Die Geschichte dieser Wanderung ist eine Geschichte
des beginnenden Frühlings.
Es ist die Geschichte einer milden, flüsternden Wind-
stimme über stillen Wiesen und Äckern, die manchmal
nicht mehr ist als ein kaum hörbarer Hauch, manchmal
sogar noch weniger als ein Hauch, etwas, das nur noch
als lautloses Wehen an den Spitzen der Grashalme er-
kennbar ist.
Es ist die Geschichte eines ruhigen, hellen Blaus, das
den Himmel ausfüllt, so weit das Auge reicht, unter dem
die Straßen und Wege und Pfade, so grau sie auch sein
mögen, leuchten wie silberne Fäden und unter dem alles
so friedlich wirkt, als sei es in einen tiefen Schlaf ver-
sunken.
Es ist eine Geschichte vom Licht, vom Wald, von blut-
getränkter Erde, von jahrtausendealten Siedlungsüber-
resten.
Und selbstredend ist es wie immer auch eine Geschichte
vom Gehen.
Sogar in der Stadt spürt man den Atem des
Frühlings.
Mein Weg vom Hauptbahnhof zum jenseitigen
Saarufer kommt einem körperlosen Dahinschweben
ziemlich nahe, und als ich dann nach einem kurzen
Abstecher zur Ludwigskirche am Fluss entlangtrabe,
ist da überall dieses Glänzen und Schimmern und
Leuchten und ganz rasch stellt sich eine Mischung
aus Leichtigkeit und Intensität ein, die eine optimale
Voraussetzung darstellt für die gut 40 Kilometer, die
noch vor mir liegen.
Mit tiefem Durchatmen ist es natürlich erst einmal
nichts.
Ich bewege mich schließlich in einer Großstadt und
die ersten paar hundert Meter gehe ich auch noch un-
mittelbar an der Stadtautobahn entlang.
Momentaufnahmen, unentwegt, ein Kaleidoskop unter-
schiedlicher Eindrücke: Der traumlagunenblaue Him–
mel, die wie einer märchenhaften Wasserwelt ange-
hörenden Spiegelungen der Uferbäume, die bunten
Graffitis an den Mauern, der schnurgerade Weg, der
später dann wie mit einem von ganz leichter Hand
geführten Zirkel einen Bogen nach links be-
schreibt, die Pavillons der Modernen Galerie.
Nach ungefähr drei Kilometern biege ich vom Saarufer in den
Stadtteil St. Arnual ab.
Dort laufe ich erst einmal durch einige Nebenstraßen zur
Kirche Nummer zwei meiner heutigen Tour, der Stiftskirche.
Die Höhe des Kirchturms beträgt immerhin 50 Meter und
damit ragt sie ziemlich weit über die Häuser des Viertels
hinaus. Das führt dazu, dass ich sie schon aus sehr weiter
Entfernung ausmachen kann und gar nicht erst in die Ge-
fahr gerate, Zeit mit der Suche verschwenden zu müssen.
In Hombourg-Haut, dem Endpunkt meiner heutigen Tour,
soll es eine ganz ähnliche Kirche geben.
Davon werde ich mich dann ja vor Ort überzeugen können.
Vorausgesetzt, ich gehe heute auch wirklich bis Hombourg-Haut
und nicht nur bis Béning-lès-St.-Avold, wo sich ebenfalls ein
Bahnhof befindet.
Ob ich letztendlich in Hombourg oder in Béning meine Tour
beende, hängt von verschiedenen, im Augenblick nur teil-
weise einschätzbaren Faktoren ab.
Erst einmal sind aber ganz andere Dinge wichtig, zum Bei-
spiel, ob ich die Markierung des Jakobsweges finde, auf
dem ich heute unterwegs sein will und dessen Nordroute durch
St. Arnual verläuft.
Entgegen meiner Befürchtung gibt es nicht die geringste Kom-
plikation, nicht die kleinste Verzögerung.
Ich laufe von der Stiftskirche erst durch eine kurze, dann durch
eine lange Straße und nach nicht einmal zehn Minuten entdecke
ich die gesuchte Markierung an einer Straßenlaterne, und zwar
genau an der Kreuzung, an der ich sie auch zu finden erwartet
habe.
Die Beschilderung lässt ohnehin auf der gesamten Strecke absolut
nichts zu wünschen übrig, sie ist perfekt. Ab dem Anstieg nach
Spicheren besteht sie meistens aus einem weiß-roten Balken, wäh-
rend die bekannte Jakobsmuschel nur von Zeit zu Zeit auftaucht. An
Kreuzungen oder Abzweigungen sind die falschen Wege durch
die Darstellung des rot-weißen Balkens als rot-weißes X kennt-
lich gemacht, was ebenso schlicht wie genial ist und erheblich
dazu beiträgt, dass ich mich heute kein einziges Mal hoffnungs-
los verlaufe.
Nein, alles, was heute an Umwegen zustande kommt, beruht
entweder auf Absicht, auf flüchtigen, rasch behobenen Unauf-
merksamkeiten oder aber es ist die Konsequenz aus unvorher-
seh- und unvermeidbaren Umständen.
Nicht mehr lange und ich befinde mich an der
äußersten Peripherie der Stadt, dort, wo es eigentlich
gar nicht mehr so richtig nach Stadt aussieht.
Ein Weiher, dann Kleingärten.
Kurz darauf laufe ich zwar unmittelbar an der Auto-
bahn entlang, aber das ändert nichts daran, dass
meine Sinne die Umgebung als Idylle wahrnehmen,
halbwegs zumindest.
Plötzlich sehe ich eine Weide voller Alpakas vor mir
und weiß im ersten Moment nicht, ob ich meinen Augen
trauen kann.
Die Alpakas sind jedoch auch nach dem dritten Blin-
zeln noch vorhanden.
Später lese ich nach, dass es sich um die Saar-Alpaka-
Farm handelt und dass solche Farmen in Deutschland
offenbar gar nicht einmal so selten sind.
Ich trabe weiter.
Unter dem weiten Himmel scheinen die Wege von einem Fix-
punkt meines Blickfeldes zum nächsten länger, die Ent-
fernung zum Horizont mit jedem meiner Schritte größer
zu werden.
So richtig seine Wirkung entfalten würde dieser Eindruck
allerdings erst in einer nach allen Seiten hin offenen Land-
schaft, hier verflüchtigt er sich nach und nach.
Ich stapfe die Spicherer Höhen hinauf, über geschichtsträch-
tigen Boden.
Dort, wo ich jetzt völlig selbstverständlich und unbehelligt
die Grenze nach Frankreich überquere, fand vor zwei Men-
schenaltern eine blutige und verlustreiche Schlacht des
Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 statt.
Auf dem Roten Berg unmittelbar vor Spicheren
finden sich zahlreiche Mahnmale und Denkmäler,
nur zwei davon allerdings noch im Originalzustand.
Dann stehe ich auf dem Plateau vor der Gedenkstätte,
einem von niedrigen Hecken umsäumten, riesigen weißen
Kreuz.
Wind kommt auf, weht über das blassgrüne Gras.
Ich kann weit über das Land schauen, atme die milde Luft,
und für einen Moment, kürzer als ein Lidschlag, sind
ganz stille, friedliche Bilder in mir.
Durch Spicheren hindurch, dann an Wiesen und Äckern
vorüber stapfe ich in den Wald hinein.
Bis jetzt kann die Choreografie der Tour sich wirklich sehen
lassen. Auch der Wald kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.
Vor allem ist es auch noch ein richtig schöner Wald.
Die geschwungenen Linien der Bäume, schlank, biegsam fast,
als würden sie sich in Bewegung befinden, dem Licht entgegen-
fließen, ein kaum existentes Zittern schmaler Äste, das erst mit
Verzögerung ins Bewusstsein gelangt, und über den Baumkronen
dieses immerwährende Blau, licht und hell, und nicht einmal
einen einzigen Atemzug lang ist da auch nur ein Schatten von
Grau.
Für ein paar Minuten lasse ich mich darauf ein,
verschiedene Details aus dem Gesamtbild heraus-
zulösen und sie möglichst exakt wahrzunehmen.
Die Nuancen des Schattenspiels, das unaufhörlich
andere Muster hervorbringt.
Die Nuancen des Lichts, das zwischen den Stämmen
dunkler ist als auf dem Pfad und dort wiederum dunkler
als in den Baumkronen.
Hänge voll mit rötlich schimmerndem Laub, durch-
zogen von grauen Wurzelsträngen.
In den Wipfeln ein trockenes, blattloses Rauschen.
Irgendwann wird der zunächst offene, helle Wald,
in den von rechts, links und oben Licht hineinströmt,
dichter und dunkler.
Eine ganze Weile wandere ich auf einem schmalen
Weg bergan, und ganz abgesehen davon, dass der
Pfad sich mitunter in anarchischen Schwingungen durch
den Wald windet, bietet sich dem Auge am Rande des
Weges, oft aber auch auf dem Pfad selbst, ein stetig
wachsendes Chaos aus entwurzelten, den Hang hinab-
gerutschten und den Weg versperrenden Baumstäm-
men.
Ab und zu scheint der Pfad mitten in den goldgelben
Sonnenball hineinzuführen.
Oder er fließt um einen Felsen herum einen sanft ansteigen-
den Hang hinauf.
Oder er driftet um eine kleine Biegung, strömt dann ruhig
zwischen dunklen Nadelgehölzen hindurch.
Kurz und gut, diese etwa sechs Kilometer zwischen Spicheren
und Forbach sind an diesem Tag die schönste Passage und
allein schon die Wanderung wert.
Aus dem Wald heraus führt mich mein Weg an
der Kapelle Ste. Croix vorüber nach Forbach hinein.
Und beinahe von einer Sekunde auf die nächste ist
es vorbei.
Vorbei mit dem Schönen, dem Idyllischen, den wie
Tautropfen auf einer Herbstmorgenwiese sich an-
sammelnden großartigen Eindrücken.
Das heißt, einen kurzen Aufschub gibt es noch, näm-
lich den wirklich ansehnlichen Burghof mit dem Schloss-
bergturm. Hier werde ich mich sicher länger aufhalten,
wenn ich mal wieder in diese Gegend komme.
Danach jedoch auf vielen Kilometern kläffende Hunde,
Baustellen, Lärm, Müll und noch ein paar andere hässliche
Dinge.
Okay, da ist schon noch ein ganz brauchbarer Abschnitt über einen
Feldweg, von dem aus man den Blick über Wiesen und Äcker
schweifen lassen kann, und eigentlich ist auch der Umweg durch
Oeting, den ich wegen einer Baustelle auf mich nehmen muss, zu-
mindest unter dem Aspekt, möglichst viele unterschiedliche Ein-
drücke gewinnen zu wollen, ganz interessant, aber es ist nichts,
an das man sich später unbedingt zurückerinnern muss.
Kurz vor Morsbach bleibt mir nur die Wahl, entweder auf einem
Saum, schmaler als eine Rasierklinge, an einer nicht gerade
wenig befahrenen Landstraße entlangzubalancieren oder aber
auf eine abschüssige, von Müll übersäte Wiese auszuweichen.
Aus dem Wald ertönen ununterbrochen Gewehrschüsse und
sonstiger Manöverlärm.
Irgendwie ist das alles so gar nicht behaglich.
Nun gut, irgendwo muss so ein Fernweg ja verlaufen.
Eine Viertelstunde später sitze ich ein paar hundert Meter
hinter Morsbach auf einer Bank am Wegrand und lasse mir
die Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen.
Nicht nur die äußere Bewegung kommt zur Ruhe, sondern
auch die innere.
Kein Gewehrfeuer mehr, sondern zwitschernde Vögel. Um
mich herum das wohltuende Grün von Wiesen und Wei-
den.
Eigentlich habe ich vor, nur eine kurze Rast einzulegen, aber
Minute um Minute vergeht und ich bleibe einfach weiter
hocken.
Als ich dann weiterwandere – nach über einer
halben Stunde – kommt endlich auch wieder die Kom-
ponente Weite zum Tragen.
Ich gehe jetzt einen Pfad hügelan, der sich wie ein fallen
gelassener Bindfaden in der Landschaft entrollt.
Ich spüre die Weite.
Ich spüre sie im Kopf, ich spüre sie in den Beinen.
Ich lasse mich tragen davon.
Der Pfad führt über eine Wiese und dann in den Wald
hinein.
Für ein paar wenige Kilometer ist der Jakobsweg jetzt
identisch mit einem lokalen Rundwanderweg, der über
den Hérapel verläuft, einen markanten Hügel oberhalb des
Dorfes Cocheren, auf dem sich so manche Spur längst ver-
gangener Epochen befindet.
Das Einzige, was ich davon allerdings zu Gesicht bekomme,
ist eine Grotte samt Heiligtum aus der Zeit einer gallo-römischen
Siedlung aus dem ersten Jahrhundert.
Es ist jetzt ein völlig unbeschwertes Gehen.
Der Pfad zu der Grotte und von dort nach Cocheren
könnte kaum besser in Szene gesetzt werden, als
es durch die allmählich sinkende Sonne geschieht.
Auf serpentinenartigen Windungen und von Zeit zu
Zeit über kaum sichtbare Holzstufen hinweg wandere
ich gemächlich nach Cocheren hinunter.
Wenn die Möglichkeit bestünde, besonders schöne
Orte oder Pfade mitnehmen, sie wie ein Souvenir
mit mir herumtragen zu können, dann würde ich
diese Passage jetzt einpacken und in meinen Ruck-
sack stecken.
In Cocheren komme ich aus dem Grüßen kaum
heraus.
Kinder, Alte, Frauen, Männer, Radfahrer, Fußgänger,
alles grüßt.
Nebenbei erfordert der abenteuerlich zwischen
Gärten und an der Rossel sich entlangwindende und
häufig die Richtung verändernde Pfad meine ganze
Aufmerksamkeit.
Mit Blick auf den zerbrechlich wie Porzellan wirkenden
Turm der Dorfkirche stapfe ich dann die Hauptstraße ent-
lang, eine kleine Anhöhe hinauf und bin wieder – zum
letzten Mal für heute – im Wald.
„Béning 1 Kilometer“ lese ich auf einem Wegweiser.
Das ist weniger, als ich erwartet habe. Aber es ist auch schon
fast halb sechs und am Ende des Tages werde ich – selbst
ohne mein ursprüngliches Ziel Hombourg-Haut zu erreichen –
fast 50 Kilometer gegangen sein.
Im Grunde ist der Entschluss, heute doch nur bis Béning zu
wandern, schon lange gefallen, jetzt mache ich aber endgültig
einen Haken dahinter.
So richtig viel Aufmerksamkeit schenke ich den
Dingen um mich herum jetzt nicht mehr.
Der Wald erweckt den Eindruck, als habe hier eine
Horde von Trollen Mikado gespielt. An manchen
Stellen wäre es jedenfalls wesentlich einfacher, die
noch fest in der Erde verwurzelten Bäume zu zählen
als die umgestürzten.
Der Boden wird immer schlammiger. Oft muss ich
durch tiefen Morast waten und mich zudem noch
über Baumstämme hinwegbugsieren.
Als ich aus dem Wald trete, sehe ich auch schon die
ersten Häuser von Béning vor mir.
Alles ist still.
Von weitem wirkt es fast so, als würde das Dorf schon
im Schlaf liegen und seine Nachtträume träumen.
Der Weg zum Bahnhof ist um einiges weiter, als ich bei einem
Ort mit gerade mal 1100 Einwohnern erwartet habe.
Als ich den Bahnhof schließlich erreiche, ist er bereits in die aller-
letzten rotgoldenen Strahlen der Abendsonne getaucht.
Toll geschrieben, wie eigentlich immer.
Diese Markierung der Wege scheint mir ziemlich ausgeklügelt. Gibt es so was in Deutschland denn nicht?
Wäre denn auf diesem eher vermüllten Streckenabschnitt eine andere Wegführung möglich gewesen?
Grüße,
Sylban
Vielen Dank für die positive Resonanz!
Das Beschilderungssystem war wirklich perfekt. In Deutschland habe ich so etwas noch nicht gesehen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es auch hier Wanderwege gibt, bei denen es so oder so ähnlich gehandhabt wird.
Was die Streckenführung betrifft, so kenne ich ja auch vom Marienweg durchaus Passagen, die etwas weniger angenehm zu gehen sind, allerdings waren die doch kein Vergleich zu dem. was zwischen Forbach und Morsbach teilweise los war, überhaupt kein Vergleich. Ich kenne mich leider im Detail vor Ort zu wenig aus, um zu sagen, ob eine andere Streckenführung möglich wäre. Man muss allerdings berücksichtigen, dass Baustellen normalerweise ja nur temporäre Hindernisse sind, insofern relativiert sich da manches.
Beste Grüße
Torsten
Bereits die einleitenden Worte lösen bei mir sofort das Kopfkino aus – das setzt sich im Weiteren, wieder so schön von dir Beschriebenen, wunderbar fort. Saarbrücken scheint also auch ganz schöne Ecken zu haben, wie eigentlich so gut wie jede Stadt.
Diese Wegemarkierung ist wirklich, wie du sagst: schlicht und genial. Wie oft habe ich mich schon mangels verständlicher Markierung verlaufen! Na, wem sage ich das.
Die schönen Fotos zeugen von herrlichem Wetter. Und abwechslungsreich war die Tour auch: Neben der Natur gab es noch Tiere und Geschichtliches zu sehen. Schön!
Liebe Grüße
Jana
Also über mangelnde Abwechslung kann ich mich diesmal wahrlich nicht beklagen. Das war ja einer der Gründe, warum ich diese Strecke ausgewählt hatte. Ein gewisser Reiz lag natürlich auch darin, eine Tour über eine Ländergrenze hinweg durchzuführen. Das Saarland und Lothringen haben wahrlich eine wechselvolle Geschichte, beide. Als Grenzgebiete waren beide häufig deutsch, häufig französisch. Beide verbindet auch die Geschichte als „Kohlegebiete“.
Was der Wanderung den letzten Schliff gegeben hat, das war natürlich der fast immer makellos blaue Frühlingshimmel, der gerade auch die Waldstrecken perfekt in Szene gesetzt hat.
Vielen Dank auch diesmal für deinen Kommentar.:-)
Liebe Grüße
Torsten