Wandertouren

TOUR 33: BHF METTLACH – BURG MONTCLAIR – CLOEFPFAD

Es ist zunächst nicht mehr als ein verlorener, heller,

glänzender Punkt irgendwo vor mir.

Eine ganze Weile gehe ich darauf zu, ohne ihm wirklich

näherzukommen.

Es ist kein Gedanke mehr in mir außer diesem: Ich darf

nicht stehenbleiben, nicht einen einzigen Atemzug lang.

Ich habe das Gefühl, mich in vollkommene Leere hinein-

zubewegen.

In meinem Kopf formt sich ein Bild: Ich mache einen

Schritt zur Seite und stürze ins Nichts.

 

Einige Stunden zuvor.

Unter einem fast perfekt blauen Himmel trabe ich vom Bahn-

hof in Mettlach Richtung Saarufer.

Der Tag ist ein Realität gewordener Frühlingstraum.

Die Wärme und das Licht strömen wie ein intravenös ver-

abreichtes Glückselixier durch meine Adern und durch

meinen ganzen Körper.

Und die Gewissheit, eine Menge Zeit zu haben und sie

nicht anders nutzen zu wollen als genauso, wie ich es

gerade tue, lässt ein Funkeln in meine Seele treten.

 

Mein erstes Ziel ist der Alte Turm, das

älteste erhaltene Sakralbauwerk des Saar-

landes, angeblich so eine Art Aachener

Münster in Klein.

Der Turm steht in einem Park, in dem noch aller-

lei andere visuell ansprechende Dinge zu sehen

sind.

Ein Weiher, von Bäumen umsäumt, und eine

 

Brücke, die als Cover Artwork für ein Buch über

Parkgestaltung Verwendung finden könnte.

Ein Brunnen, im 19, Jahrhundert von Karl Friedrich

Schinkel entworfen.

Und natürlich der bizarr-schöne, 14 Meter hohe „Erd-

geist“ von André Heller, den der Blick nahezu un-

bewusst immer wieder ansteuert.

 

Ungefähr eine halbe Stunde verweile ich in dem Park,

dann mache ich mich auf den Weg zur Burg Montclair.

Eine kurvige Straße hinauf, an einer Kirche vorüber, dann

in den Wald hinein.

Etwa zweihundert Meter vor mir geht ein Spazier-

gängerpärchen, das so langsam dahintrottet, dass ich

es binnen weniger Minuten überholt habe, obwohl ich selbst

kaum schneller unterwegs bin als einer der Wandernden

Felsen im Death Valley.

 

Der Pfad führt zwar bergan, aber nicht allzu

steil. Ideal, damit die von mir so geschätzte

Balance zwischen zügigem Gehen, Klarheit

im Denken und Aufmerksamkeit für die Um-

gebung sich einstellt, ergänzt von dem Ge-

fühl, genau das Richtige zum richtigen Zeit-

punkt zu tun.

Ich gehe.

 

Ich atme.

Ich lasse meinen Blick schweifen.

Nehme Eindrücke auf, von denen viele sich beinahe sofort

wieder auflösen, zerfallen in unscharfe, farblose Er-

innerungsfragmente.

Es ist ein Erfassen, ohne wirklich zu betrachten.

 

Als ich aus dem Wald heraustrete und sich die Land-

schaft ganz plötzlich auszudehnen scheint wie ein über

die Ufer tretender Fluss, habe ich für einen Moment den

starken Wunsch, mich einfach auf den schimmernden

Horizont zutreiben zu lassen, mich in die Ungewissheit

eines unbekannten Irgendwo aufzumachen.

Aber noch bevor ich diesen Anflug von Sehnsucht nach

Überall und Nirgends überhaupt richtig registriert

habe, bin ich längst weitergegangen.

 

Burg Montclair lese ich auf einem Wegweiser, der nicht

mehr ist als ein Holzschild auf einem Holzpfahl.

In Anbetracht früherer Erfahrungen ist mir jede Be-

stätigung dafür, dass ich in die richtige Richtung unter-

wegs bin, willkommen.

Bis zur Burg kann ich mich jetzt an einem welligen, sich

in den Wald hineinschmiegenden Pfad ohne pulsbe-

schleunigende Anstiege erfreuen.

Es ist ein Gehen wie ein Dahingleiten, ein Schweben,

Schatten. Licht. Schatten. Licht. Licht. Licht.

Am Wegesrand ein Baum mit Ästen, die aussehen wie

ein seltsames Riesengeweih.

Kurz darauf fällt mein Blick zwischen den Bäumen hindurch

auf ein Dorf. Dahinter erkenne ich einen schmalen Weg, der

sich in der Ferne verliert.

 

Auf einer Bank entdecke ich plötzlich das Spaziergänger-

pärchen, das ich vorhin überholt habe.

Okay, das ist eine Überraschung!

Sieht so aus, als gäbe es einen kürzeren Weg als den-

jenigen, den ich eingeschlagen habe.

Lachend bestätigen die beiden mir, dass dem tatsächlich so ist.

Ich müsse nur dem „Tafeltour“-Schild folgen, dann am

Friedhof vorübergehen, und schon sei ich wieder zurück

in Mettlach.

Gut zu wissen, denn dann habe ich nicht nur einen kür-

zeren Rückweg, sondern bekomme sogar etwas Neues

zu sehen.

 

Dann bin ich an der Burg angekommen.

Endlich mal wieder eine Burgruine, die nicht

aussieht wie ein ausgehöhlter Zahn oder das

bruchstückhaft erhaltene Skelett eines steiner-

nen Riesendrachen.

Aber manchmal muss ich die Augen zusammen-

kneifen, um gegen die gleißend helle Sonne mehr

als nur dunkle Mauerumrisse erkennen zu können.

 

Ich werfe einen ersten Blick aus der Vogelperspektive

hinunter auf die Saar, dann mache ich mich auf den

Weg zurück nach Mettlach.

 

Die Alternative, die mir das Spaziergängerpärchen genannt

hat, ist wirklich um einiges kürzer.

Ich habe das Gefühl, nur einmal kurz die Augen geschlossen

zu haben, und schon bin ich wieder an der Kirche, an der

ich auf dem Hinweg vorübergegangen bin.

Um zu dem Pfad den Steilhang hinauf zur Cloef zu

gelangen, muss ich nun nur durch die Fußgängerzone gehen,

dann eine eine Brücke überqueren und anschließend etwa 3

Kilometer an der Saar entlangmarschieren.

Hätte ich in diesem Moment gewusst, in was für eine

Situation ich kaum eine Stunde später geraten würde,

dann wäre ich jetzt höchstwahrscheinlich auf schnellstem

Wege zum Bahnhof gelaufen, in den Zug gestiegen und

nach Hause zurückgefahren.

 

Der Weg an der Saar entlang ist tischeben.

Eigentlich habe ich vor, eine kurze Rast einzulegen, aber

auf dieser Rennpiste würden meine Beine dem Befehl inne-

zuhalten, ohnehin nicht gehorchen.

Ab und zu verlasse ich den Kiespfad und marschiere auf

dem Grassaum unmittelbar am Fluss dahin.

Es flirrt, schimmert und leuchtet, als wäre unter Was-

ser eine Sonne explodiert.

Mein Blick schwimmt auf den glitzernden Wellen.

Er treibt mit der Strömung dahin.

Ruht auch in den Schatten der Pflanzen am Ufer.

Zum Greifen nah sehe ich plötzlich hoch oben über dem

Fluss den Baumwipfelpfad auf der Cloef, dem Aus-

sichtspunkt, von dem herab man auf die Saarschleife

blicken kann.

Er wirkt monströs und passt in die Umgebung wie eine

Guillotine auf einen Kindergeburtstag.

 

Wenig später bin ich am Beginn des Anstiegs.

Die Worte „Gefährliche Wegstrecke“ springen mir

ins Auge.

Ich stapfe trotzdem los.

Der Pfad ist schmal, von Steinen übersät.

Die Bäume weichen zurück, die Böschung unmittebar

neben dem Pfad fällt steil ab, aber noch befinde ich

mich nicht in allzu großer Höhe.

Ein Geröllfeld.

Dann weiter auf dem schmalen Pfad.

Immer noch Bäume, die dem Blick Halt geben.

 

Mit einem Mal aber hat es ein Ende damit und von

einem Augenblick zum nächsten stehe ich am Rande

des Steilhangs und mein Blick saust ungebremst in die

Tiefe.

 

Wenn ich schwindelfrei wäre, könnte ich das Panorama

sicherlich genießen. Bin ich aber nicht und so befinde ich

mich plötzlich mitten in einem Albtraum.

Ich kralle meinen Blick in die Felswand zu meiner Rechten

und gehe weiter.

 

Wieder Bäume.

Und der Pfad wird auch etwas breiter.

Durchatmen.

Und all die verdichteten Bilder hinter der Stirn entzerren!

Aber dann eine Passage von 100 Metern oder mehr mit

völlig freiem Blick den Steilhang hinunter und in eine

Ferne schier ohne Horizont.

Ich bleibe stehen.

Einen Herzschlag lang wird es in meinem Kopf so dunkel,

als hätte jemand in einer Sturmnacht den Mond vom Him-

mel wegradiert. Meine Beine fühlen sich so schwer an

wie Flussgestein. Die Sekunden verrinnen, so langsam wie

Honig von einem Löffel tropft.

In diesem Moment formt sich in meinem Kopf jenes Bild

vom Sturz ins Nichts.

Ich gehe weiter.

Nicht etwa langsam, sondern rasch, den Blick stets auf

eine Stelle unmittelbar zu meinen Füßen gerichtet.

Alles, die ganze Welt, reduziert sich auf einen win-

zigen hellen Punkt, als ginge ich in einem lichtlosen

Universum auf ein flackerndes Kerzenlicht zu.

 

Irgendwie bringe ich diese Passage hinter mich.

Irgendwie bringe ich auch den Anstieg hinter mich.

Und irgendwie ist danach nichts anders als zuvor.

Ich denke nicht: Unfassbar, dass ich das geschafft

habe oder auch nur ansatzweise irgendetwas der-

gleichen.

Ich stelle meinen Rucksack auf der Mauer ab, schaue

auf die Saarschleife hinunter und trinke ein paar Schlucke

Wasser.

Und das ist im Großen und Ganzen alles.

 

Dass der Baumwipfelpfad bereits geschlossen

ist, stellt keine große Enttäuschung dar. Ich

beschließe, ihn irgendwann in naher Zukunft in

eine andere Tour einzubauen.

Der Blick bei fast wolkenlosem Himmel hinunter auf

die Saarschleife ist trotzdem ein visueller Genuss.

 

 

Über einen pfadlosen, von Steinen übersäten Weg stapfe

ich wieder in den Wald hinein.

Ein kurzes Stück durch ein Birkengehölz, dann Wiesen,

Hecken, Gesträuch.

Lachen und Stimmen aus einem nahen Dorf wehen herüber.

Der Pfad, in samtenes Spätnachmittagslicht ge-

taucht, mäandert zwischen Bäumen hindurch, an

einem Felsen vorüber und durch ein kleines

Steinlabyrinth hindurch.

Ich bin wieder in der Abgeschiedenheit zurück.

Nach dem Massenauflauf an der Cloef ist es, als

würde sich ganz plötzlich mitten im größten Trubel

einer Einkaufsmeile die Tür zu einem leeren Zim-

mer öffnen, in das keinerlei Geräusche von außen

dringen.

Und das Beste, das wirklich Großartigste an der ge-

samten Tour, das liegt noch vor mir.

 

Das Steinbachtal.

Es ist, als hätte ich an einem magischen Ring gedreht, der

mir Einlass gewährt in ein idyllisches Feenland.

Noch einmal bin ich für eine Weile nur Bewegung und

Blick und Empfindung.

Felsen.

Ein Wildbach.

Holzstiegen.

Zwischendrin ein Baum mit Ästen wie Kraken-

fangarme.

Wahrnehmungen, immer stiller und zugleich

immer intensiver, strömen in meinen Kopf hinein.

Wind streicht durch die Wipfel der Bäume, manch-

mal unhörbar, manchmal ein mattes Rauschen,

das von irgendwo aus den wachsenden Schatten

kommt.

Es gibt Augenblicke, in denen die Welt sich lang-

samer zu drehen oder sogar stillzustehen scheint.

 

Dann bin ich zurück am Saarufer.

Wenn ich über Wasser gehen könnte, dann hätte

ich hier kurze Wege.

So aber muss ich erst einmal den ganzen Bogen

der Saarschleife abwandern, bis ich an der Stelle

angekommen bin, wo ich Stunden zuvor den Auf-

stieg zur Cloef in Angriff genommen habe.

Von dort aus marschiere ich den Weg, den

ich gekommen bin, nach Mettlach zurück.

12 Comments

  • Silbia

    Als ich las, du wolltest zur Saarschleife, fragte ich mich von wo aus du wohl zur Cloef kommst.
    Dort stand ich 2x und schaute hinab und dachte jedesmal gut, dass hier das Mäuerchen ist.
    Da wollte ich auch keine waghalsigen Fotos machen.

    Also war sie nicht ohne, deine Tour. Schön, dass du wohlbehalten zurück bist!

    Liebe Grüße,
    Silbia

    • gorm

      Die Tour war insgesamt eine sehr schöne Tour. Vor allem das Steinbachtal am Ende ist eine Art Feenland.
      Ich hatte mir ursprünglich eine andere Strecke zusammengebastelt. Hätte ich diesen ursprünglichen Plan umgesetzt, dann wäre ich von oben gekommen und hätte den Pfad bergab bewältigen müssen. Dann hätte ich es gar nicht vermeiden können, in die Tiefe zu schauen. So konnte ich wenigstens auf meine Fußspitze oder auf den Felsen neben mir starren.:-)
      Ich hoffe nur, dass mich auf dem Marienweg – z. B. in der Rhön – nichts Ähnliches erwartet.

      Liebe Grüße
      Torsten

  • Sylban70

    Einmal mehr eine toll rübergebrachte Tour! Ist dieser Pfad zu dem Aussichtspunkt hoch nicht irgendwie gesichert?

    Gruß,
    Sylban

    • gorm

      Nein, es gibt keine Absicherung außer der eigenen Vorsicht.
      Ich bin in etwas hineingeraten – und wieder herausgekommen, immerhin.:-)
      Aber ein zweites Mal werde ich diesen Pfad bestimmt nicht ausprobieren.

      Beste Grüße
      Torsten

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Die Eingangsworte machten mich gespannt auf den Aussichtspunkt der Saarschleife: Ich mache einen Schritt zur Seite und stürze ins Nichts“. Deine Schilderung zum Cloef, da Du nicht schwindelfrei bist, ist sicher verbunden mit Herzklopfen und Herzrasen. Es ist fesselnd, interessant erzählt, jedoch für mich ein wenig zu sehr gelassen am Ziel „und das ist im Grossen und Ganzen alles“. Den Weg zur Burg Montclair beschreibst Du nachvollziehbar und schön, unterstützt mit Deinen Worten über Balance, dem richtigen Zeitpunkt sowie Deinen Wahrnehmungen. Schade nur, ist es ein Erfassen ohne wirklich zu betrachten. Das Steinbachtal mit Deinen Beobachtungen ist ein wunderschöner Abschluss. Eine bemerkenswerte Schilderung der Tour, in der wieder zum Ausdruck kommt, dass die Sprache Deine Stärke ist.

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Ursula.
      Im Laufe einer solchen Tour – und es waren ja auch diesmal letztendlich wieder kanpp 30 Kilometer – ergeben sich unterschiedliche Ansätze von Wahrnehmungen. Bei Tour 31 habe ich das ja auch angedeutet. Manchmal sind Wahrnehmungen sehr intensiv und bewusst, dann wieder eher flüchtig, aber dafür läuft ein innerer Monolog ab oder es stellt sich eine sehr angenehme Klarheit im Denken ein oder was auch immer.
      Und so ganz nebenbei – viele meiner Tagestouren könnte ich gar nicht mehr machen, wenn ich die ganze Zeit langsam gehen würde.
      Vielen Dank für Deinen Kommentar!:-)

    • gorm

      Ja, der Cloefpfad ist ein Rundweg und man gelangt auch vom Steinbachtal aus hoch auf die Cloef. Die meisten machen das wohl auch, weil der Pfad den Steilhang hinauf anstrengender ist als der Aufstieg aus dem Steinbachtal.

  • Jana

    Dir bleibt aber auch nichts erspart, lieber Torsten! Wieder so ein teilweise nicht kalkuliertes Abenteuer! Da auch ich nicht schwindelfrei bin, weiß ich ja nun, wie ich – sollte ich mal die tolle Aussicht auf die Saarschleife genießen wollen – NICHT auf die Cloef gelangen sollte … Wie schön, dass du dann doch noch einen tollen Tourabschluss mit dem Steinbachtal hattest, das nach deinen bildhaften Beschreibungen sehr idyllisch sein muss. Und das Wetter hat auch mitgespielt! Na so was!
    Es war für mich wieder ein absoluter Genuss, deine Zeilen zu lesen.
    Liebe Grüße, Jana

    • gorm

      Solange ich aus den Abenteuern heil rauskomme, geht es ja noch!:-)
      Man kann entweder vom Steinbachtal aus zur Cloef hochwandern oder aber einfach mit dem Auto hinfahren. Beides ist für uns nicht ganz Schwindelfreie deutlich nervenschonender.
      Vielen Dank auch diesmal für Deinen Kommentar, liebe Jana!:-)

      Liebe Grüße
      Torsten

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