Die ersten Tage des Sommers sind nicht mehr fern.
Hell, klar, licht, beinahe durchsichtig ist der Himmel,
nur irgendwo am Rand ein Schatten von unnachgiebigem
Grau.
Es ist fast Mittag.
Ein letzter Rest nächtlicher Stille ist noch übriggeblieben,
allmählich zerfallend wie die verwitterte Spur einer alten,
unbekannten Schrift.
Kurze Bestandsaufnahme: Ich bin in Soden, unweit von
Aschaffenburg, wo ich irgendwann im August des vergange-
nen Jahres – an einem Tag, der ähnlich hell und warm ge-
wesen ist wie der heutige – Etappe Nummer 10 meiner
Marienwegtour beendet habe. In den Tagen danach folgten
damals noch die Etappen 11 bis 13, die mich von Würzburg
nach Marktbreit führten. Die Lücke zwischen Soden und
Würzburg, die sich daraus ergeben hat, ist zu schließen, und
an diesem strahlenden und von irgendeinem Tag im Hoch-
sommer nicht zu unterscheidenden Maitag beginne ich da-
mit.
Das Etappenziel für heute ist Kleinwallstadt, eine Strecke,
die alles in allem etwa 20 Kilometer betragen dürfte.
Für den späten Nachmittag ist Regen vorausgesagt.
Kein Problem, solange es sich nicht um einen Regen
handelt, der binnen Minuten aus einem staubtrockenen,
unscheinbaren Waldpfad eine Kneippanlage macht. Und
solange sich kein Gewitter hinzugesellt.
Ich wandere los, zum Ort hinaus in den Wald hinein.
Es dauert zehn Minuten.
Zehn Minuten, bis ich die Bewegung, den Rhythmus des
Wanderns als so selbstverständlich empfinde, als sei ich
bereits stundenlang unterwegs.
Es dauert zwanzig Minuten.
Zwanzig Minuten, bis ich den Eindruck habe, dass ein
Hauch des schimmernden Mittagshimmels und des sanf-
ten Waldgrüns gleichsam in meinem Atem mitströmt
und mir bewusst wird, dass es außer dem Rauschen sich
im Wind wiegender Baumwipfel kein Geräusch mehr gibt.
Unwillkürlich bleibe ich stehen und ein
paar federleichte Augenblicke lang lausche ich
in die Stille hinein.
Dann wandere ich weiter.
Der Weg ist breit und es gibt so gut wie keine
Steigungen.
Wohin mein Blick auch fällt, überall Licht. Selbst
die Schatten am Rande des Weges und zwischen
den Stämmen der Bäume wirken hell.
Eine Wegkreuzung.
Nach so ziemlich allen möglichen Richtungen zweigen
Pfade ab. Schräg gegenüber eine gar nicht mal so kleine
Kapelle. Es handelt sich um Wallfahrtsstätte Nummer 12
des Marienweges, „Maria Frieden“. Was bedeutet, dass
ich bereits auf der Höhe des Aschaffenburger Stadtteils
Obernau bin.
Auf einem der zahlreichen Wegweiser, die ich hier ent-
decke, sehe ich dann auch tatsächlich den Hinweis: „Ober-
nau 1,5 Kilometer“.
Der Weg nach Obernau führt nach rechts, ich dagegen stapfe
geradeaus weiter.
Der stille Mittag summt sein Frühlingslied vom grünen
Rauschen der Baumwipfel und von den schweigenden Schat-
ten.
Kniehohes Gras am Wegrand, manchmal ein paar niedrige
Sträucher.
Das Sonnenlicht wandert an den Stämmen der Bäume ent-
lang immer tiefer, es ergießt sich über die grauen Wurzel-
stränge, überflutet den Waldboden wie ein kleiner See.
Schnurgerade zieht der Weg sich durch den
Wald, senkt sich dabei kaum merklich. Die
Bäume stehen weit auseinander, so dass
immer wieder der Eindruck entsteht, der
Wald sei bald zu Ende.
Gut, irgendwann ist er natürlich tatsächlich zu
Ende.
Ich laufe ein Stück über Asphalt, dann auf
einem Steg über einen fast ausgetrockneten
Bach hinüber, später dann säumen zu bei-
den Seiten sattgrüne Wiesen meinen
Weg.
Wind kommt auf.
Binnen weniger Augenblicke wird der eben noch helle,
leuchtende Sommerhimmel staubgrau, aber noch ehe
ich mir Gedanken darüber machen kann, ob der Regen
einige Stunden früher kommt als angekündigt, reißt
die Wolkendecke auch schon wieder auf. Das Licht ist
wieder ein Sommerlicht, die Sommerschatten sind wie-
der Sommerschatten.
Was den Pfad betrifft, so kann jetzt von schnurgerade keine
Rede mehr sein. Beinahe unaufhörlich wechselt er die
Richtung, schlägt Haken, biegt um Kurven, rollt über
kleine Bodenwellen hinweg, wird dabei oft unmerklich
immer schmaler. Um mich herum Muster und Formen,
die ich im Detail gar nicht wahrnehme, die nur irgendwie
vorhanden sind und die sich auflösen in allgegenwärtiges,
schillerndes Grün.
Ich nähere mich Sulzbach am Main.
Mittlerweile ist es richtig heiß geworden.
Die wenigen Wolken sind dünn wie Japanpapier und
in den Straßen findet sich kaum Schatten.
Dafür ist der Weg – erst einmal – alles andere als be-
schwerlich.
Eine breite, völlig flache Straße, dann eine lange Trep-
pe, die hinabführt zu anderen breiten, flachen Straßen.
Müheloser kann Gehen kaum sein.
Mir ist klar, dass das so nicht bleiben wird.
Ich befinde mich inzwischen ganz unten
im Tal, ringsum alles voller Hügelkuppen.
Ein paar Straßen weiter kommt denn auch der er-
wartete Anstieg. Dass er besonders lang wäre,
kann man nicht behaupten, aber er beinhaltet
ein paar richtig steile Rampen.
Als ich oben bin, werde ich immerhin mit
einem ganz netten Fernblick über Sulzbach
hinweg bis zu einem bläulich schimmernden
Horizont aus Himmel und Hügeln belohnt.
In dem Wäldchen, das ich wenig später durchwandere, wird
der Pfad unübersichtlich wie ein Untertagebergwerk. Er ver-
zweigt sich in immer winzigere Ästuare, der Boden ist
holprig und zerfurcht, und zu allem Überfluss ist das
Marienwegsymbol an mehreren Stellen so angebracht,
dass mehr als eine Richtung in Frage kommt.
Ich laufe viele kleine Umwege, muss immer wieder um-
kehren, weil sich herausstellt, dass der eingeschlagene
Weg doch nicht der richtige gewesen ist, und habe irgend-
wann das Gefühl, so ziemlich jeden Quadratzentimeter
des Waldes erkundet zu haben.
Als ich endlich wieder aus dem Wald heraus bin, stoße
ich auf einen Wegweiser, auf dem die Entfernung nach
Sulzbach mit 2,5 Kilometern angegeben ist. Die häufigen
Umwege haben jedoch dazu geführt, dass ich seither mehr
als vier Kilometer zurückgelegt habe.
Im ersten Moment bin ich etwas überrascht, andererseits
hat es bei früheren Touren schon ganz andere Relationen
zwischen vorher berechneter und tatsächlicher Weg-
strecke gegeben.
Es fühlt sich jetzt an wie ein richtiger
Sommertag.
Das Land ist überflutet von einem
Ozean aus Licht.
Ich wandere an Wiesen vorüber, in denen
der Wind sich verfängt. Wenn ich den
Blick in die Ferne richte, streicht er über
ein Meer aus wogendem Grün dahin.
Ganz am Rande des Blickfeldes flimmert und flirrt die
Luft, als würde kosmischer Staub auf die Erde fallen.
Wie von selbst werden meine Schritte ganz gleichmäßig,
der Weg ist jetzt wie ein Strom, der mich mit sich trägt.
Ich wandere an einem einsamen Gehöft vorüber.
Kurz dahinter eine Bank am Wegrand, der ich einfach
nicht widerstehen kann.
Eine Viertelstunde lang ruhe ich mich im Schatten
eines knorrigen Baumes aus und überlasse mich ein-
fach der ziellosen Leichtigkeit meiner Gedanken.
Von der Bank sind es nur ein paar Schritte bis zum
Waldrand.
Linkerhand zweigt ein Weg ab, der vermutlich irgend-
wo in die Tiefen des Spessarts hineinführt. Da es nicht
mehr allzu lange dauern kann, bis ich vom Marienweg
nach Kleinwallstadt abweichen muss, wüsste ich auch
ohne Wegweiser und Wandersymbol, dass ich diese Rich-
tung ganz bestimmt nicht einschlagen dürfte.
Zum letzten Mal für diesen Tag Wald.
Erst ein von Traktorenreifen zerfurchter
Forstweg, dann aber ein Miniaturparadies aus
märchenhaft schönen Pfaden.
Lichtes Geäst schwebt über schattengrünem
Gras.
Wurzeln wie schmale Silberadern im weichen
Waldboden.
Schmale, schlanke Stämme, umflossen von
Wellen sanften Lichts.
Aus meinem Gehen wird für kurze Zeit so etwas
wie ein Durchstreifen, Schritt für Schritt,
Atemzug für Atemzug.
Der kaum hörbare Wind ist wie der Atem des
Waldes, der kommt und geht.
Ganz ruhig, ganz langsam.
Dann ist es vorüber, aber irgendwie doch
noch nicht.
Ich trabe leichten Fußes an Wiesen entlang, von
denen allmählich die Schatten des Nachmittags
Besitz ergreifen, aber noch eine ganze Weile
verharrt ein Teil von mir in diesem Feenwald, oder
vielmehr, die Erinnerung an Bilder, an Geräusche, an
Stille, an Farben verwandelt sich in das sehr angenehme
Gefühl, dass ein Rädchen ins andere greift und so ziemlich
alles passt.
Hinter einer kleinen Anhöhe öffnet sich plötzlich der Blick
ins Maintal.
Das glitzernde Band des Flusses sticht aus dem dunklen
Grün baumbestandener Ufer heraus und verliert sich
irgendwo in der Ferne.
Noch etwa drei Kilometer.
Erst jetzt – später als erwartet – komme ich an die Stelle,
an der ich den Marienweg verlassen muss, wenn ich zum
Bahnhaltepunkt Kleinwallstadt will.
Ich laufe einen ästhetisch geschwungenen Pfad an einer
Blumenweise vorüber und mit einem Mal registrieren
meine im Grunde schon völlig auf den Abschluss der
Etappe ausgerichteten Gedanken, welches Paradies
ich gerade durchwandere.
Um mich herum summt und brummt und
blüht und flattert es.
Lauschige Bänke unter Obstbäumen, über-
wucherte Weinbergmauern, schattenspen-
dende kleine Laubwäldchen, ein Eindruck
abgerundeter als der andere.
Später finde ich heraus, wo ich hier eigentlich
bin.
Es ist der Plattenberg, ein Naturraum, der ein
Rückzugsgebiet für viele Tier- und Pflanzenarten
darstellt, eine bunte, vielfältige kleine Welt.
Noch ehe ich Kleinwallstadt erreiche, ist es allerdings
vorbei mit Licht und Wärme.
Von einer Sekunde zur nächsten bedecken dichte graue
Wolken den Himmel, sie scheinen sich ganz tief über
den Fluss hinabzusenken und jeder noch so winzige helle
Fleck wird ausradiert.
Dann beginnt der Regen.
Wieder ein schön gelungener und ungewöhnlicher Wanderblogtext. Etwas schade finde ich, dass du dieses Jahr so wenige Marienwegetappen gemacht hast.
Grüße, Mata
Vielen Dank für die positive Resonanz, freut mich sehr.:-)
Tja, leider bestehen zeitliche Zwänge, die dazu führen, dass ich die Marienwegetappen in diesem Jahr etwas zurückstellen musste. Aber das Jahr ist ja noch nicht vorüber. Einige Etappen werden ganz sicher noch folgen.
Betse Grüße
Torsten
„Das Land ist überflutet von einem Ozean aus Licht.“ Wieder so ein wunderschöner Blogtext, den ich genussvoll mehrfach las. Man wandert beim Lesen mit, spürt die Wärme, den Wind, das Rauschen der Baumwipfel – deine Beschreibungen sind äußerst plastisch. Den Bildern nach zu urteilen – auch diese wieder sehr schön – war es eine auch visuell sehr angenehme Etappe: viel Licht, viel Grün, tolle Ausblicke. Und es war eine Punktlandung bezüglich des dann erst am Ende eintretenden Regens.
Liebe Grüße
Jana
Vielen Dank für deinen Kommentar, liebe Jana.
Bei den Marienwegetappen kommt einfach einiges zusammen, was sie zu besonderen Wanderungen für mich macht. Ich mag Unterfanken, ich mag den Spessart, ich mag die Abwechslung, die sich mir bei solchen Fernwegen bietet. Und noch einiges mehr. Ich habe immer sehr rasch das Gefühl, dass das Unterwegssein, das Gehen ganz selbstverständlich und quasi wie von selbst abläuft, muss mich nicht erst groß reinfinden.
Und diesmal haben zusätzlich auch die Umstände gepasst. Sonne, Wärme, Spätfrühling bzw. Frühsommer, keine Zeitnot. Und ein paar Etappen werde ich dieses Jahr sicher noch machen, vielleicht im September.
Liebe Grüße
Torsten