Es ist die erste Tour des noch jungen Jahres.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich fast so ein
wenig das Gefühl habe, zu einer längeren Pilger-
tour aufzubrechen, obgleich es nicht einmal eine
allzu lange Wanderung werden wird und obgleich
an diesem Tag kaum etwas zu finden ist, was über-
haupt dazu ermuntert, stundenlang durchs Gelände
zu marschieren.
Wie bei so vielen Touren zuvor ist das im Grunde jedoch
eine ganz unkomplizierte Entweder-oder-Angelegenheit:
Entweder ist der innere Antrieb vorhanden oder eben
nicht, entweder man richtet sich auf die Umstände ein
oder es ist besser, man bricht gar nicht erst auf.
Zum Auftakt gibt es ein paar zaghafte Sonnenstrahlen,
die den Bahnsteig mit einem Gespinst aus kaltem,
leuchtendem Winterlicht überziehen. Ich würde ja
gerne sagen, dass mich dieses Licht auf der gesamten
Wanderung begleitet, aber die Wahrheit ist, dass es
nur ein Intermezzo bleibt und dass ich nicht einmal
eine Stunde später durch ein düsteres, gleichsam ver-
sinkendes Regenland wandern werde, in dem es
buchstäblich nicht einen einzigen Lichtblick mehr
geben wird.
Vor knapp zwei Jahren bin ich schon einmal von die-
sem Bahnsteig aus gestartet.
Auch damals ein Wintertag.
Auch damals dieses besondere Grenzwegegefühl, das
daraus resultiert, dass ich mich hier in unmittelbarer
Nähe zu Frankreich befinde und dass so ziemlich je-
der Quadratmeter Erdboden ringsumher Teil einer
Historie ständig wechselnder politischer und gesell-
schaftlicher Gegebenheiten ist, nicht zu reden von den
vielen vergessenen und den wenigen nicht in Verges-
senheit geratenen individuellen Schicksalen.
Die Strecke von heute allerdings ist für höchstens
zweihundert Meter identisch mit der von damals, näm-
lich exakt bis zu der kleinen Brücke über die Nied
mitten im Ort. Vor zwei Jahren habe ich die Brücke
überquert und bin weiter zum Start des Druidenpfades
marschiert, heute lasse ich die Brücke rechts liegen und
wandere geradeaus weiter.
Eine erste noch ziemlich flüchtige Ahnung von stumpfem
Grau am Himmel. Das heißt, wenn man etwas genauer
hinsieht, ist es bereits erheblich mehr als nur eine flüch-
tige Ahnung.
An einem Straßenschild bemerke ich das Symbol des
Ammonitenweges. Ich komme gar nicht erst dazu, da-
rüber nachzudenken, ob ich damit gerechnet habe, es
so rasch und problemlos zu entdecken. Die wesentlich
größere Überraschung ist jedenfalls der Wegweiser
des Grenzblickweges, an dem ich kurz darauf vorüber-
laufe. Okay, wenn ich es mir recht überlege, dann ist
es eher erstaunlich, dass es so überraschend für mich
ist, hier auf den Grenzblickweg zu stoßen, denn dass
dieser in einem Nachbarort von Niedaltdorf startet, war
mir schließlich bekannt.
Unmittelbar hinter den letzten Häusern ein erster Fern-
blick, einer von vielen an diesem Tag: Felder, Wiesen,
Baumruinen, kleine Hügelwellen, eine hinter der an-
deren, wie abgesunken die Mulden und Vertiefungen
dazwischen, eine völlig entkleidete, nackte Landschaft.
Obwohl der Himmel so etwas wie blau ist, kein Leuch-
ten.
Der Wind wird stärker, aber noch bleibt
die Sonne. Im Wald matteres Licht,
über den Wipfelästuaren der Bäume
strömt dafür ein plötzlich doch intensiv
leuchtender Himmel dahin. An manchen
Stellen tasten Ausläufer dieses Leuchtens
sich die Stämme hinab bis fast zu den
Wurzeln vor, Moos schimmert grün
zwischen braunem, vermodertem Laub
hervor.
Irgendwo im Wald biegt der Ammoniten-
weg nach links ab, ich aber laufe noch
ein paar hundert Meter auf dem Grenz-
blickweg weiter.
Was die Intensität des Lichts betrifft, ist
das vielleicht der beste Kilometer der
gesamten Wanderung. In einer Ent-
fernung, in der nicht einmal eine
Stunde später alles hinter einem
grauen Vorhang verschwunden sein
wird, erkenne ich jetzt noch jedes
Detail der Landschaft. Das Grün der
Wiesen ist ein richtiges Grün, das
Blau des Himmels ein richtiges Blau.
Zurück auf dem Ammonitenweg steige
ich einen steilen Pfad hinab, der wahr-
lich nicht dafür gedacht ist, an einem Tag als
Wanderweg zu dienen, an dem man ohnehin schon
beinahe auf Schritt und Tritt aufpassen muss, nicht
auf irgendeiner tückischen Stelle auszurutschen.
Von einem Augenblinzeln zum nächsten ist die Sonne
weg, überall nur noch graues Licht. Die Luft ist feucht
und schwer. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein,
bis es anfangen wird zu regnen.
Ich laufe an einem Weiher vorüber, an dessen Rand sich
irgendwie ein paar allerletzte Lichtinseln gehalten
haben. Wate dabei über einen Pfad, der sich mit Nässe
vollgesogen hat wie ein Handtuch.
Auf dem Weg hinauf zum Sudelfels
ist es auch nicht viel besser, aber
immerhin bietet der wie mit ganz
leichter Hand in die Landschaft hinein-
gezeichnete Pfad eine gewisse op-
tische Ästhetik.
Oben angekommen, stehe ich dann
vor den Überresten eines gallo-römischen
Quellheiligtums, dessen früheste
Ursprünge irgendwo um das 1. Jahr-
hundert herum vermutet werden. Die
am Rande des Areals liegende villa
rustica allerdings kam wohl erst 100
bis 150 Jahre später hinzu.
Ein paar Schritte weiter entdecke ich
einen von Steinen eingefassten Brunnen,
bei dem es sich um ein der keltischen Göttin Sirona
geweihtes Nymphäum handelt.
Kurzes Nachdenken über Zeiträume.
1900 Jahre hört sich nach einer enormen Zeitspanne
an. Aber es sind letztlich nicht mehr als 25 aneinander-
gereihte menschliche Lebenswege, 25 mal rund 75
Jahre, was das Ganze nach meinem Empfinden um
einiges überschaubarer macht.
Dann beginnt der Regen.
Ein kalter, unaufhörlicher Regen, der im Handumdrehen
alles in eine verschwommene, zerfließende, kon-
turenlose Wasserwelt verwandelt.
Die Landschaft wirkt düster und einsam, die Bäume sind
fast schwarz und es sieht aus, als würden sie jeden Mo-
ment im Regen davontreiben.
Eigentlich fehlen jetzt nur noch ein englisches Hochmoor
und der Hund von Baskerville.
Der Regen lässt keine Sekunde lang
nach und er wird begleitet von Böen,
die in immer kürzeren Abständen auf-
treten.
Jedes Mal, wenn ich einen kurzen Blick
in die Runde werfe, ist das dunstige
Gespinst über den Wiesen noch eine
Spur grauer geworden.
Es dauert keine Viertelstunde, da gibt es
nur noch mich und den Regen und den
Wind. Und vielleicht noch den Gedanken,
warum es sich gerade trotz allem so anfühlt, als
würde ich genau das Richtige am richtigen Ort
tun.
Einerseits ist der stete Regen natürlich lästig, und dass
ich die kalten Windböen zu schätzen wüsste, kann ich
auch nicht gerade behaupten. Aber da gibt es auch noch
eine andere Sicht auf die Dinge, und die besagt, dass
eine Wanderung durch den Regen durchaus einen ge-
wissen Reiz haben und vielleicht sogar so etwas wie
inspirierend sein kann.
Obwohl ich mich auf einer dem Wind preisgegebenen,
nach allen Seiten hin schutzlosen Anhöhe befinde, bewege
ich mich fast wie in einem umschlossenen gläsernen
Raum, das Prasseln des Regens übertönt jedes andere
Geräusch. Falls in dieser einsamen Wasserwelt über-
haupt andere Geräusche vorhanden sein sollten.
Wie üblich bei Regenwanderungen wird der Aus-
schnitt der Umgebung, den ich noch wahrnehme,
kleiner und kleiner, die Blicke in die Weite werden
seltener, ich setze einfach einen Schritt vor den
nächsten.
Gehen kann uns zu unseren Wurzeln führen, in eine
Innenwelt besonders stiller oder besonders klarsich-
tiger Gedanken, es kann uns herausführen aus dem
Treibsand von Erinnerungen und Ahnungen und Ober-
flächlichkeiten des Alltags, kann Türen zu Kam-
mern in unserem Denken öffnen, die wir sonst nur sel-
ten betreten.
Und an Tagen, an denen es Regen und Wind gibt an-
statt eine die Umgebung bis ins winzigste Detail of-
fenbarende Sonne, da ist das vielleicht sogar eher mög-
lich.
Vorausgesetzt, man hat nicht so sehr mit den widrigen
Umständen zu kämpfen, dass man ohnehin gar nicht
mehr richtig nachdenkt, sondern es nur noch ums Durch-
halten und Überstehen geht.
Es regnet ohne die kleinste Unterbrechung.
Die Zeit scheint langsamer zu vergehen.
Minute um Minute wandere ich über einen grauen Asphalt-
weg. Das Grün der Wiesen ist zwar erstaunlich intensiv,
aber nur in unmittelbarer Nähe. Schon in hundert Metern
Entfernung verschwimmt alles im Regendunst und wirkt
dadurch so fern wie der Mond über Island in einer Nebel-
nacht.
Irgendwann – deutlich früher als erwartet – stoße ich auf
den ersten Wegweiser der Hirn-Gallenberg-Tour.
Ich biege auf eine glitschige Wiese ab, die aber im Ver-
gleich zu dem schlammigen, von nassem Laub be-
deckten Waldpfad, auf dem ich mich wenig später
voranarbeite, fast komfortabel erscheint.
Im Wald existiert auch nichts Grünes mehr. Dominant
ist jetzt ein fast bräunliches, ziemlich schäbiges Rot.
Ich halte trotzdem immer wieder mal im Gehen inne.
Manchmal nur für ein paar Atemzüge, manchmal für einen
ausgedehnten Rundumblick. Natürlich kann man nicht
einmal ansatzweise so weit in die Ferne schauen wie an
einem hellen Sommertag, aber dieser dunstige, sich
im Ungewissen verlierende Horizont ist auch nicht
schlecht.
Um die Mittagszeit herum befinde ich mich auf dem
Hirnberg.
Schon wieder so eine vom Wind in Besitz genommene
Anhöhe.
Ich steige den hölzernen Aus-
sichtsturm hinauf, der weithin sicht-
bar dort aufgestellt worden ist.
Pi mal Daumen ist die Grenze zu Frank-
reich nicht mehr als 500 Meter entfernt.
Der Regen hat aufgehört, aber dennoch
gibt es keine weiten Horizonte. Alles
wirkt ein wenig, als würde ich es
durch eine beschlagene Brille betrach-
ten.
Allmählich kriecht die Kälte in jede Kuhle, in jeden
Graben.
Vom Hirnberg aus schlittere ich mehr als ich gehe in
eine Senke hinab.
Trotzdem ist das ein sehr schöner Abschnitt, vorüber
an ehemaligen Weinbergen und dann über schmale
Stufen zwischen efeuumrankten Bäumen hindurch.
Kaum bin ich unten, darf ich sofort wieder bergauf
marschieren.
Es gibt jetzt nichts Helles mehr, nur noch Grau, und
mittlerweile rechne ich auch nicht mehr damit, dass sich
das noch einmal ändert.
Aber so kann man sich täuschen.
Nicht einmal eine Viertelstunde später stiehlt sich ganz
allmählich und behutsam die Sonne ins Grau. Wärme
bringt sie zwar nicht mit sich, aber dafür ein wunder-
bares, goldgelbes Licht, das einen die Januarkälte ver-
gessen lässt.
Der Himmel ist nicht länger ein dunkler
See, die Horizonte rücken wieder
weiter weg.
Auch der Wald ruht still und hell in dem
neu entfachten Licht. Es ist ein leerer
Wald, er sieht aus wie aus vielen Ein-
zelteilen zusammengesetzt. Nichts
scheint sich zu berühren, überall Lücken
und Schneisen, überall freie Korridore.
Die Hirn-Gallenberg-Tour ist weniger
als acht Kilometer lang, und ich gehe sie nicht
einmal bis ganz zu Ende, sondern biege ein paar
hundert Meter vor dem Ziel wieder ab in Richtung
Niedaltdorf.
Ich wandere nun auf einem irgendwo
in der Ferne mit dem Horizont ver-
schmelzenden Weg dahin, rechts und
links Wiesen wie ausgerollte Teppiche,
sanft glänzend in der Sonne, weit
draußen bläulich schimmernde Hügel.
Am Himmel gibt es zwar mehr Wolken
als Irrtümer in der Geschichte der Wis-
senschaften, aber ungeachtet dessen
behält die Sonne jetzt die Oberhand. End-
lich kann ich den Blick richtig weit voraus-
eilen lassen. Zum allerersten Mal für heute
ist da dieses Gefühl, dass der Pfad mich
mit sich trägt, ich fühle mich beinahe als
Teil des Weges und der Landschaft.
Ich passiere – allerdings aus der
entgegengesetzten Richtung kommend – die
Stelle, an der ich am Vormittag auf die Hirn-Gallenberg-
Tour abgebogen bin, und wenig später trabe ich
an der Abzweigung zum Sudelfels vorüber.
Lange bevor ich Niedaltdorf erreiche, sehe ich es schon
in einer Senke vor mir liegen.
Irgendwie erwarte ich immer noch, dass die Sonne wie-
der hinter dichten, schwarzen Wolken verschwindet oder
dass es aus heiterem Himmel zu regnen beginnt, aber
nichts davon geschieht.
Es fühlt sich beinahe an wie Frühling in Paris.
Ich finde es immer wieder erstaunlich, was du aus den Wanderungen herausholst und wie du eine Atmosphäre herstellst, die es einem erlaubt, sich hineinzudenken und hineinzufühlen. Das geht mir wirklich schon seit der allerersten Wanderung so, so sehr sich der Blog im Laufe der Zeit auch verändert hat.
Grüße, Mata
Vielen Dank für den Kommentar.:-)
Ja, der Wanderblog hat sich ganz sicher verändert. Die Texte sind immer länger geworden – analog zu den Touren selbst -, die Schreibintensität ist ebenfalls nicht mehr vergleichbar, und ein paar andere Dinge ließen sich auch noch aufzählen. Mal sehen, wohin sich die Sache noch bewegt. Letztlich hängt natürlich einiges davon ab, wie die Entwicklung der Leserzahl ist.
Beste Grüße
Torsten
Die ersten Sätze der jeweiligen Touren auf der Startseite haben mich neugierig gemacht. Ich habe einige Texte angelesen, bin bei einigen hängen geblieben. Hat Spaß gemacht. Ich komme gerne wieder.
Und wieder eine so wunderbar beschriebene Wanderung, dass man sie beim Lesen direkt mitgehen kann! Aber das wundert nicht, denn schließlich zeichnet genau das – dieses äußerst bildliche Beschreiben, bestückt mit der ein oder anderen Metapher – deinen Blog aus.
Die erste Tour des Jahres war also wieder mal größtenteils eine Regentour. Die nächsten Wanderungen sind auch schon terminiert – du scheinst nach Ausheilen der Knieverletzung nun wieder zu regelmäßigen Wanderungen überzugehen. Und eine gemeinsame Wanderung steht auch bevor, darauf freue ich mich schon sehr, lieber Torsten!
Liebe Grüße ins Saarland
Jana
Vielen Dank für deinen Kommentar, liebe Jana.:-)
Ähnlich wie letztes Jahr in Neustadt war das einfach so eine Art Prolog. Damals Regen von der ersten bis zur letzten Sekunde, dazu Nebel, was der Sache mimitunter einen etwas mystischen Anstrich gab. Diesmal war es eher etwas melancholisch, aber letztlich macht mir Gehen bei nahezu jedem Wetter Spaß, wirkliche Extreme natürlich ausgenommen.
Ich hoffe sehr, dass sich jetzt doch zügig die Vorboten des Frühlings zeigen werden, dann können wir loslegen mit den gemeinsamen Touren.:-)
Liebe Grüße für dich
Torsten