt mich. So ungefähr jedenfalls.
Dazu das leicht sich kräuselnde Wasser des Flusses, die frische, milde Luft.
Regen hin oder her, das ist kein schlechtes Gefühl.
Und plötzlich bricht sogar die Sonne hervor.

An einer eigenartigen, wie ein verdrehtes Seil aussehenden Skulptur biege ich in Richtung des Weinortes Ayl ab.
Bis dorthin kann ich mich an einem Weg erfreuen, der so flach ist, dass Kreationisten ihn vielleicht als Beweis ansähen, dass die Erde doch eine Scheibe ist. Die ganze Zeit habe ich die Kirche von Ayl im Blick, so dass ich ziemlich genau die Entfernung abschätzen kann, die ich noch vor mir habe, bis ich den Ort erreiche.

Ayl ist ein kleines Dorf im Nirgendwo.
Etwas Idyllisches liegt darüber wie ein unsichtbarer Schutzzauber.
Kinder spielen am Straßenrand. Ihre Stimmen sind fast das einzige Geräusch, das man hört.
Ich durchstreife kleine, verwinkelte Gassen mit Kopfsteinpflaster, laufe an der Kirche vorüber, die ich vorhin von weitem gesehen habe, und dann wandere ich auch schon wieder zum Ort hinaus.

Der Weg führt nun wieder bergan.
Abendstimmung, obwohl es erst vier Uhr ist.
Aber das Gefühl hatte ich ja am Mittag schon.
Aus dem Ort hinaus, an Wiesen und Obstbäumen vorüber,
Eine Bank, zu der ein paar Stufen hinaufführen, nutze ich für eine kurze Rast.

Dann bin ich wieder mitten in den Weinbergen. Ich könnte geradeaus weitergehen und hätte dann nur noch zwei Kilometer bis Saarburg zurückzulegen. Und vor allem ginge es nur noch bergab. Da es auf einen Kilometer mehr oder weniger jetzt aber auch nicht mehr ankommt, fasse ich den Entschluss, noch zur Aussichtsplattform Kreuzberg zu wandern, was bedeutet, dass mich mein Weg weiter bergauf führt.

Der Kreuzberg bietet mir einen ganz netten Blick über die Saar und weit in die Landschaft hinein, aber so begeisternd wie der Rundfels ist er nicht.
Danach kann ich es dann rollen lassen, denn von jetzt an geht es bis Saarburg wirklich nur noch den Berg hinunter.

Verglichen mit dem, was in Ayl los war, tobt in Saarburg das Leben.
Vor allem an dem Wasserfall mitten in der Stadt ballen sich die Massen.
Die Cafés – zumindest die Stühle draußen – sind vollbesetzt.
Der Wasserfall rauscht, als ob es noch zwei weitere von seiner Sorte gäbe.
Eine Weile bleibe ich auf der schmalen Brücke, die darüber hinwegführt, stehen und mache ein paar Fotos.

Durch schmale Gassen, die wirklich mal das Attribut malerisch verdient haben, flaniere ich dann in Richtung Saarbrücke.
Von da trotte ich ganz gemächlich hinüber zum Bahnhof.

 

 

2 Comments

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Ich finde es kurzweilig, dass du nicht immer den direkten Weg zu deinen Wanderungen einschlägst. Die Gedankengänge sind dann spannend.
    Der Rundfels schien ja ein herrlicher Rundblick zu bieten, gut ein Landschaftsbild nimmt man auch individuell wahr.
    Ich kann mir so bildlich vorstellen, wie in Saarburg das Tosen des Wasserfalls ein imposantes Schauspiel abgibt.
    Eine Wanderung, wieder spannend erzählt, und wie könnte es anders sein, in einer wunderbaren Sprache.

    • gorm

      Das war eine enorm abwechslungsreiche Wanderung. Der erwähnte Felsenpfad hat übrigens inzwischen Premiumwegstatus. In Saarburg sind die Cafés rund um den Wasserfall an schönen Tagen voll besetzt, was in diesem Fall einen schönen Kontrast zu den einsamen Waldwegen und Weinbergen bedeutete, auf denen ich in den Stunden vorher unterwges gewesen bin.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert