Wandertouren

TOUR 122 – ELLWANGEN – KAPELLENWEG

Im Nachhinein betrachtet ist es vor allem das Maß an Abgeschiedenheit, das uns überrascht hat, das Maß an Stille und der wie in die Landschaft hineingewobenen, ruhigen Harmonie. So unterschiedlich die einzelnen Landschaftsräume auch sind, die wir durchwandern, die Wechsel von einem zum nächsten vollziehen sich nicht schroff, sondern eher gemächlich, ein Landschaftsraum passt zum andern, und das Gehen mit seiner Langsamkeit ist genau die richtige Fortbewegungsart dafür.

In gewisser Weise ist das eine Mittelgebirgswanderung. Schlicht und ergreifend deshalb, weil wir uns die meiste Zeit auf rund 500 Metern Höhe befinden. Unsere Wanderung findet ungefähr auf der Grenze oder meinetwegen dem Übergang zwischen den Ellwanger Bergen und dem Virngrund statt, wobei exakte Trennlinien offenbar nicht existieren.
Der Virngrund ist ein Waldgebiet, und zwar das größte in Ostwürttemberg.
Fergunna im Althochdeutschen und später Virgunna im Mittelhochdeutschen bedeuten denn auch so etwas wie „Waldgebirge“.

Obgleich wir uns also fraglos auf Mittelgebirgsniveau bewegen, müssen wir so gut wie keine Anstiege bewältigen.
Lediglich gleich zu Beginn, auf unserem Weg aus Ellwangen hinauf zum Schloss und von da zur Wallfahrtskirche auf dem Schönenberg, geht es richtig den Berg hinauf, aber diese Passage gehört gar nicht zum Kapellenweg, denn dieser beginnt erst bei ebenjener Wallfahrtskirche.

Während wir unterwegs sind, werden wir oft gewissermaßen zu Entdeckern, und zwar zu Entdeckern von Landschaften, zu Entdeckern von Wegen, zu Entdeckern von vielen kleinen Details. Es liegt an uns selbst, wie viel wir davon wahrnehmen. Wir müssen nicht zu jeder Sekunde bis zum Anschlag aufmerksam sein, wir müssen nicht sozusagen ein Teil der Landschaft werden. Aber blicklos und interesselos durch die Gegend marschieren, das müssen wir erst recht nicht.
Wir sind Mitwirkende, aber nur am Rande. Wir sind Besucher, die kommen, aber nicht bleiben. Letztlich sind wir als Wanderer nichts anderes als Gäste.

Es ist ein heller Tag, wie geschaffen fürs Unterwegssein.
Das Licht spielt heute eine große Rolle.
Bereits bei unserem Start im Stadtzentrum von Ellwangen ist es sehr hell und die Helligkeit nimmt mit beinahe jedem Augenblick weiter zu. Aber selbst in der offenen Landschaft, inmitten von Wiesen und niedrigen Hügeln, wird diese durchdringende Helligkeit oft von Baumschatten abgemildert. Häufig laufen wir aber auch durch Wald, zum Teil über dunkle Wege, während gleichzeitig über den Baumwipfeln helles, wässriges Blau zu sehen ist.

Unsere erste Station, wenn man so will, ist das Schloss. Wir haben es bereits von vielen Punkten der Stadt aus gesehen. Es wirkt hell und wuchtig, aus der Nähe selbstredend noch mehr als aus der Ferne. Auf dem Kapellenweg sind wir hier noch nicht, der beginnt erst einen Kilometer weiter bei einem fast noch beeindruckenderen Gebäude, nämlich der Kirche auf dem Schönenberg.
Dort hinauf führt ein Kreuzweg, und während die Straßen in Ellwangen morgens noch leer wie bei einer Ausgangssperre waren, sind hier zumindest ein paar Leute unterwegs.
Die Kirche ist seit langem ein Wallfahrtsort, im Grunde also seit jeher auch ein Ziel für Wanderer, wenn man denn Wallfahrer auch als eine Art Wanderer sehen will. Das althochdeutsche „Wallon“ jedenfalls bedeutet nichts anderes als eben „wandern“ oder meinetwegen auch „umherstreifen“.

Unsere Wanderung heute ist allerdings vermutlich nicht so stark auf ein Ziel ausgerichtet wie das der vielen Wallfahrer, die im Laufe der Zeit zu dieser Kirche gepilgert sind. Jana und mir genügt es zunächst, einen Weg unter den Füßen zu haben, der irgendwohin führt, wo es weitere Wege gibt.
Es ist still, außer ein paar Vogelstimmen hört man nichts. Der Weg ist tischeben, links und rechts Frühlingswiesen, und jeder Blick in die Ferne bietet ein idyllisches, ruhiges Bild, aber ohne irgendeinen Anflug von lebloser Einöde.

Nicht lange und wir sind zum ersten Mal im Wald.
Der Weg ist immer noch flach, wodurch unsere Wanderung teilweise einen gewissen Spaziergangscharakter erhält, eines Spaziergangs in eine immer tiefere Stille hinein.
Die Stille wird kurz darauf jedoch für ein paar Minuten unterbrochen. Wir wandern an einem eingezäunten See vorüber, dem Kressbachsee. Gruppen junger Männer mit Bierkästen kommen uns entgegen. Von irgendwoher hören wir Geschrei und Gelächter.

Danach wieder Wald und Stille.
Und zwar jene Art von Stille, die jedes Geräusch im Umkreis von ein paar hundert Metern laut wie eine Explosion erscheinen lässt. Hier und da treten die Bäume ganz dicht zusammen, so dass man keinen Blick mehr ins Unterholz hat und das Sonnenlicht nicht einmal den Weg erreicht. Meistens jedoch finden wir genau das Licht-und-Schatten-Spiel vor, welches an einem hellen Frühlingstag wie heute zu erwarten ist.

Irgendwann ist der Wald zu Ende und wir blicken auf einen Weg, bei dem man sich ohne viel Fantasie eine Kutschenszene aus dem frühen 19. Jahrhundert vorstellen könnte.
Am Wegrand aufgeschichtetes Holz, in den Schatten verborgen eine Bank. Die Häuser in den Hügeln ein paar hundert Meter entfernt gehören zu Stocken, einem der zahlreichen Wohngebiete Ellwangens und seiner Stadtteile.
Aus der Ferne wirkt die Häuseransammlung beinahe wie ein Potemkinsches Dorf, denn nirgends ist das geringste Anzeichen von Bewegung zu erkennen.
In den Straßen sieht das ein wenig anders aus. Vor einem der ersten Häuser hocken ein paar Leute und kurz darauf begegnen wir einer Gruppe von Radfahrern, die mitten im Ort eine Rast einlegt.

Es dauert vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten nicht allzu schnellen Gehens, bis Stocken hinter uns liegt.
Wir laufen einen nicht sehr steilen Weg hinauf, der zu einer Anhöhe führt, von der aus wir die Landschaft über Kilometer hinweg in allen Richtungen im Blick haben. Der Himmel hat sich etwas bewölkt, aber das tut der Szenerie keinen Abbruch.
Im Vordergrund meist blühende Wiesen, jenseits davon Wald mit einzelnen Dörfern dazwischen. Unübersehbar auch die Kirche auf dem Schönenberg, zu der unsere Wanderung ja wieder zurückführen wird.

Das nächste Dorf auf unserem Weg ist Eigenzell.
Es ist erheblich größer als Stocken, aber die 1 000-Einwohner-Grenze erreicht es auch nicht.
Auch danach bleibt uns die Abgeschiedenheit noch erhalten. Im Grunde ist jedes einzelne Bild irgendwo zwischen malerischer Idylle und einer Art visuellem hiking poem angesiedelt. Wege und Landschaft ergänzen dabei einander.

Wir traben einen Asphaltweg hinab, manchmal zwischen Wiesen hindurch, dann wieder entlang einer Phalanx aus Nadelbäumen. Hier und da vollzieht der Weg eine Kurve, später folgt sogar noch der eine oder andere kleine, vernachlässigbare Anstieg. Die Schatten auf den Wegen werden immer dünner. Oft sind es nur feine Linien, die den Eindruck erwecken, als würden sie sich jeden Moment vom Erdboden ablösen. Überall ist die Leichtigkeit dieses Frühlingstages spürbar.

Wir sind nun schon wieder ganz in der Nähe der Wallfahrtskirche.
Das satte Grün der Wiesen und Bäume sowie das Wasserblau des Himmels werden nun ergänzt von gelb leuchtenden Rapsfeldern.
Auf den Weg und dessen Verlauf müssen wir kaum achten, denn im Grunde gibt es hier keine andere Möglichkeit, als einfach geradeaus zu laufen.
Ein paar Spaziergängerinnen begegnen uns nun, aber als wir bei der Kirche anlangen, stellen wir fest, dass sich nur unwesentlich mehr Leute hier aufhalten als vor einigen Stunden.

Wir sind noch nicht bereit für den Rückweg in die Stadt.
Erst lassen wir noch ein paar Fernblicke auf uns wirken. In der Mitte Ellwangen, oberhalb davon wie ein riesiges Nest aus Stein das Schloss. Dahinter ist die Landschaft schon fast eins mit einem weißen Saum, der aus weit entfernten Wolken und dem Horizont besteht.
Wie beinahe immer, wird davon wie von allen anderen Eindrücken dieser Wanderung etwas erhalten bleiben. Als Erinnerungsbruchstück, das sich im Laufe der Wochen, Monate und Jahre abschwächt. Und zudem als Gewissheit, etwas Schönes erlebt zu haben.

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