Wandertouren

TOUR 84 – VON HERXHEIM AM BERG NACH BAD DÜRKHEIM

Der Tag ist warm und hell, exakt so, wie es sich bereits Stunden zuvor erahnen ließ, als die kühle, noch von Dunkelheit eingerahmte Dämmerung sich von Atemzug zu Atemzug mehr in einen stillen, klaren Morgen verwandelt hat.

Mehr Frühling als heute geht kaum.
Da ist dieser Himmel, weit und offen, schon lange kein morgendlicher Himmel mehr, sondern ein leuchtender Mittagshimmel, bis fast zum Rande des Blickfeldes sieht man alles gestochen scharf, nur die Horizontlinie selbst sieht aus wie ein Saum aus dunstiger Gischt.
Da ist dieses frühlingshafte Grün überall, Bäume, niedrige Hecken, Weinhänge, Wiesen, man hat beinahe das Gefühl, den Geschmack von Grashalmen auf der Zunge zu spüren oder den von Birkenblättern, so allgegenwärtig ist das Grün.
Da sind diese irgendwo in der Weite sich verlierenden Geräusche, von denen man gar nicht so richtig sagen kann, ob sie weit entfernt sind oder sehr nahe, ob beständig oder flüchtig.
Vom ersten Moment an, noch vor dem ersten Schritt, ist alles vollkommen im Gleichgewicht, jetzt müssen wir nur noch losgehen.

Ich bin wieder einmal mit Jana unterwegs.
Es ist mittlerweile unsere dritte Wanderung auf dem Pfälzer Mandelpfad nach den beiden Etappen von Wachenheim nach Neustadt und ein paar Monate später von Edenkoben wiederum nach Neustadt.
Das Wesentliche heute – wie im Grunde bei allen Wanderungen seit Beginn der Coronakrise – ist das Unterwegssein an sich. Wir sind froh um jeden Kilometer, den wir draußen zurücklegen können.
Dass wir uns hier offenbar in einem kleinen Paradies befinden, macht die Sache natürlich umso angenehmer, aber wir wären auch mit weniger zufrieden, solange wir einen halbwegs annehmbaren Weg unter den Füßen haben.

Unsere Wanderung beginnt an einem einsam gelegenen Bahnsteig am Rande einer einsamen Straße.
In so ziemlich allen Richtungen ist die Landschaft flach wie eine Scheibe. Es hätte etwas von auf den Ozean hinaussegeln, wenn wir einfach in die Ebene hineinmarschieren würden, aber um zum Mandelpfad zu gelangen, müssen wir die einzige Richtung einschlagen, in welcher der Weg bergan führt.

An flachen, nach allen Seiten sich ausbreitenden Weinhängen vorüber wandern wir auf Herxheim zu.
Es ist warm, aber nicht so, dass man keine Luft bekäme vor Hitze.
Eigentlich ist es genau richtig zum Wandern und nach so vielen Tagen und Wochen Pause tut es gut, einen blauen Himmel über sich zu haben und keinen, der aussieht wie ein faltiges altes Staubtuch.
Das Unterwegssein fühlt sich beinahe wieder ganz neu an, es ist etwas von der Aufbruchstimmung meiner ersten Wanderungen dabei, als alles noch groß und unbekannt war und die Welt nur darauf zu warten schien, von mir erkundet zu werden.

Herxheim am Berg ist ein kleiner Ort mit winkligen Straßen und schmalen Bürgersteigen, die um unübersichtliche Ecken herumführen.
In der Mitte des Dorfes entdecken wir wie erhofft das Symbol des Mandelpfades und ein paar hundert Meter weiter liegen auch schon die letzten Häuser hinter uns.
Von hier aus sieht die Ebene noch flacher aus, noch mehr in die Weite gedehnt.

Zwischen den Wiesen und den Weinhängen schmale, silbergraue Wege, die sich irgendwo in der Ebene verlieren.
Die Details sind nicht mehr so scharf gezeichnet wie noch unten vom Bahnsteig aus, dem Horizont zu scheint die Landschaft sich aufzulösen. Ganz weit draußen eine Ahnung von dunklen Hügelschemen, das Grün der Wiesen geht in ein verschwommenes Blau über, es ist eine Weite ohne Zentrum, es gibt nur Himmel und Horizont und Ebene.
Sowohl für Jana als auch für mich ist es der schönste Auftakt unserer bisherigen Wanderungen auf dem Mandelpfad.

Wenn etwas typisch ist für den Mandelpfad – von den Mandelbäumen natürlich abgesehen –, dann sind es die Asphaltwege. Sie verlaufen kreuz und quer zwischen den Dörfern und bilden oft ein so engmaschiges Netz, dass man irgendwie letztendlich immer an sein Ziel kommt, falls man nur halbwegs die richtige Richtung trifft.

Wie fast nicht anders zu erwarten, wandern wir auch hinter Herxheim erst einmal über einen solchen Asphaltweg.
Er trägt uns über eine winzige Kuppe hinweg, aber das ist fürs Erste dann auch der letzte Anstieg. Im Gegenteil, der Weg führt auf dem nächsten Kilometer sogar wieder bergab.
Wie von selbst sucht der Blick die Ferne, wo die dunklen Hügelwellen nur noch ein dunkelblaues Riff sind, bei dem sich die einzelnen Kämme nicht mehr voneinander unterscheiden lassen.
Am Wegrand Felder mit leuchtenden Mohnblumen und natürlich mit Rebstöcken, denn wir befinden uns hier schließlich in der Pfalz, dem zweitgrößten Weinbaugebiet Deutschlands.

Überraschenderweise endet der Asphalt nach ein paar hundert Metern, zumindest vorläufig, und stattdessen ist da jetzt ein etwas weniger behaglicher Kiespfad, den von der Landstraße nur eine halbhohe Böschung trennt.
Der Weg ist staubtrocken.
Eigentlich ist das noch gar kein Ausdruck.
Wenn die Rebstöcke nicht wären, dann könnte man sich fast in der mexikanischen Bolson de Mapimi oder einer ähnlichen Gegend wähnen.
Auch hier in der Pfalz fehlt der Regen, wie es scheint.

Kurz nach Mittag.
Es ist mittlerweile ein Sommertag im Frühling.
Die Sonne leuchtet weiß von einem beinahe wolkenlosen Himmel herab.
Wir wandern auf das nächste Dorf zu, Kallstadt an der Weinstraße. Es hat ein paar Einwohner mehr als Herxheim, aber länger als eine Viertelstunde brauchen wir nicht, um es von einem Ende zum anderen zu durchwandern.

Kallstadt entstand vermutlich aus einer rund 1500 Jahre alten Siedlung, aber archäologische Funde weisen auf sogar noch erheblich ältere zivilisatorische Spuren hin, u. a. auf eine antike römische Straße, die das Elsass mit dem Rheinland verband.
Vielleicht ist es deshalb auch gar nicht so überraschend, dass bei Ausgrabungen nicht weit von Kallstadt entfernt ein ungefähr 2000 Jahre altes Weingut entdeckt worden ist.
Das Hauptgebäude soll eine Wohnfläche von exorbitant anmutenden 30 000 Quadratmetern und eine Länge von 150 Metern gehabt haben.

Ein Name kann im Zusammenhang mit Kallstadt nicht übergangen werden, nämlich der von Friedrich bzw. Frederick Trump, dem Großvater des amerikanischen Präsidenten Donald Trump.
Trump, der Großvater, ist 1869 in Kallstadt geboren und emigrierte im Alter von 16 Jahren nach Amerika, wie so viele Deutsche vor ihm. Eigentlich war er Friseur, aber in der Neuen Welt brachte er es als Restaurantbesitzer während des Klondike-Goldrauschs zu Reichtum und er ist so etwas wie der Begründer des Trump-Clans.

Irgendwo hinter Kallstadt verlieren wir für kurze Zeit den Mandelpfad aus den Augen. Vermutlich führt er unterhalb des römischen Guts durch die Weinhänge, wir aber geraten irgendwie auf einen Wiesensaum oberhalb davon.
Jana schlägt vor, sich nicht lange mit der Suche aufzuhalten, sondern einfach weiterzugehen, dann würden wir früher oder später schon auf den Mandelpfad zurückfinden.
Und sie behält recht damit.
Nicht lange und wir entdecken das zum Mandelpfad gehörige Wandersymbol an einem Baum am Wegrand.

Überall dieses schöne, helle, nicht zu gleißende Licht.
Irgendwo weit draußen in der Ebene gibt es ein Cluster kaum hörbarer Geräusche, die sich anhören wie das schwache Echo murmelnder Stimmen.
Nirgends eine Bewegung.
Nicht in dem Dorf unten am Fuß der Weinhänge, nicht auf den Wegen.
Die Szenerie wirkt wie ein Film, der angehalten worden ist.

Längst wandern wir wieder über Asphalt.
Der Weg vollzieht ein paar kleine Kurven und führt dann bergan zwischen die Weinberge hinein. Es ist das erste etwas steilere Stück seit dem Anstieg gleich zu Beginn vom Bahnsteig hinauf nach Herxheim.
Oberhalb der Weinberge endet der Asphalt und wir finden uns auf dem nächsten der Wiesenpfade wieder, von denen es heute fast mehr gibt als von den asphaltierten Wegen, die nun ja schon oft genug Erwähnung gefunden haben.

Immer noch dieses ruhige Himmelblau über uns, etwas heller als zu Beginn unserer Wanderung, mit weißen Wolkenfeldern irgendwo am Rand, alles in warmes Licht getaucht, ein Bild stiller als das andere, aber auf lebendige Art und Weise still, nicht irgendwie leblos.
Es ist beinahe, wie auf ein Meer oder zumindest einen sehr großen See hinauszublicken. Man könnte stundenlang jeden Millimeter der Horizontlinie absuchen, ohne genug davon zu bekommen.

Der letzte Kilometer nach Bad Dürkheim besteht bezeichnenderweise aus einer langen, geraden Asphalttrasse, die ein wenig einer auslaufenden Welle ähnelt.
Zum allerersten Mal für heute begegnen wir ein paar Spaziergängern.
Wie man es aus den letzten Wochen und Monaten kennt, wählen Jana und ich die eine Straßenseite, die Entgegenkommenden die andere, während die Straßenmitte neutrale Zone bleibt.

Eine Weile bleiben wir noch neben einer winzigen Kapelle unmittelbar oberhalb von Bad Dürkheim stehen.
Aus den Straßen der nahen Stadt wehen Stimmen zu uns herüber.
Bis zum Kurpark können wir dem Mandelpfad noch weiter folgen, aber im Grunde ist unsere Wanderung an dieser Stelle beendet.
Mehr als zehn oder elf Kilometer sind nicht zusammengekommen, aber die Länge der Tour hatte heute nicht die geringste Bedeutung.
Viel wesentlicher war dieses vertraute Gefühl des Unterwegsseins, das wir genossen haben und das nach den Einschränkungen der letzten Monate beinahe so etwas gewesen ist wie das Wiederentdecken einer halb verschütteten Erfahrung.

3 Comments

  • Mata

    Ein schöner, sprachlich dichter Text, wieder einmal kein schlichter Bericht, sondern viel mehr. Kleiner Nebeneffekt – nach und nach lerne ich viele neue Gegenden in Deutschland kennen.

    Grüße, Mata

  • Jana

    Lieber Torsten,

    das war mal wieder eine wunderbare Wanderung – von Beginn an! Wir waren uns hinterher ja einig, dass es die schönste Etappe des Pfälzer Mandelpfades war, die wir bisher gingen. Sicher hatten auch Jahreszeit und Wetter damit zu tun: blauer Himmel, viel Grün, blühender Mohn … Und Überraschendes gab es mit dieser Ausgrabungsstätte – dem Römischen Weingut Weilberg – auch zu sehen. Diese wunderschöne Tour werde ich noch lange in Erinnerung behalten!

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Es war sicherlich unsere bisher schönste Mandelpfad-Etappe, liebe Jana, auch wenn ich die beiden anderen ebenfalls ansprechend fand. Diesmal – gerade zu Beginn – war ein Hauch mehr Landschaft dabei, es wirkte abgeschiedener und stiller und das hat sicher zu dem positiven Eindruck beigetragen. Das Weingut war natürlich ein spezielles und unerwartetes Highlight.:-) Mal sehen, ob es uns wieder mal auf den Mandelpfad verschlägt.:-)

      Ganz liebe Grüße
      Torsten

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