Wandertouren

TOUR 75: HASSEL/SAARLAND – HÜTTENWANDERWEG

Das Erste, was ich wahrnehme, als ich auf den Bahnsteig trete, ist dieses Flimmern.
Ein Flimmern beinahe wie an einem heißen Hochsommertag irgendwo am Horizont über dem aufgeheizten Asphalt einer Landstraße.
Erst nach und nach füllt sich mein Blickfeld mit Konturen: Ein uraltes Bahnhofsgebäude, das im Gegensatz zu vielen anderen uralten Bahnhofsgebäuden aber keine allmählich sich atomisierende Ruine ist, Wohnhäuser, zwei Straßen.
Am Rande des Bildausschnitts leuchtende Farben, Herbstfarben genauer gesagt.

Am Morgen noch ist alles grau gewesen wie an einem Nebeltag in den schottischen Highlands, genau das also, was man vom November erwartet. Jetzt aber ist der Himmel ganz hell, ohne jeden Anflug von Eintrübung, und wenn ich Glück habe, dann werde ich einen jener Herbsttage erleben, an denen ein Wirbel aus Farben und Licht den nächsten ablöst.

Die Umgebung von Hassel gehört zum Biosphärenreservat Bliesgau, das rund 360 Quadratkilometer groß ist und damit immerhin rund 14 Prozent der Fläche des Saarlandes ausmacht. Ich befinde mich im nördlichen Teil des Reservats, der gegenüber dem südlichen Teil einige signifikante Unterschiede aufweist, u. a. den deutlich höheren Waldanteil.

Eine knappe Viertelstunde dauert es, bis ich vom Bahnsteig in Hassel zu der Stelle am Rande des Ortes gelangt bin, bei der ich auf den Hüttenwanderweg stoßen will.
Die Straßen sind nass vom Regen des vergangenen Tages. Nebel füllt die Täler, aber es sind nur ganz dünne, wie aus Wind gewobene Schleier, die man kaum wirklich als Nebel wahrnimmt.

Irgendwo bei den letzten Häusern biege ich links in den Wald ab und schneller als ich blinzeln kann, lande ich mitten in einem Bilderbuchherbst.
Ein Hauch von Nebel schwächt das Sonnenlicht ganz leicht ab, gerade so viel, wie es braucht, um die Dinge in ein geheimnisvolles Zwielicht zu rücken. Die Böschungen zu beiden Seiten des Weges sind über und über mit Laub bedeckt, aber auf dem Weg selbst liegen nur ein paar wenige Blätter.
Das ändert sich aber, sobald ich nicht mehr über Asphalt laufe, sondern über weichen Waldboden. Von nun an ist der Pfad ein einziger, nahezu lückenloser Laubteppich.

Der erste richtige Anstieg.
Holzstufen, verborgen unter einem Katarakt von Blättern.
Ich setze einen Schritt vor den nächsten.
Stufe um Stufe.
Nichts rührt sich.
Es ist so still, dass das plötzliche Aufflattern eines Vogels Schallwellen von einem Ende des Waldes zum anderen schickt und man es noch in 300 Metern Entfernung so deutlich vernimmt, als würde plötzlich der ganze Wald in Bewegung geraten. Von jenseits des Nebelschleiers jedoch dringt nicht das leiseste Geräusch herüber.
Man hat fast den Eindruck, dass der Wald von einer Mauer umgeben ist, an der sämtliche Geräusche von außerhalb zerschellen.

Mit beinahe jedem Atemzug verändert sich das Licht.
Da ist manchmal dieser bleiche Schimmer, fast wie bei Vollmond in einer Nebelnacht, da ist dieses Leuchten in allen möglichen Variationen von Gelb und Rot, da sind diese dunklen Zwischenwelten, in denen die Bäume dicht an dicht stehen, so dass kaum Sonnenlicht durchs Geäst dringt, es gibt keine Ferne, keine Weite, man kommt sich vor wie in einem engen Schacht, ein paar Augenblicke später aber sickert schon wieder ein heller, rötlicher Schimmer von irgendwoher ins Dunkel und noch ein paar Augenblicke später sind von dem Dunkel nur noch ein paar leichte, zusehends sich auflösende Schatten übriggeblieben und der Wald ist voller Licht.

Nach ein paar Minuten enden die Stufen, aber der Anstieg geht noch weiter.
Es wird allmählich immer heller.
Der weißliche Nebel, in dem der Pfad sich weiter vorne verliert, löst sich vollkommen auf und mit einem Mal wirkt alles wie exakt zugeordnet und streng voneinander getrennt, das helle Licht arbeitet jedes Detail ganz scharf heraus, nur noch jenseits der Bäume bleibt dieser ungewisse Schimmer, wie Dunstschleier am Abend über einem Moor.

Auf den ersten zwei oder drei Kilometern ist die Tour so unkompliziert, wie ich es mir von einem Rundwanderweg mit dem Siegel „Premiumwanderweg“ erwartet hatte. Wegweiser, Wandersymbole, alle in genügend häufiger Anzahl vorhanden.Es reicht, sie irgendwie nebenbei zu registrieren, ansonsten kann ich mich ganz aufs Wandern konzentrieren und darauf, was dieser grandiose Herbsttag bereithält.
Es ist ein Gehen, bei dem das Gefühl des Aufbruchs noch lange nachwirkt und nach und nach zu etwas wird, das sich nicht allein auf den heutigen Tag und die heutige Wanderung beschränkt, sondern in die Zukunft gerichtet ist, wenn auch ziemlich unbestimmt.

Die Unkompliziertheit hält leider nicht allzu lange an.
Einfach losgehen, ohne überflüssige Umwege dem Wanderpfad folgen und zum Ausgangspunkt zurückkehren, das wäre wohl zu einfach.
Also ist da plötzlich diese Weggabelung.
Links ein Asphaltweg, silbrig grau unter einem dunstigen Himmel, der zwar ganz nach meinem Geschmack wäre, der aber vom Hüttenwanderweg abzweigt und in die entgegengesetzte Richtung verläuft.
Rechts teilt der Weg sich in drei Pfade auf, was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht alle drei mit dem Symbol des Hüttenwanderweges versehen wären. Immerhin sieht das zumindest nicht danach aus, als könnte ich auf einen haarsträubenden Irrweg geraten.
Ich grüble nicht lange nach und gehe auf dem mittleren der drei Wege weiter.

Der Wald füllt sich immer mehr mit Licht an.
Ich wandere ins Herz des Herbstes hinein.
Da sind Farben, kalte Farben, warme Farben, Farben, die leuchten wie eine Supernova im Teleskop, Farben wie aus unentdeckten Spektren. Und im Hintergrund immer dieses mondlichtweiche Nebelgrau, das eigentlich gar kein richtiges Grau ist und das die ganze Zeit so aussieht, als würde es sich in der nächsten Sekunde auflösen.

Die nächste Abzweigung lässt nicht lange auf sich warten. Und auch hier entdecke ich am Wegrand das Wandersymbol des Hüttenwanderweges, ebenso bei dem Pfad, der geradeaus weiterführt. Allmählich wird es dann doch etwas verwirrend, wenn man bedenkt, dass es sich im Grunde um einen schlichten Rundweg handelt.

Ich bleibe fürs Erste auf dem eingeschlagenen Weg.
Über den Äckern ein feiner Dunst, der Entfernungen größer erscheinen lässt, als sie tatsächlich sind. Alles treibt weg, tiefer hinein in die dunstige Stille.
Im Wald dagegen rücken die Dinge scheinbar näher zusammen, weil der Nebel jenseits der Bäume bleibt.

An einer Schutzhütte mitten in der tiefsten Herbstidylle halte ich kurz im Gehen inne. Es gibt eigentlich keinen besonderen Grund dafür, aber eines besonderen Grundes bedarf es dafür während einer Wanderung schließlich auch nicht. Wahrscheinlich möchte ich einfach nur ein paar Augenblicke lang die Herbstatmosphäre auf mich wirken lassen.

Es ist still wie im tiefsten Winter in der lappländischen Tundra.
Ich schaue mich um.
Das Dach der Hütte ist fast völlig von rötlichem Laub eingenommen. Der Wald ringsumher ist offen wie ein Raum ohne Wände, aber durch den Nebel wirkt er dennoch wie abgetrennt von allem, was jenseits davon liegt.

Mein Blick bleibt an einer großen Wanderkarte im Innern der Hütte hängen. Irgendetwas in mir fasst den Entschluss, die Karte näher in Augenschein zu nehmen.
Auf einem Rundweg von knapp 13 Kilometern kann es eigentlich keine richtig böse Überraschung geben, was die Länge von Umwegen betrifft, wenn der Weg nicht gerade plötzlich in ein unterirdisches Höhlensystem absackt, das man weiträumig umlaufen muss oder dergleichen.

Aber begeistert bin ich auch nicht gerade von dem, was ich auf der Karte sehe. Auf irgendeine Art und Weise bin ich an eine Stelle geraten, an der ich eigentlich gar nicht sein kann. Der mittlere der drei Wege, den ich an jener Kreuzung eingeschlagen habe, muss eine Abkürzung gewesen sein, denn an mehreren auf der Karte eingezeichneten Stellen bin ich gar nicht vorübergekommen.
Wenn ich die bisherige Richtung beibehalte, werde ich in kaum mehr als einer Stunde wieder zurück in Hassel sein.

Ich kann es drehen und wenden wie ich will, das Ganze läuft darauf hinaus, dass ich umkehren muss.
Ich wandere allerdings nicht bis zu der Kreuzung zurück, sondern nur bis zur letzten Abzweigung.
Der Nebel über den Äckern hat sich mittlerweile bis auf einen allerletzten Hauch aufgelöst und es herrscht eine fast schon anachronistisch anmutende Stille. Man könnte sich ohne allzu viel Fantasie an den Beginn des 19. Jahrhunderts zurückversetzt fühlen.

Ich laufe an einem Bauernhof vorüber, an leeren Weiden entlang, die in kaltes, helles Licht getaucht sind, das kurz darauf im Wald wieder von einem ganz feinen Dunst gedämpft wird.
Aber das Licht verändert sich nun wieder ständig.
Manchmal ist es bis zur halben Höhe der Bäume beinahe lichtlos dunkel, aber darüber leuchtet eine weiße Sonnenkugel wie ein in den Ästen aufgehängter Scheinwerfer. Ein paar Schritte später ist der Wald vom Erdboden bis zu den Baumspitzen schattenlos hell, aber kaum habe ich einmal kurz mit den Augen geblinzelt, ist da plötzlich wieder diese Ahnung von Nebel, die den Wald einhüllt wie eine riesige graue Atemwolke.

Es ist jetzt ein von allen selbstauferlegten Zwängen befreites Gehen.
Nichts zwingt mich, besonders schnell oder betont langsam zu gehen, nichts zwingt mich, unbedingt jeden Meter dieses Wanderweges abzuwandern, nichts zwingt mich, etwas zu tun, wonach mir gerade nicht ist.
Es genügt mir zu gehen.
Es braucht eben manchmal nicht viel.
Ein begehbarer Pfad reicht aus.

Hinter einer Kurve springt mir ein altes Holzschild ins Auge, in das ein Wort eingeritzt ist: Horstbrunnen.
Was mich aber erheblich mehr interessiert als dieses Schild, das ist der dazugehörige Pfad. Ein rasierklingenschmaler, steil den Hügel hinabführender, unter all dem Herbstlaub kaum zu erkennender Pfad, verwinkelt wie eine Gasse in einer mittelalterlichen Stadt.
Es sieht nicht gerade so aus, als ob allzu viele Wanderer ihn in letzter Zeit betreten hätten. Jedenfalls entdecke ich nirgends einen Fußabdruck in der schlammigen Erde.
Der Pfad ist glatt wie eine Eisbahn. Ich taste mich vorsichtig Dutzende von Holzstufen hinunter. Am Wegrand ein morsches, an vielen Stellen zerborstenes Geländer, das keinen Halt bietet.

Fünf Minuten, dann bin ich unten angekommen.
Von den Farben des Herbstes ist nichts mehr zu sehen.
Kahle Baumskelette, nur noch Äste und Stamm, ein paar Farngewächse hier und da, das ist alles.
Weit entfernt ein Streifen bleichen Lichts, das fast schon winterlich anmutet.
Auf einem Felsblock steht in schrägen Buchstaben: Gerade DU brauchst Jesus, auf einem anderen: Horst 1946. Darunter eine höhlenartige Vertiefung, die dann wohl der Horstbrunnen ist.

Während ich über einen nicht weniger steilen und verwinkelten Pfad wieder nach oben steige, kehren die Farben in den Wald zurück. 100 Höhenmeter, aber ein Unterschied wie zwischen einem Maleratelier und einer Galaxie voll dunkler Materie.

Es ist allmählich an der Zeit, eine Entscheidung darüber zu treffen, wie der Rest der Wanderung aussehen soll.
Ich könnte noch die ungefähr einen Kilometer lange Schleife bis zur Kahlenberghütte in Angriff nehmen, aber diese Variante verwerfe ich, nachdem ich zehn Minuten lang am Rande einer Landstraße ausgeharrt habe, ohne dass sich eine genügend große Lücke im Autoverkehr ergeben hätte, um die Straße überqueren zu können.
Stattdessen wandere ich auf einem etwas kürzeren Weg nach Hassel zurück. Erst über einen grauen Asphaltweg voller Laub, später dann über weichen und kaum noch feuchten Waldboden.

Die Nachmittagssonne taucht den Wald in ein sphärisches, geheimnisvolles Zwielicht. Nirgendwo, nicht einmal im Unterholz, gibt es dunkle Bereiche. Selbst die Schatten erscheinen hell. Das Herbstlicht arbeitet alle Details so filigran heraus, als wären sie in die Luft hineingeschnitten.

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, die Wanderung einen Tag früher zu machen.
Hätte ich dieses Vorhaben umgesetzt, dann wäre ich stundenlang durch grauen, kalten Regen gelaufen und es wäre eine Tour geworden, bei der ich mich darauf hätte beschränken müssen, irgendwann irgendwie anzukommen. So ist es natürlich viel besser.

Zurück in Hassel beschließe ich, noch die gut zwei Kilometer bis zum Eichertsfelsen zu wandern.
Wieder stapfe ich zwischen den von rostrotem Laub bedeckten Böschungen hindurch, dann die seifenglatten Holzstufen hinauf, bis zu jener Kreuzung, an der ich mich drei Stunden zuvor für den mittleren Weg entschieden hatte.

Diesmal schlage ich den Pfad linkerhand ein, laufe einen Kilometer oder länger über einen der bereits erwähnten lückenlosen Laubteppiche bergab und biege dann auf einen schmalen Saum ab, der völlig unter rotem Laub verborgen ist, so dass er von der angrenzenden Böschung so gut wie nicht unterschieden werden kann.
Der Felsen ragt wie eine steinerne Nase in den Weg hinein. Erst als ich um die Kurve biege, sehe ich, dass es sich nicht um einen einzelnen Felsen, sondern um eine Felsformation mit mehreren winzigen Höhlen handelt.
Ein paar Schritte weit gehe ich in die Höhlen hinein und für eine Minute kann ich mich fühlen wie ein Nomade am Beginn der Neolithischen Revolution, der hier Schutz vor einem Herbststurm gesucht hat.

Jenseits des Eichertsfelsens führt der Pfad steil bergan, zurück auf eine breite Waldschneise.
Der Himmel ist mittlerweile beinahe wolkenlos blau, aber die Sonne steht schon sehr tief und es ist abzusehen, dass bald wieder Nebelvorhänge die Sicht begrenzen werden und der Wald aussehen wird wie ein verlassenes Spukhaus.
100 Meter von Hassel entfernt begegne ich dann zum ersten Mal seit mehreren Stunden wieder Menschen.

 

Noch eine Novembertour:

Tour 58 Merchweiler – Itzenplitzer Pingenpfad

52 Tage sind seit meiner letzten Wanderung ins Land

gegangen.

Beinahe ein ganzer Herbst ist gekommen, hat über

viele Wochen hinweg alles in ein Farbenmeer ver-

wandelt und liegt jetzt in den letzten Zügen, ohne

dass ich auch nur einen einzigen Schritt auf einem

Wanderpfad…    weiterlesen      Bildergalerie

 

 

5 Comments

  • Heinrich B.S.

    Sehr präzise und dicht beschrieben bzw. wohl eher erzählt. Aus einem Wanderbericht eine Leseperle gemacht, was will man mehr. Auch die Fotos passen.

    Heinrich B.S.

  • Sylban

    Dann melde ich mich auch mal wieder zu Wort. Hört sich ja ganz gut an. Falls ich mal in der Gegend bin – ist das einer der besseren Wanderwege im Saarland?

    Gruß, Sylban

    • gorm

      Die Bewertung von Wanderwegen ist logischerweise eine subjektive Angelegenheit. Ich persönlich finde den Weg nicht schlecht, aber ich denke, ohne diesen tollen Herbsttag, der alles richtig gut in Szene gesetzt hat, wäre das im Vergleich zu anderen saarländischen Premiumwegen ein eher mittelprächtiger Pfad. Er hat aber durchaus schöne Passagen, und wenn die Hütten geöffnet sind – was diesmal nicht der Fall war – kommen auch Geselligkeitswanderer auf ihre Kosten.

      Beste Grüße
      Torsten

  • Jana

    Als Ergänzung zu dem wieder wunderbaren Text habe ich mir gerade die Bildergalerie angeschaut. Text und Bilder unterstreichen deinen Satz: „Ich wandere ins Herz des Herbstes hinein.“ Schöner als bei dieser Wanderung kann sich der Herbst kaum darbieten. Diese Blätterteppiche in leuchtenden Farben – herrlich!

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Hallo, liebe Jana,
      auch im November letzten Jahres habe ich eine Wanderung gemacht, die ohne das tolle Herbstlicht ziemlich unansehnlich gewesen wäre. Diesmal war es ähnlich. Ich hatte eben Riesenglück. Allerdings wäre doch auch mal wieder eine Regenwanderung fällig, die letzte liegt schon ziemlich lange zurück.:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert