Wandertouren

TOUR 28 – VON NIEDALTDORF NACH SIERSBURG

Ich wusste, dass es das Ende war. Der Schmerz zerfetzte meine Lunge, schnürte mir die Luft ab, tötete mich. Mein Herz zersprang, meine Muskeln lösten sich auf. Ich keuchte, schnappte nach Luft.
Mein flackernder Blick irrte die Anhöhe hinauf, die mir nun viel länger und steiler erschien als von ganz unten. Das einzig Gute war, dass es mich an einer Stelle erwischt hatte, die mitten im Wald lag.
Mit letzter Kraft bugsierte ich mich mitsamt dem Fahrrad über den Straßengraben hinüber und ließ mich auf den weichen Waldboden sinken.
Ich grinste.
Es war interessant zu sehen, wie körperliche Schwäche im Handumdrehen den Geist zermürbte. Das würde sich aber wieder legen, sobald ich nicht mehr den Eindruck hatte, dass ein Zug mitten durch meinen Schädel fuhr.

Überblende.
Die Erinnerung an diese ewig zurückliegende Begebenheit während einer langen Radtour, bei der ich das Trinken vergessen hatte, verflüchtigt sich allmählich, löst sich auf wie eine Wolke aus kaltem Atem.
Ich bin wieder ganz im Hier und Jetzt.
Blick aus dem Fenster des Zuges, der langsam zum Stillstand kommt.
Ich erblicke viel Leere.
Einen leeren Bahnsteig.
Leere Straßen.
Und der Himmel kommt mir auch irgendwie leer vor.

Irgendwo hier in der Gegend muss der Schauplatz jener Erinnerung sein, die sich da gerade aus irgendwelchen Katakomben in mein Gedächtnis zurückgearbeitet hat.
Andererseits ist das so gut wie unmöglich, denn dazu müsste es hier erst einmal Steigungen geben, die diese Bezeichnung auch verdienen.

Der Bahnsteig in Niedaltdorf wirkt nicht ganz so verlassen wie ein Mondkrater.
Aber Orte mit Bahnhöfen können noch so abgelegen und einsam erscheinen, die Existenz des Bahnhofes macht sie im Vergleich zu abgelegenen, einsamen Orten ohne Bahnhof zu Metropolen. Selbst dann, wenn es sich um einen Bahnhof handelt, der nur ein einziges Gleis hat und von dem aus man nur in eine einzige Richtung fahren kann.

Ich habe diesmal lange gebraucht, um mich zu entscheiden, was ich mache.
Vereiste Strecken, frühe Dunkelheit und noch ein paar andere unschöne Dinge, die der Winter so mit sich bringt, haben die Entscheidungsfindung immens erschwert.
Aber ich glaube, es ist gar nicht so übel, was ich mir ausgedacht habe.
In Kurzfassung: Premiumwanderweg Druidenpfad, dann an der Nied entlang bis Siersburg und zur dortigen Burgruine, insgesamt etwa 18 Kilometer.

Vom Bahnhof in Niedaltdorf aus marschiere ich erst einmal durch den Ort hindurch.
Ich trotte eine Straße hinab, dann über eine Brücke, gehe an einer Kirche vorüber und schließlich eine Dorfstraße entlang, die sich zieht und zieht und bei der ich die ganze Zeit die Leere vor Augen habe, in die ich mich hineinbewege.
Auf dem Bürgersteig letzte Schneereste und noch etwas anderes, nämlich Partikel der Misthaufen, die ich vor dem einen oder anderen Haus entdecke. Wie lange ist es wohl her, seit ich so etwas zum letzten Mal irgendwo gesehen habe?

Unmittelbar hinter dem Ortsschild biege ich auf einen Asphaltweg ab.
Ich beobachte den Himmel.
Es ist eine Frage der Stimmung, ob man seine Farbe noch als Blau durchgehen lässt. Auf jeden Fall wirkt er höher und weiter als bei meinen letzten Wanderungen. Und am Rande meines Blickfeldes, jenseits der schneebedeckten Wiesen und Felder, gibt es einen hellen Schimmer, so, als ob dort jemand einen Kelch voll Licht ausgeschüttet hätte.

Der Druidenpfad beginnt mit einem stetig schmaler werdenden Saum, der sich in serpentinenartigen Schwüngen bergab durch den Wald windet.
Ich brauche keinerlei Eingewöhnungszeit, fühle mich sofort wohl. Eindrücke, Beobachtungen werden unmittelbar in positive Empfindungen umgesetzt. Wenn es irgendwo in mir noch Reste von Anspannung gegeben haben sollte, dann verabschieden sie sich jetzt endgültig ins Nirwana. Gedanken, leicht wie Blätter im Frühlingswind, wehen durch meinen Kopf.

Ziemlich rasch wird der Pfad tischeben.
Manchmal zeigt sich am Rand ein kaum nennenswerter Schneesaum.
Und ein paar vereiste Stellen gibt es auch. Einmal muss ich hart am Rande einer steilen Böschung daran vorüberbalancieren.
Ansonsten ist es ein Gehen wie bei trockenstem Frühlingswetter.

Zwischen den winterkahlen Bäumen hindurch kann ich auf die Nied blicken.
Irgendwie ist das ein ziemlich eigenartiger Fluss. Manchmal glaubt man kaum, dass es sich um ein Fließgewässer handelt. Man erkennt keine Strömung, keine Bewegung.
Dann wieder rauscht und gluckert und gurgelt es wie verrückt und es gibt sogar richtige kleine Stromschnellen.

Der Pfad wird breiter und ich beschleunige meine Schritte.
An einer Abzweigung bemerke ich einen Wegweiser, auf dem steht: Hemmersdorf 2 Kilometer. Durch Hemmersdorf muss ich hindurchwandern – oder daran vorüber, keine Ahnung -, wenn ich nach Siersburg will.
Eigentlich hatte ich ja vor, wieder nach Niedaltdorf zurückzukehren und von dort aus dann an der Nied entlang nach Siersburg zu wandern.
Aber dieser Wegweiser öffnet mir die Augen. Wieder nach Niedaltdorf zurückzukehren wäre in etwa so, als würde ich vom Kölner Dom auf die andere Rheinseite nach Deutz wollen, aber erst mal zum Neumarkt stapfen, falls einem diese Parallele was sagt. Oder als würde man … ach egal. Es wäre jedenfalls ein komplett unsinniges Unterfangen.
Was ich tun werde, ist Folgendes: Ich werde später ganz einfach den ersten Teil des Druidenpfades noch einmal gehen und ab hier dann dem Wegweiser nach Hemmersdorf folgen.

Nach der Abzweigung kann ich endlich einmal ein paar hundert Meter bergauf laufen. Danach bewege ich mich dann auf flachen Pfaden durch eine offene, weite Landschaft.
Wiesen, kleine Wäldchen, Hügel.
Dazu einzelne Bäume, manchmal im Spalier angeordnet, manchmal chaotisch verstreut.

Wieder der Blick zum Himmel.
Das ist jetzt ein Blau, kein Zweifel.
Zwar durchsetzt von allerlei anderen Farben und Farbtönen, aber ein Blau.
Zu Beginn der Wanderung hat es ein paar Tropfen geregnet. Mittlerweile aber erscheint mir Regen so wahrscheinlich wie Sonnenlicht im Marianengraben.

Es folgt nun eine Passage wie ein Realität gewordener Wanderertraum.
Ich gehe in eine immer mehr sich ausbreitende Stille hinein. Für eine ganz kurze Zeit ist es eine wirklich vollkommene, sozusagen perfekte Stille. Eine vielschichtige, in jedem einzelnen Augenblick gegenwärtige Stille ohne jegliches Geräusch, ohne jegliche Regung.
Der Pfad mäandert zwischen den Bäumen hindurch, entwindet sich gleichsam dem Blick, und an manchen Stellen ist es beinahe so, als würde er aus dem Nichts entstehen.

Ein alter Kohlenmeiler.
Dann ein Keltengehöft: ein Wohnhaus, ein Vorratshaus, ein Hügelgrab.
Irgendwoher muss der Name Druidenpfad schließlich kommen.

Ich mache jetzt richtig Tempo, fresse die Kilometer nur so. Einmal muss ich zwei Reiterinnen ausweichen, ansonsten komme ich im Eiltempo voran.
Wie beschlossen, gehe ich den ersten Teil des Druidenpfades noch einmal, an der erwähnten Abzweigung verlasse ich ihn dann, und wenig später befinde ich mich auch schon auf einem breiten Spazierpfad, der an der Nied entlangführt.

Ich gehe und gehe und gehe.
Der Weg ist flach und ich muss einfach immer nur geradeaus marschieren. Hier könnte ich mich nicht einmal dann verlaufen, wenn ich es darauf anlegen würde.
Wiesen, Weiden, der Fluss.
Ein paar verlassen wirkende Wochenendhäuser.
Es ist irgendwie eine typische Grenzregion, ein Niemandsland weitab der großen Städte.
Ein kurzes Intermezzo auf einer Brücke über die Nied, dann wieder gehen, gehen, gehen.

In Hemmersdorf drossele ich vorübergehend etwas das Tempo, werfe im Vorbeigehen einen Blick auf ein paar Häuser im Lothringer Stil und auf eine weithin sichtbare Kirche, dann bin ich auch schon wieder raus aus dem Ort und zurück auf dem Spazierpfad.

Von Hemmersdorf bis Siersburg habe ich noch ungefähr fünf Kilometer zu gehen.
Ein paar Spaziergänger begegnen mir, trotzdem macht sich ganz allmählich eine melancholische Abendstimmung breit. Dabei ist es erst halb vier.

Irgendwann sehe ich dann zwar schräg links auf einem bewaldeten Hügel die Burgruine, aber so wirklich weiß ich nicht, wie ich da hinkommen soll.
Als ich endlich in Siersbug bin, halte ich Ausschau nach irgendjemandem, der mir sagen kann, wie ich gehen muss.
Ich stiefele über einen Parkplatz voller Autos, aber weit und breit ist niemand zu sehen.
So langsam beschleicht mich die Sorge, dass ich es vielleicht gar nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit zur Ruine schaffe.

Aber die Sorge ist unbegründet.
Fünf Minuten später habe ich alles in Erfahrung gebracht, was ich wissen muss.
Von dem Parkplatz aus habe ich nur ein Stück an der Hauptstraße entlangzugehen, dann folgt auch schon die Abzweigung zur Burg hinauf. Erst noch durch ein Wohngebiet, dann durch den Wald.

Der Anstieg zur Burg ist steil, richtig steil.
Diesen Pfad könnte ich bei Eis oder Schnee unmöglich hinauf- und erst recht nicht hinunterstapfen. Da könnte ich eher an der Fassade eines Hochhauses emporklettern.

Dann bin ich oben.
Die Ruine hat sich die Bezeichnung Ruine redlich verdient. Sie sieht aus wie nach dem Überfall einer Horde Berserker auf Ecstasy.
Ein Turm steht noch, ebenso ein Teil der Außenmauer.
Ansonsten Mauerreste, Mauerreste, Mauerreste.
Und Steine. Und Bäume.
Aber plötzlich ist alles in ein mystisches Licht getaucht und für Minuten komme ich mir vor, als sei ich ins Zeitalter Merlins und Morgan le Fayes zurückversetzt worden.
Das kann man schon mal eine Weile auf sich wirken lassen.
Und überhaupt, so schlecht war die Wanderung nicht, alles andere als schlecht sogar.

Dann, zum allerersten Mal an diesem Tag, heller, fast strahlender Sonnenschein.
Eine Lichtwoge nach der nächsten flutet über die Hügel und Dörfer.
Kurz darauf, auf dem Rückmarsch von der Burg hinunter in den Ort, ist es damit aber auch schon wieder vorbei.

8 Comments

  • Silbia

    Nach dem bedrohlichen Anfang, klingt es am Ende deutlich lichtvoller!
    Fast wie eine Belohnung, die Sonnenstrahlen als das Ziel, die Ruine, erreicht war.

    „…und an manchen Stellen ist es beinahe so, als würde er gerade in dem Augenblick
    entstehen, da der Fuß den Boden berührt.“
    Zen würde ich sagen: Der Weg entsteht beim Gehen. .-)

    Möglicherweise bist du nach der feinen Wanderung im „Schwebezustand“ nach Hause gekommen.
    Tönt nach echter Zufriedenheit und Wohlgefühl – schön!

    Beste Grüße,
    Silbia

    • gorm

      Die Einleitung ist literarisch überspitzt und ich habe sie jetzt deutlich entschärft.:-)
      Ansonsten war das eine wunderbare Wanderung, die sehr viel Unterschiedliches geboten hat. Ich freue mich, dass die Tage jetzt immer länger werden und ich damit mehr Möglichkeiten habe. Vielen Dank für Deinen Kommentar!:-)

  • Sylban70

    Wow, das geht ja heftig los diesmal! Genialer Beginn, wie ich finde. Und die Tour selbst scheint ja alles gehalten zu haben, was Du Dir davon versprochen hast.

    • gorm

      Im Grunde war es eine aus der Not geborene Tour, denn nach wie vor bringt der Winter viele Einschränkungen mit sich. Der Druidenpfad ist ein wirklich schöner Wanderweg, leider aber mit 6 Kilometern sehr kurz. Aber am Ende hat alles gepasst – die Strecke, das Wetter, die eigene Befindlichkeit. Danke für den Kommentar!:-)

  • Ursula Dahinden-Florinett

    in den unsterblichen Worten von Forrest Gump (ich liebe diesen Film), resp. seiner Mutter: „Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiss nie, was man bekommt.“ Genau so ergeht es mir bei Deinen Wanderungen. Deine ersten Sätze, sowie die Naturbeschreibungen sind immer ausserordentlich anschaulich beschrieben und in einer beeindruckender Sprache erzählt.

    • gorm

      Ich wäre – wie bei meinen letzten Wanderungen auch schon – gespannt, wie der Druidenpfad sich wohl im Frühling präsentiert. Ich glaube, dass er dann noch mehr an Reiz gewinnt. Aber es ist auch so schon ein sehr schöner und empfehlenswerter Pfad. Vielen Dank für Deinen Kommentar!:-)

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