Wandertouren

TOUR 70 – BESSERINGEN -WEHINGER VIEZPFAD – CLOEF

Eines ist bereits von Beginn an klar – heute muss ein Rädchen ins andere greifen, wenn ich nicht Gefahr laufen will, in ein unbeherrschbares Chaos hineinzugeraten.
Okay, das ist natürlich etwas übertrieben, denn ich plane schließlich keine Wanderung durch irgendeine unwegsame Wildnis hundert Kilometer von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt.

Aber nichtsdestotrotz gibt es einige Punkte, die sich im Laufe der heutigen Tour als heikel erweisen könnten. Das liegt einfach in der Natur der Sache, wenn man eine Tour von mehr als 50 Kilometern ohne Karte und ohne GPS in Angriff nimmt. Die Länge einer solchen Wanderung allein katapultiert mich schon – im Vergleich zu einer von zehn oder fünfzehn Kilometern – in eine völlig andere Dimension. Aber die Hauptsache ist wieder einmal die Frage, ob sich die von mir zusammengebastelte Route in der Realität in die Tat umsetzen lässt, oder meinetwegen auch ganz schlicht ausgedrückt: ob ich überhaupt den Weg finde.

Eigentlich hat die Wanderung nur drei definitiv festgelegte Eckpfeiler.
Den Bahnsteig in Besseringen, einem 3000-Einwohner-Dorf, das zu Merzig gehört, dann die Cloef, den bekannten Aussichtspunkt oberhalb der Saarschleife, und das Ziel der Wanderung, nämlich den Bahnhof in Mettlach.
Innerhalb dieses Rahmens ist die Planung der Route insofern recht detailliert, als ich mehrere Varianten herausgearbeitet habe, aber unter dem Strich ist das Unterfangen eine Ansammlung von Unwägbarkeiten.
Auf jeden Fall rechne ich damit, wieder einmal spontane Veränderungen vornehmen zu müssen.
Egal.
Die zahlreichen Umwege meiner Touren haben mir bislang nicht geschadet.
Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, zu viel Festlegung, zu viel Starrheit, zu viel Fixierung darauf, nur ja nicht von einer vorgegebenen Route abzuweichen, würde mich stark einschränken, würde zudem aus einem – buchstäblichen wie metaphorischen – Aufbruch und einem von allen möglichen positiven Dingen erfüllten Unterwegssein ein schnödes Abspulen von Kilometern machen.

Es ist 9 Uhr 15.
Ich stehe auf einem Bahnsteig, der in der Morgensonne leuchtet wie eine Heliumröhre.
Der Puls dieses Tages schlägt noch ganz langsam.
Es ist sehr warm und mit beinahe jedem Augenblinzeln wird es wärmer.
Der 40-Grad-Wahnsinn von Ende Juni ist zum Glück vorüber, aber in den Straßen und über den Häuserdächern brennt der Sommer.

Vom Bahnsteig aus trabe ich die Stufen zu einer Unterführung hinab in ein kühles, angenehmes Halbdunkel, aber keine Minute später stehe ich schon wieder in der prallen Sonne, am Rande einer langen, menschenleeren Straße.
Jenseits der Häuser ein Saum hohen, knochentrockenen Grases, und dahinter mit hoher Wahrscheinlichkeit der Uferweg an der Saar entlang, der mein erstes Ziel ist. Ich müsste nicht mehr als vielleicht fünfzig Meter geradeaus laufen und wäre da.

Aber stattdessen schlage ich erst einmal einen riesigen Bogen fast durch das gesamte Dorf. Ein ziemlich grotesker Umweg, den ich einer Frau verdanke, die in genau der falschen Sekunde aus einem der Häuser auf die Straße tritt und die ich nach dem Weg frage. Sie gibt mir eine Auskunft, die so falsch ist, dass ich außer einer Kombination aus mangelnden Orts- und schlechten Deutschkenntnissen keine Erklärung dafür finde.

Mein Glück ist, dass es in Besseringen keine weiten Wege gibt, so dass ich schon 20 Minuten später wieder an derselben Stelle bin und endlich zum Saarufer marschieren kann.
Das Wasser des Flusses schimmert, als würde es von einem Dutzend Sonnen beschienen, nicht nur von einer einzigen.
Zwei Farben dominieren, Blau und Grün, exakt voneinander abgegrenzt.
Himmel und Fluss sind blau, die Hügel, das Ufer, die Bäume sind grün.

Ich trabe leichten Schrittes bis zu einer Brücke und wenig später befinde ich mich am jenseitigen Saarufer.
Das Lagunenblau über mir ist unverändert tief und dauerhaft und man hat nicht den Eindruck, dass sich daran heute noch etwas ändern wird.
Ich spüre eine hell lodernde Freude in mir, unterwegs zu sein und noch jede Menge Kilometer vor mir zu haben. Und je länger ich gehe, desto mehr wächst der Wunsch, immer noch weiterzugehen, die Strecke um diese oder jene zusätzliche Schleife zu verlängern.
Erst viel später – vielleicht um Kilometer 35 herum – schiebt sich ganz allmählich ein anderer Wunsch in den Vordergrund, nämlich der, anzukommen und die Tour abzuschließen.

Es ist eine Gegend, die fürs Wandern wie geschaffen ist.
Man fühlt sich wie außerhalb der Welt, aber nicht mehr als einen einzigen kleinen Schritt. Es ist genau die richtige Dosis von Einsamkeit und Abgeschiedenheit.
Wer den Kopf freibekommen möchte, ist hier richtig.
Wer einfach nur vor sich hinlaufen und seinen Gedanken Raum geben möchte, ist hier richtig.
Wer eine Landschaft durchwandern möchte, in der mitunter das Ticken einer Wanduhr das lauteste Geräusch wäre, der ist hier ebenfalls richtig.

Eine Weile wandere ich am Saarufer entlang.
Ein paar Spaziergänger, ein paar Angler, sonst begegne ich niemandem.
Später macht der Weg einen Knick und verläuft dann bis Dreisbach unmittelbar neben einer Landstraße ohne Mittelstreifen. Nur alle zwei Minuten – vielleicht sogar noch seltener – fährt ein Auto an mir vorüber.

Ich bin erst wenige Kilometer unterwegs, aber schon jetzt merke ich, dass sich, hervorgerufen durch das ziemlich gleichmäßige Gehen und ein paar andere Dinge, mein Zeitgefühl zu verändern beginnt. Vielleicht ist das aber auch nicht ganz richtig, sondern es spielt lediglich keine große Rolle mehr, wie spät es ist.

Immer noch dieser sonnige, blaue Morgen.
In der Ferne sehe ich von meinem Fußweg aus bereits die Cloef und auch den Baumwipfelpfad oberhalb der Saarschleife.
Wenn ich jetzt einfach weiter am Fluss entlangginge und dann durch das Steinbachtal hinauf Richtung Orscholz wandern würde, könnte ich mir in kaum mehr als zwei Stunden die Saarschleife im schönsten Mittagssonnenschein betrachten.
Aber ich wandere nicht weiter am Fluss entlang. Und das Steinbachtal bekomme ich heute auch nicht zu Gesicht. Und auch die Cloef werde ich nicht bereits um die Mittagszeit herum erreichen, sondern erst kurz vor sieben Uhr am Abend.

Mein Ziel ist jetzt zunächst einmal der Wehinger Viezpfad, ein ungefähr 15 Kilometer langer Premiumwanderweg irgendwo südwestlich von hier. Allerdings peile ich nicht den Startpunkt des Viezpfades an, sondern einen wesentlich näher gelegenen Punkt in unmittelbarer Nähe eines Landgasthofes.

Dreisbach hat keine 200 Einwohner, trotzdem wirkt es ziemlich lebendig.
Dafür dürften in erster Linie die nahe Saarschleife als touristischer Anziehungspunkt und die Jugendherberge am Ende des Dorfes verantwortlich sein.
An einer Kreuzung kommt mir ein Pulk von Jugendlichen entgegen, Als sie an mir vorüber sind, ist es, als sei ich gerade mitten durch einen Meteorschwarm geflogen.

Kaum habe ich Dreisbach hinter mir, wird es dafür so still, als habe jemand eine riesige Glocke über alles gestülpt.
Minutenlang kein Auto.
Der Fußweg am Rande der Landstraße ist breit und führt durch fast lückenlose Baumschatten.
Nach ein paar hundert Metern endet er allerdings und ich muss die Straßenseite wechseln, wo ich fortan nur noch einen der prallen Sonne ausgesetzten Seitenstreifen zur Verfügung habe, der schmaler und schmaler wird, bis schließlich nichts mehr davon übrig ist.

Der Gedanke, noch einen Kilometer oder mehr auf der Landstraße weiterzulaufen, gefällt mir nicht besonders.
Zu meiner Linken zweigt eine Straße ab, die nach fünfzig Metern in einen Kiespfad übergeht und dann in den Wald führt. Das sieht wesentlich einladender aus, wenngleich das in keiner meiner vorher ausgetüftelten Varianten vorgesehen ist und ich mich schon mal auf Orientierungsschwierigkeiten einrichten kann.

Wahrscheinlich befinde ich mich nur ein paar hundert Meter nördlich des Viezpfades. Ich muss jetzt entweder versuchen, auf irgendwelchen mir unbekannten Pfaden doch noch dort hinzugelangen oder ich lasse mich einfach treiben und bemühe mich in den nächsten Stunden lediglich, mich nicht gar zu weit von der Cloef zu entfernen.
Jedenfalls – ich verlasse die Landstraße und wandere in den Wald hinein.

Es ist beinahe vollkommen still.
Ein leichter Luftzug in den Baumwipfeln und von irgendwoher das Murmeln eines Baches, sonst nichts.
Die Bäume lassen jede Menge Sonnenlicht durch.
Es gibt jetzt nur noch eine dominierende Farbe, nämlich Grün.
An manchen Stellen ist es ein ruhiges Schattengrün, an anderen scheint es zu pulsieren wie etwas Lebendiges.
Wo immer ich hier auch bin, ich hätte es schlechter treffen können.

An einem Baum entdecke ich plötzlich das Logo des Saar-Wanderweges. Das ist immerhin so etwas wie ein Anhaltspunkt. Ich kenne zwar den Verlauf des Saar-Wanderweges nicht, aber dass er zum bekanntesten Aussichtspunkt des gesamten Saarlandes – der Cloef – führt, davon ist wohl auszugehen.

Minute um Minute wandere ich auf einem breiten, sonnenüberfluteten Pfad dahin.
Ich kenne meine Position in Bezug zur Cloef und zur Saarschleife nur ungefähr, aber so viel steht fest, ich darf auf keinen Fall eine Abzweigung nehmen, die nach Süden oder noch weiter nach Westen führt.

Das Logo des Saar-Wanderweges ist irgendwann verschwunden, was die Sache nicht einfacher macht. Aber ich finde immer mehr Gefallen an dem Pfad.
Im Grunde habe ich alles, was ich für den Moment brauche.
Um mich herum ist es himmlisch ruhig. Die wenigen Geräusche, die ich vernehme, sind durchweg angenehm.
Ich habe genügend Schatten, genügend Licht, und unter Zeitdruck stehe ich im Moment auch noch nicht.
Während ich gehe, sehe ich dem Tag dabei zu, wie er erwachsen wird.
Es wird immer heller jenseits der Bäume, aber auch im Wald selbst.
Seltsam, ich habe das Gefühl, ziemlich zielstrebig einen ganz bestimmten Ort anzusteuern, obwohl ich im Moment im Grunde nur ins Blaue hinein laufe.

Irgendwann kurz nach Mittag führt der Weg aus dem Wald heraus.
Neben einem Hochsitz, unter schützenden Schatten, eine Bank.
Der Bank unmittelbar gegenüber ein breites Weizenfeld. An den Ähren sieht man, dass es völlig windstill ist. Jenseits davon eine Straße, die einsam wirkt wie eine Straße in Alaska. Noch weiter weg Hügel mit ein paar Windrädern, die bombastisch groß sind.
Und irgendwo am Rand, aber eigentlich gar nicht so weit entfernt, ein Dorf.
Ob das Tünsdorf ist?
Oder sogar Wehingen, der Startpunkt des Viezpfades?
Beide Varianten wären okay und würden mir einige Möglichkeiten offen lassen.

Eine Weile tendiere ich dazu, dass es sich um Tünsdorf handelt, dann schwenke ich zu Wehingen um.
Natürlich existiert noch eine dritte Variante, nämlich dass ich so weit von meiner ursprünglich geplanten Route abgekommen bin, dass das da vorne auch so ziemlich jeder andere Ort im westlichen Saarland sein könnte, den ich innerhalb eines zweistündigen Fußmarsches von Dreisbach aus zu erreichen imstande bin.
Ich bin im Übrigen auch gar nicht so weit von der luxemburgischen Grenze entfernt. Mehr als 10 Kilometer Luftlinie sind das nicht.

Auf jeden Fall ist dieses Dorf da vorne jetzt so etwas wie ein Anker. Ich habe ein Ziel, auf das ich mich zubewegen kann. Ohne dieses Dorf hätte ich jetzt den Rand eines großen Nichts erreicht, einen Punkt, von dem an ich mich vielleicht noch am Stand der Sonne oder am Moosbewuchs an Baumstämmen orientieren könnte, um wenigstens nicht völlig in die Irre zu gehen.

Ich laufe am Waldrand vorüber auf den linken Rand des Dorfes zu.
Unversehens befinde ich mich unmittelbar neben einer Autobahn. Ich kann die Ortsnamen auf den Schildern nicht entziffern, aber ich schätze, dass es sich um die A 8 handelt, die Deutschland von West nach Ost durchschneidet und an der luxemburgischen Grenze beginnt.
Wenn ich mich nach rechts wende, kann ich weit in der Ferne den Baumwipfelpfad erkennen.

Ich beschleunige meine Schritte.
Laufe eine Senke hinab, dann wieder bergan.
Der Himmel sieht aus wie ein flacher See.
Die Hügel sind nicht allzu hoch, aber sie wirken rau wie die Rückenschuppen von Leguanen.
Jeder einzelne Ausschnitt, den ich betrachte, könnte für sich allein stehen und wäre trotzdem betrachtenswert.
Aber mein Interesse konzentriert sich jetzt auf dieses Dorf.
Ich bin nur noch ein paar Meter vom Ortsschild entfernt.
Überraschung, es ist tatsächlich Wehingen!
Immerhin bin ich von meiner vorhergesehenen Route also nicht ganz so weit abgekommen wie Kolumbus von seinem eigentlichen Ziel Indien.

Mit neuem Elan laufe ich weiter.
In den Straßen ist es leer und heiß wie in einer Wüstenstadt in Arizona Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist nicht weniger still als vorhin im Wald. Ich wandere durch den ganzen Ort und der einzige Mensch, den ich zu Gesicht bekomme, ist ein alter Mann, der auf einer Holzbank hockt.

Hinter dem Dorf beginnen die Obstwiesen.
Apfelbaum reiht sich an Apfelbaum.
Im Saargau, vor allem in der Gegend um Merzig herum, hat der Apfelanbau eine lange Tradition. Nicht zuletzt wird aus Äpfeln auch der im moselfränkischen Raum Viez genannte Apfelwein gewonnen. Womit dann auch der Begriff Viezpfad eine Erklärung gefunden hätte.

Einen Kilometer, vielleicht auch zwei, trabe ich stoisch wie ein Pferd mit Scheuklappen vor mich hin.
Eigentlich könnte ich mir im Moment kaum etwas Schöneres vorstellen als einen schmalen, in die Waldschatten hineingeschmiegten Pfad, am besten ganz leicht abschüssig, so dass man beinahe das Gefühl hat, die Beine gar nicht bewegen zu müssen, um voranzukommen.

Trotzdem überlege ich, ob es nicht sogar besser wäre, auf diesem unkomplizierten, komfortablen Asphaltweg bis Tünsdorf weiterzulaufen und den Wehinger Viezpfad für diesmal einfach zu vergessen. Immerhin würde ich dadurch rund 15 Kilometer einsparen.
Aber die Überlegung versandet exakt in dem Moment, in dem mir unvermittelt ein Holzkreuz samt Wegweiser in die Augen springt: Wehinger Viezpfad.
Na endlich!

Einen raschen Atemzug später bin ich umgeben von Bäumen, deren Stämme kaum dicker sind als Äste, und von schwerelosen, flackernden Schatten. Die Hitze schwächt sich von einer Sekunde zur nächsten ab, als hätte ich einen klimatisierten Raum betreten. Zum ersten Mal für heute – und ich bin ja immerhin schon ein paar Stunden unterwegs – bleibe ich stehen und atme kräftig durch.
Lasse ein paar Augenblicke verstreichen, lasse noch ein paar Augenblicke verstreichen.
Als ich dann weitergehe, habe ich ein Grinsen auf dem Gesicht. Das war vorher alles nicht schlecht, wirklich nicht, aber jetzt ist es viel, viel besser.

Ich laufe noch eine Weile bergab, deshalb ist die Anstrengung, die ich fürs Gehen aufbringen muss, gleich Null.
Es dauert nicht lange und ich fühle mich auf dem Pfad zu Hause, beinahe schon eins mit ihm.
Alles ist wunderbar.
Ich wandere über weite, freie Flächen, auf denen der nächste Zielpunkt immer ein gutes Stück entfernt ist, so dass ich immer weiter und weiter gehe und dabei fast die Illusion haben könnte, gar nicht wirklich vorwärtszukommen.
Ich laufe durch Wald, der von grellem Mittagslicht bis an die Wurzelspitzen der Bäume ausgefüllt ist, aber schon wenige Schritte weiter dringt kaum noch Licht durchs Geäst und in den dunklen Bereichen im Unterholz glimmen plötzlich nur noch ein paar winzige Punkte Helligkeit, so dass es fast aussieht, als würden leuchtende Luftblasen aus der Tiefe der Erde nach oben steigen.
Ich durchstreife eine Welt voller kleiner Wunder und Rätsel, und mit der Zeit werden meine Gedanken träge und leicht zugleich.

Nach einiger Zeit passiere ich die Stelle, an der ich eigentlich vor Stunden auf den Viezpfad stoßen wollte. In vielleicht hundert Metern Entfernung sehe ich die Umrisse eines Gebäudes. Hinter einem Zaun ein verrottendes Auto.

Ich biege im rechten Winkel ab und tendenziell bewege ich mich von diesem Moment an wieder auf Wehingen zu.
Allerdings schlägt der Weg noch jede Menge Haken und beschreibt unzählige Kurven und Schnörkel, ganz abgesehen davon, dass ich natürlich nicht vorhabe, nach Wehingen zurückzukehren, denn mein Plan sieht vor, irgendwo in oder hinter Tünsdorf auf den Saar-Hunsrück-Steig zu wechseln, und dazu muss ich einen oder zwei Kilometer vor Wehingen den Viezpfad verlassen.

Nach dem riesigen Umweg hinter Dreisbach ist es wenig überraschend, dass allmählich die Komponente Zeit ins Spiel kommt.
Ich muss nicht hetzen, aber allzu viele Extrakilometer sollte ich besser nicht mehr machen, wenn ich in Mettlach noch einen Zug erwischen will.

Die 30-Grad-Grenze ist mittlerweile längst überschritten. Es herrscht eine windlose, stechende Hitze. Über den Wiesen ein Flirren wie von Myriaden durchsichtiger Schmetterlingsflügel.
Im Wald dagegen stehen die Bäume meist so eng beieinander, dass das Flirren nur irgendwo weit weg zu erahnen ist.

Wie Treibholz ans Meeresufer wird ein Gedanke herangespült, den ich ein paar Augenblicke lang festhalte: Was ist Gehen im Grunde anderes als der Versuch, die Welt ohne Worte zu erfassen? Vielleicht nicht einmal die Welt in ihrer Gesamtheit, sondern die eigene, erheblich kleinere, erheblich eingeschränktere Welt.
Aber selbst wenn das tatsächlich eine Rolle spielen sollte, irgendwann während des Unterwegsseins vergisst man das ohnehin alles, man geht und geht und tut, was getan werden muss.

An einer Stelle, an der ein Maischekelter am Straßenrand steht, verlasse ich den Wehinger Viezpfad und wandere auf Tünsdorf zu.
Das Nachmittagslicht hüllt die Landschaft ein wie ein Kokon.
Ringsum Hügel neben Hügel.
Am Wegrand bauchnabelhohes, dürres Gras mit ein paar Feldblumen mittendrin.

Ich lasse mich über eine Kuppe hinwegtragen und dann sehe ich in nicht allzu weiter Entfernung auch schon die ersten Häuser von Tünsdorf.
Ich trabe über einen von der Mittagssonne aufgeheizten Asphaltweg darauf zu. Die wenigen Wolken am Himmel sind dünn wie Seifenblasen. Am Ende des Asphaltweges überquere ich eine Landstraße und ein paar hundert Meter weiter biege ich in eine steile Wohnstraße ab.

Auch Tünsdorf hat nicht einmal 1000 Einwohner.
Vier von ihnen begegne ich bei meinem Gang durch das Dorf, also immerhin drei mehr als in Wehingen, aber insgesamt wirkt hier alles ein bisschen wie im Sommerurlaub.
Am Ortsende stoße ich wieder auf die Landstraße, die ich vorhin überquert habe und die ich jetzt ein weiteres Mal überqueren muss.
Irgendwo bei den allerletzten Häusern entdecke ich dann zum ersten Mal das Symbol des Saar-Hunsrück-Steiges, was bedeutet, dass ich eine Sorge weniger habe.

Danach wandere ich auf einem wie mit dem Lineal zwischen Wiesen und Weiden hineingezeichneten Kiesweg in Richtung Wald.
Grasland.
Hügelland.
Lichtland.
Da ist nichts Verschwommenes, nichts Konturenloses.

Mit dem ersten Schritt im Wald sind die Schatten zurück.
Es sind keine schweren Schatten, sondern Schatten wie aus Nebelfäden gesponnen.
Auf dem Boden überall Steine.
Die hat es bisher an diesem Tag überhaupt noch nicht gegeben, aber von hier bis zur Cloef und später dann von der Cloef hinunter nach Mettlach gibt es Steine in rauen Mengen. Zweimal muss ich sogar über riesige Steinhügel hinwegklettern.
Es ist ein ganz anderes Wandern als vorher auf dem Viezpfad, aber es ist genauso grandios.

18 Uhr.
Jedes Geräusch klingt jetzt nach Abend. Was beinahe grotesk ist angesichts eines immer noch mittagshellen Himmels und in Anbetracht der Tatsache, dass es außerhalb des Waldes heiß ist wie in einem Backofen.
Hinter einer Weiheranlage stehe ich plötzlich vor einem wuchtigen Gebäude. Ich würde es für ein Landhotel halten, wenn nicht an der Frontseite des Hauses in großen, gelben Lettern „Meditationszentrum“ stehen würde.
Ich zögere etwas, denn der Saar-Hunsrück-Steig führt mitten über das dazugehörige Grundstück und irgendwie finde ich das irritierend.
Ich gehe trotzdem weiter. An der Längsseite des Hauses hockt ein Mann an einem Tisch, in ein Buch vertieft. Okay, gleich werde ich dem wohl erklären müssen, weshalb ich sein Grundstück betrete und was ich hier zu suchen habe. Aber stattdessen sagt er nur „Hallo“ und beschäftigt sich dann wieder mit seinem Buch.

Eine Minute später befinde ich mich schon wieder im Wald. Der Boden ist von scharfkantigen, flachen Steinen übersät.
Ich gehe rasch, aber es ist immer noch eine kontrollierte Eile.
Ich überlege, wie viele Kilometer ich mittlerweile schon gewandert bin und komme auf weit über vierzig. Die Zeit springt in Stücke und setzt sich zu etwas zusammen, in dem Minuten länger sind als die Minuten, die ich gewohnt bin.
Alles friedlich, alles in sich ruhend.
Ich habe das Gefühl, dass es nichts gibt, das zu tun ich gezwungen bin.
Vielleicht ist dies das Wesentliche, nicht für immer, aber für den heutigen Tag.
Es gibt nichts, das zu tun ich gezwungen bin.
Aufs Gehen bezogen, versteht sich.

Bis zur Cloef ist es jetzt nur noch ein Steinwurf.
Was in den gut 40 Kilometern zuvor schon auf dem Programm stand, das erlebe ich jetzt noch einmal als Kurzfassung: Wege an Feldern und Wiesen vorüber, die weit vorne ins Himmelsblau hineinkippen, malachitgrüne Hügelwellen am Horizont, geschwungene Pfade in stillen Wäldern, der helle, warme Schein über der Landschaft, dem aber fast schon etwas Spätsommerliches anhaftet.

Wie so oft bei einer langen Wanderung reduziert sich ab einem bestimmten Zeitpunkt meine Aufmerksamkeit für die Dinge um mich herum. Zugleich aber wird sie in manchen Augenblicken subtiler, feinmaschiger.
Ungefähr zwei Kilometer, bevor ich die Cloef erreiche, ist es dann allerdings vorbei mit jeder Art von Subtilität. Ich will endlich bei der Cloef ankommen. Für diese zwei Kilometer ist der Wanderpfad, auf dem ich mich bewege, nur noch etwas, das ich irgendwie hinter mich bringen muss.
Erstens möchte ich den Blick auf die Saarschleife schließlich noch bei einigermaßen hellem Tageslicht genießen können.
Zweitens ist der Saar-Hunsrück-Steig auf diesem Streckenabschnitt identisch mit der Saarschleifen-Tafeltour, die ich ja bereits von einer früheren Tour her kenne, zumindest teilweise. Damals bin ich allerdings aus der entgegengesetzten Richtung gekommen und dann ins Steinbachtal hinabgewandert.
Drittens ist das Wenige, das von meinen Wasservorräten noch übrig ist, inzwischen heiß wie ein Geysir, und ich brauche dringend Nachschub.
Viertens …
Aber eigentlich genügen diese drei Gründe völlig.

Je mehr ich mich der Cloef nähere, desto belebter wird die Szenerie.
Ich gehe an Kleingärten vorüber, in denen Leute beim Bier sitzen, Spaziergänger kommen mir entgegen, die Luft ist erfüllt von Stimmen.
An den Tischen des Bistros draußen vor dem CloefAtrium hocken ein paar Dutzend Leute unter Sonnenschirmen. Eine Band von Ü 50-Musikern probt Siebziger-Jahre-Rock.

Ich schlurfe erst einmal zu dem Getränkestand hinüber, den ich am Rande des Treibens ausmache und kaufe mir zwei große Flaschen Mineralwasser. Danach stehe ich ein paar Minuten einfach nur herum und beobachte.
Das Ganze ist viel weniger hektisch, als es im ersten Moment meiner Rückkehr aus dem einsamen Walduniversum, in dem ich mich in den vergangenen Stunden aufgehalten habe, ausgesehen hat.
Ein paar Spaziergänger, ein paar Besucher des Baumwipfelpfades, dessen Kassen allerdings schon seit einiger Zeit geschlossen sind, und die Gäste des Bistros – von Menschenmassen kann da wirklich keine Rede sein.
Okay, jetzt bin ich rund 45 Kilometer weit gewandert, nun ist es an der Zeit für den Höhepunkt der heutigen Tour.

Ich glaube, unterschwellig war meine Erwartung, dass das Saarschleifenpanorama mich gar nicht mehr so sehr beeindrucken würde, da ich es schließlich im Laufe der Zeit schon fünfmal oder noch häufiger betrachtet habe. Ich glaube, ich rechnete damit – unterschwellig -, dass ich es lediglich als Wiederauffrischung eines Eindrucks, als Reproduktion von etwas Altbekanntem ansehen würde.

Aber was auch immer ich vorher erwartet oder gedacht haben mag, es ist anders.
Es gibt so vieles bei der heutigen Tour, was man als schön oder als großartig bezeichnen kann, aber dieser Blick auf die im Abendlicht schimmernde Saarschleife hinab stellt alles an diesem Tag bei weitem in den Schatten.
Ich stehe auf der Aussichtsterrasse und unter mir breitet sich ein traumhaftes Naturpanorama aus, das nicht nur aus der Saarschleife selbst besteht, sondern zu dem auch die bewaldeten Hügelkuppen an den Ufern des Flusses gehören, und vor allem auch der schier ins Unendliche gerichtete Blick in eine fast horizontlose Ferne.

Es ist eines jener Erlebnisse, bei denen man sich entweder besonders klein vorkommt oder aber bei denen man sich für alle Zukunft unangreifbar wähnt.
Und bei dem man für einen einzigen Moment, kürzer als der Schatten eines Gedankens, den innersten Kern der Schönheit erblickt.

Von der Cloef aus habe ich noch ungefähr sieben Kilometer bis zum Bahnhof in Mettlach zurückzulegen.
Ich bleibe auf dem Saar-Hunsrück-Steig, dessen Verlauf auch auf diesem Abschnitt exakt dem der Saarschleifen-Tafeltour entspricht. Es geht zwar von jetzt an meistens bergab, trotzdem ist das Terrain wegen der immer wieder zu überwindenden kleineren und größeren Steinhügel nicht so locker zu bewältigen, wie es mir lieb wäre. Aber die Blicke auf die Saar mit der allmählich hinter den Bergrücken verschwindenden Abendsonne sind so großartig, dass ich das gerne hinnehme.

Als ich die ersten Häuser von Mettlach erreiche, ist endgültig die Dämmerung hereingebrochen. Ich überquere die Brücke über die Saar, laufe an der Alten Abtei vorüber und biege kurz darauf in die Bahnhofstraße ein.

Weit über 50 Kilometer sind es letztlich geworden, aber mehr als bei jeder anderen Tour zuvor, empfinde ich den Abschluss dieser Wanderung fast schon wieder als so etwas wie den Auftakt zur nächsten.

 

Noch eine Tour im westlichen Saarland:

 Tour 59 Fremersdorf – „Der Bietzerberger“

Erster Teil: Der Wind

Der Anfang entspricht ziemlich exakt dem, was er-

warten werden kann, wenn man sich an einem kalten

Dezembermorgen irgendwo im Niemandsland zu einer

Wanderung aufmacht.

Da ist dieser Bahnsteig, beginnend und endend in dun-

stigem Grau…    weiterlesen      Bildergalerie

 

6 Comments

  • Mata

    Wunderbar, sowohl Text als auch Wanderung! Da bekommt man ja richtig Lust, selbst auch einmal fünfzig Kilometer zu wandern. Hat viel Freude gemacht beim Lesen.

    Grüße, Mata

    • gorm

      Es war eine tolle Wanderung, das kann man nicht anders sagen. Und wie so oft hat sich auch der Umweg zu Beginn der Tour im Nachhinein als Gewinn erwiesen. Vielen Dank für den positiven Kommentar.:-)

      Grüße
      Torsten

  • Jana

    „Ich spüre eine hell lodernde Freude in mir, unterwegs zu sein und noch jede Menge Kilometer vor mir zu haben.“ Was für eine tolle Wanderung, was für ein wunderbarer Text! Großartig, lieber Torsten, wie es dir immer wieder gelingt, einen beim Lesen so in den Bann zu ziehen, als ginge man die Strecke selbst. Mit jedem Wort drückst du deine Freude beim Wandern aus, die auch nach rund 50 Kilometern nicht gebändigt ist. Und du nimmst unheimlich viel wahr!
    Diese Wanderung gehört mit zu deinen schönsten, oder? Die Cloef scheint ein absolutes Highlight zu sein.

    Liebe Grüße
    Jana

    • gorm

      Vielen Dank für den Kommentar, liebe Jana.:-)
      Lange Wanderungen bieten eben oft viel Abwechslung und es sammeln sich jede Menge Eindrücke und Erlebnisse kleinerer und größerer Art an. Von dieser Tour habe ich mir von Anfang an viel versprochen. Ein in sich abgerundeter Premiumweg, ein paar Kilometer auf einem Fernweg, dazu dann der Beginn an der Saar entlang plus zu guter Letzt die Cloef – da sprach wirklich ganz viel dafür, dass das eine außergewöhnliche Tour werden würde. So kam es dann auch.:-)
      Ich muss sagen, dass auch der Saar-Hunsrück-Steig Lust auf mehr gemacht hat. Mal sehen, ob ich den einen oder anderen Abschnitt dieses Fernweges bald wieder in eine Wanderung integrieren kann.

      Liebe Grüße
      Torsten

  • Klaus

    Klare Leseempfehlung von mir für diesen Text. Man muss schon ein bisschen Zeit mitbringen, aber man kann den Text ja auch in mehreren Etappen lesen, so wie ich es gemacht habe. Die Saarschleife ist schon ein Hingucker.

    Mit Gruß von Wanderer zu Wanderer
    Klaus

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