Regen.
Ein dünner, kalter, unaufhörlicher, unerbittlicher
Regen.
Ein Regen, der leicht das dunkle Gefühl hervor-
bringen könnte, es lauere irgendwo unter diesem
trüben, düsteren Himmel, irgendwo in den Straßen
und Gassen der Stadt, etwas Unsichtbares, Gefahr-
volles, nicht in Worte zu Fassendes.
Ich stehe auf dem Place Charles de Gaulle
in Metz und bringe die innere Stimme in mir
zum Schweigen, die mir einreden will, dass ich
mir kaum einen schlechteren Tag für diese Tour
hätte aussuchen können.
Einmal mehr werde ich heute Regen in verschie-
denen Variationen kennenlernen, ich werde stun-
denlang durch eine graue, unwirkliche Wasserwelt
treiben wie eine Schiffsplanke im Ozean, und die
ganze Zeit werde ich dieses düstere Gebilde aus
ineinander verkeilten Wolken über mir haben, aus
denen es ohne einen einzigen Atemzug Pause
gießt und schüttet.
Aber obgleich das alles in diesem Augenblick bereits
absehbar ist, fällt es mir gar nicht besonders schwer,
diese Stimme zum Schweigen zu bringen.
Wie von einem heftigen Wind erfasst, lasse ich mich
vom Place Charles de Gaulle durch die Straßen wehen.
Der Regen wird stärker.
Eindrücke, nah und fern zugleich, mir entgegenströmend,
von mir wegtreibend.
Die schemenhaften Fassaden von Häusern hinter einer
Wand aus Wasser.
Die bleichen, dünnen Lichter der Autos, die unscharf durch
den Regendunst dringen.
Wenn ich den Blick in die Ferne richte, findet er keinen
Halt, fällt gleichsam ins Nichts, denn alles, was weiter
entfernt ist als hundert Meter, verliert seine fest umrissene
Form.
Ich trotte oder vielmehr schwimme durch eine
Gasse, in der die Häuser plötzlich so eng zu-
sammentreten, dass ich mich fühle wie ein Gras-
halm zwischen den Felswänden des Grand
Canyon. Ein paar Augenblicke später ist dann aber
wieder der freie Himmel über mir und ich stehe vor
dem Deutschen Tor, dem einzigen noch erhaltenen
mittelalterlichen Stadttor von Metz.
Ich durchschreite die Toranlage, begutachte sie
von allen Seiten und dann mache ich mich auf
zu meinem nächsten Ziel, der Kathedrale.
Der Regen ist mittlerweile in eine Art Niagarafall über-
gegangen. Trotzdem schaffe ich es, mich wohlzufühlen.
Gehen findet eben auch im Kopf statt, wer hätte das ge-
dacht.
Eigentlich ist es nicht einmal besonders kompliziert: Man
muss nur für sich selbst ein paar grundsätzliche Fragen
beantwortet haben, unter anderem diejenige, wie wichtig
einem das Gehen ist.
Wenn es einem sehr wichtig ist – aus welchem Grund auch
immer -, dann ist der Regen nicht mehr als eine unangenehme,
aber hinnehmbare und nicht wirklich wesentliche Begleit-
erscheinung,
Dann bin ich auf dem Platz vor der Kathe-
drale. Ich trete durch eines der Portale ein und
bekomme beinahe im selben Moment eine Genick-
starre, so hoch wirkt das Gewölbe. Noch be-
eindruckender sind die Glasmalereien, deret-
wegen die Kathedrale „La lanterne du Bon
Dieu“ – „Die Laterne Gottes“ – heißt.
Nachdem ich die Kathedrale wieder verlassen habe, lasse
ich mich eine ganze Weile ziellos dahintreiben. Ich laufe
eine breite Treppe hinunter, biege in schmale Gassen ein,
gehe kreuz und quer durch die Straßen, sammle Ein-
drücke.
Bei Sonnenschein wäre diese Stadt ein Fest für die Sinne.
Bei einer Atmosphäre wie im Tagtraum einer melancholischen
Wassernymphe fällt meine Begeisterung naturgemäß
etwas dezenter aus.
Gehen, das ist Aufbrechen und Ankommen, aber es ist
auch der Weg, das Unterwegssein.
Es kann sich um ein zielgerichtetes, bis ins Kleinste fest-
gelegte Unterwegssein handeln, das keinen Spielraum lässt
für spontane Erkundungen, es kann jedoch auch eines sein,
das die Möglichkeit offenlässt, ins Unbekannte hineinzu-
gehen, die Ungewissheit anzunehmen
Was mich betrifft, so ist es auch das Unerwartete, Un-
verhoffte, Unvorhersehbare, das mich reizt.
Eben das ist der Grund dafür, dass ich von der Kathedrale
nicht wie vorgesehen auf direktem Wege zur Kapelle
der Tempelritter wandere, sondern mich für eine bestimmte
Zeit wieder einmal der Regie des Zufalls überlasse.
Ich trotte an der Mosel entlang, am Quai Paul
Vautrin, überschreite irgendwann irgendwo eine
Holzbrücke, stehe irgendwann irgendwo vor einer
Kirche, setze einfach einen Fuß vor den anderen.
Manchmal bleibt mein Blick an einem Gebäude hängen,
manchmal schweift er einfach nur umher.
Wahrnehmungen wie kurz aufzuckende Lichtblitze.
Ich gehe.
Ich genieße das Gehen.
Spüre den Wind, spüre den Regen.
Erahne Konturen.
Fange Blicke von Passanten auf.
Beobachte.
Gebe dem, was ich beobachte, einen Rahmen durch Worte.
Die Minuten verrinnen langsamer als Sirup in der Wüsten-
sonne.
Irgendwann bin ich dann aber doch auf dem Weg zur Ka-
pelle der Tempelritter.
Bevor ich sie erreiche, finde ich mich jedoch völlig un-
verhofft vor der Kirche St-Pierre-aux-Nonnains. Es ist
die älteste erhaltene Kirche ganz Frankreichs.
Offenbar hat es hier früher aber auch ein Kloster gegeben,
denn ich erkenne die Überreste eines Kreuzgangs.
So ganz allmählich wird es nun Zeit, dass ich
mich in Richtung Canal de Jouy aufmache. Schließ-
lich will ich den gesamten Kanal entlangwandern und
das sind immerhin rund 17 Kilometer, 8einhalb Kilo-
meter am linken, 8einhalb Kilometer am rechten
Ufer.
Ein paar Minuten lang widme ich meine Aufmerk-
samkeit der Kapelle der Tempelritter, dann aber
schlage ich den direkten Weg hinunter zum Boule-
vard Poincaré ein, in dessen unmittelbarer Nähe
der Kanal beginnt.
Jetzt ist das Wasser überall.
Es strömt in dem Kanal dahin, es fällt vom Himmel, es rinnt an
meinem Regencape hinab, es ist unter meinen Füßen.
Der unaufhörlich herniederprasselnde Regen lässt die Umge-
bung von mir wegdriften in ein beinahe unwirkliches Schemen-
reich, und er teilt die Welt in eine Innen- und eine Außenwelt, in
eine Welt der Gedanken in meinem Kopf und eine der Wahr-
nehmungen jenseits der Schwelle meines Körpers.
Ich stapfe einfach vor mich hin.
Wobei, ganz so einfach ist das gar nicht.
Der Pfad besteht nicht aus Asphalt, sondern ist eine von Pfützen
übersäte Schlammpiste. Wenn ich meinen Weg nicht mitten
durch schmutziges Wasser nehmen will, dann muss ich ständig
von einer Seite des schmalen Pfades zur anderen wechseln.
Ich gehe an einigen Wohnschiffen vorüber, insge-
samt vielleicht zehn oder zwölf.
Plötzlich verbreitert sich der Kanal, so dass es
mir einen winzigen Moment lang so vorkommt, als würde
das Wasser über die Ufer treten und das Land über-
fluten.
Zu meiner Linken ist die Szenerie erheblich weniger
beschaulich
.
Ich bewege mich unmittelbar am Rande einer Landstraße.
Ein Ort folgt auf den nächsten.
Montigny-lès-Metz.
Hier gibt es ein Schloss, das sicher ganz sehenswert wäre,
aber wenn ich diesen Umweg jetzt auch noch mache,
dann schaffe es nie und nimmer vor Einbruch der
Dunkelheit zurück nach Metz.
Ich habe ohnehin vor, irgendwann im nächsten Jahr von
Metz nach Nancy oder zumindest nach Pont-à-Mousson
zu wandern, dann komme ich wieder hier vorbei und
kann mir das Schloss immer noch ansehen.
Moulins-lès-Metz.
Ich erhasche einen Blick auf eine regenöde Dorfstraße.
Am Ende der Straße scheint es, als würde der Himmel lang-
sam auf die Erde herabsinken.
Noch ein Schuss Nebel und eine Prise Dunkelheit und es
wäre die perfekte Edgar-Allan-Poe-Stimmung.
Ich verschwende mittlerweile keinen Gedanken mehr an
Umwege oder Erkundungen abseits des Kanals. Alles zu
seiner Zeit. Und jetzt ist die Zeit für ein konkretes Ziel vor
Augen, einen Fixpunkt, an dem sich mein vom Dauerregen
und von der Kälte torpedierter Geist orientieren kann.
Neben dem großen finalen Fixpunkt – dem Bahnhof
in Metz – gibt es entlang des Kanals einige kleinere,
nämlich die Brücken. In mehr oder weniger regel-
mäßigen Abständen führen sie über den Kanal
hinweg zum jenseitigen Ufer.
Stille kann ich auf dieser Strecke natürlich nicht er-
warten, aber nach und nach stellt sich eine dem
Auge wohltuende optische Idylle ein.
Steine, fast schon dekorativ halb im Wasser versunken.
Bäume mit weit ausladenden Ästen, die sich über den
Pfad hinwegwölben.
Ein Graureiher im Uferschilf.
Darüber, dass es nichts zu sehen gäbe, kann ich mich wirk-
lich nicht beschweren.
Ab und zu wächst die Gestalt eines Spaziergängers aus dem
Regen hervor, einmal sogar ein Reiter. Wie Boote in der
Dämmerung treiben sie vorüber, verschwinden wieder
hinter dem Regenschleier.
Brücke nach Brücke bringe ich hinter mich.
Ich erreiche den Wendepunkt der Strecke und bewege mich
fortan wieder auf Metz zu.
Immer noch Kälte und Dauerregen, dazu Windböen.
Mich zu zermürben, das schaffen die Umstände nicht,
aber dass ich mich am Gehen und an dem Weg noch
ergötze, das kann ich nicht behaupten.
Allmählich bricht der Abend herein.
Ich gehe immer schneller.
Meine Gedanken bleiben jetzt an der Oberfläche, dringen
nicht mehr in die Tiefe. Ich will ankommen, um fast
nichts anderes geht es mir noch.
Plötzlich stehe ich vor einem Zaun, der den Weg blockiert.
Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt.
Ich kehre um, marschiere eine Böschung hinauf und stehe
im Nirgendwo.
Was ich jetzt brauche, so notwendig wie die Luft zum
Atmen, das ist ein Wegweiser.
Aber ich sehe keinen.
Fast genauso gut wäre es, jemanden zu entdecken, den ich
nach dem Weg fragen kann.
Aber ich sehe niemanden.
Ich gehe einfach die Straße hinunter und hoffe auf ein
Einsehen des Schicksals.
Das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür lässt mich
abrupt im Gehen innehalten.
Eine Frau, die Kapuze ihres Mantels über den Kopf ge-
zogen und mit beiden Händen festhaltend, steht auf der
Treppe eines Hauses, läuft dann durch den Regen in
meine Richtung.
Ich rufe ihr meine Frage zu und sie bleibt stehen.
Mit einer Hand – die andere hält weiter die Kapuze fest –
deutet sie irgendwo in den Regen hinein und da ist er,
der ersehnte Wegweiser!
Keine zwei Minuten später bin ich wieder auf
dem Pfad zurück.
Schon bald sehe ich wieder die Wohnschiffe vor
mir, dann die ersten Häuser von Metz.
Ich erreiche den Boulevard Poincaré, steige eine
Treppe hinauf und bin von einer Sekunde auf die
nächste mitten im Feierabendtumult.
An der Porte Serpenoise vorüber, die im 19. Jahr-
hundert Teil einer Befestigungsanlage war, mar-
schiere ich zum Bahnhof.
So jammerschade, dies im Regen erlebt zu haben.
Hm, das Rosettenfenster der Katherdrale hat sofort meine Aufmerksamkeit.
Ich mag sie so gern sehen, mich davor wieder wegzubekommen dauert. 🙂
Schön, wie du beschreibst, dass du doch einiges gesehen hast.
Oft vergessen wir, wenn das Wetter nicht unseren Wünschen entspricht,
dass es um etwas anderes geht beim Gehen.
Liebe Grüße,
Silbia
Die Kathedrale ist insbesondere innen sehr beeindruckend. Die Fläche der Glasmalereien ist die größte einer Kirche in ganz Frankreich. Die Größe der Fenster bringt ein wunderbares, samtenes Licht im Innern hervor.
Ich bin den Regen ja gewohnt und kann sowohl das Gehen als auch das, was ich sehe, bis zu einem gewissen Grad auch dann genießen. Sonst würde ich an einem Regentag gar nicht erst losgehen. Aber natürlich hätte ich mir mildes und sonniges Wetter gewünscht.:-), dann hätte sich diese wirklich grandiose Stadt noch ganz anders präsentiert.
Vielen Dank für den Kommentar & liebe Grüße
Torsten
Sehr interessantes Wandertagebuch, anders und irgendwie besonders. Lese Deine Touren mit großem Spaß!
Vielen Dank, werde mich auch weiterhin bemühen, was Gutes hinzukriegen.:-)
So, nun bin auch ich gerade durch Metz geschwommen 😉 Dass die Stadt sich auch im Regen beeindruckend präsentiert, glaube ich sofort! Ich kenne sie (noch) nicht, kann aber anhand deiner und der Bilder im Internet sofort feststellen, dass ich an einem Besuch sehr interessiert bin. So viele alte Gemäuer – fiel es dir schwer zu entscheiden, was du dir an diesem Tag anschauen willst? Da müssen doch unheimlich viele Eindrücke – neben dem Regen 😉 – auf dich eingeprasselt sein! Na, und im Sommer fährst du wieder hin, setzt dich in ein Café und genießt die französische Lebensart 🙂
Vielen Dank mal wieder dafür, dass du uns Leserinnen und Leser auf unvergleichliche Weise an deinen Touren teilhaben lässt!
Liebe Grüße, Jana
Vielen Dank wieder für Deinen wunderbaren Kommentar!
Ich hatte vorher festgelegt, was ich auf jeden Fall sehen will, und das waren das Deutsche Tor, die Kathedrale, die Kapelle und die Porte Serpenoise. Dass es dann einiges mehr geworden ist, lag einerseits an meinen spontanen Erkundungen, andererseits daran, dass man in Metz praktisch auf Schritt und Tritt auf Sehenswürdigkeiten stößt. Selbst wenn man wollte, man könnte es gar nicht vermeiden!:)
Liebe Grüße
Torsten
Du erwähnst die Strecke Metz – Nancy. Wie weit wäre das denn und ist das eine offizielle, ausgeschilderte Wanderstrecke? Guter Beitrag übrigens.
Gruß Hendrik
Ja, es ist eine offizielle Strecke. Die Beschilderung besteht, wenn ich mich recht erinnere, aus einem gelb-weißen Balken mit der Aufschrift Metz – Nancy. Die Streckenlänge beträgt etwa 70 Kilometer. Wobei es zwei Varianten gibt. Die eine führt bis Nancy, die andere endet in einem Ort namens Liverdun.
Danke. Kennst Du Nancy zufällig auch? Ist das eine sehenswerte Stadt?
Ich persönlich finde Nancy äußerst sehenswert. Die Stadt strotzt nur so vor Sehenswürdigkeiten, ähnlich wie Metz.
Was die Strecke Metz – Nancy angeht, so hat man die Variante Liverdun offenbar deshalb eingerichtet, weil der eigentliche Weg durch irgendwelche Industrievororte führt. Da kann ich aber nur wiedergeben, was ich gelesen habe.
Metz mit seinen Sehenswürdigkeiten würde ich sehr gerne einmal sehen.
Es fällt mir schwer auf so eine, mit erlesenen Worten, beschriebene Wanderung noch einen Kommentar abzugeben.
Ich bewundere Dich Torsten, dass Du Dich trotz des düsteren Himmels und des Dauerregens auf diese Tour begeben hast. Optimistisch wie Du bist, fällt es Dir nicht besonders schwer das Beste daraus zu machen und den Eindrücken Deiner verschiedenen Situationen lebendig Ausdruck zu verleihen. Dein Gehen, ein Wort das so viel in sich birgt und den Gedankengängen keine Grenzen setz,t ist bei Deinen Wanderungen eine immerwiederkehrende, spannungsreiche Wahrnehmung. Deine Beschreibung vom Kanal und der Umgebung ist für mich beeindruckend. Zudem ist Deine Tour mit den vielen Fotografien wundervoll gestaltet.
Vielen Dank, liebe Ursula, für diesen schönen Kommentar. Die Wanderung hat auch wirklich trotz des Regens viel bereitgehalten. Ich mag solche abwechslungsreichen Strecken. Der Canal des Jouy war für mich eine positive Überraschung, denn er bot mehr an Natur, als ich vorher erwartet habe. Auch hier der Zusatz: In ein paar Wochen, wenn alles blüht, entfaltet der Weg sicher noch mehr Reiz.:-)