Wandertouren

TOUR 27: OTTWEILER: BHF – SCHAUINSLANDWEG – BHF

Der Winter.
Der Winter, das ist ein Himmel von fast durchsichtigem Blau.
Es ist ein unablässiger Sog, der von irgendwo aus der Stille kommt, mal ganz nah, mal weit entfernt.
Es ist das matte Rauschen des Windes, das Knirschen von Schnee unter den Stiefelsohlen.
Und es ist eine ständige Veränderung des Lichts. Manchmal ist es ganz fahl, als habe jemand ein Stück Pergamentpapier vor die Sonne geschoben, manchmal eisig und klar wie der Mond über der Antarktis, und oft gibt es an einer Stelle einen schmalen Streifen Helligkeit, während alles andere wie von einem grauen Tuch umhüllt ist.

Es ist die erste Wanderung des Jahres.
Die Umstände sind widrig. Kälte, Glatteis, starker Wind und noch ein paar andere unerfreuliche Dinge erwarten mich. Ein Tag für verstiegene Gedankengänge, für tiefsinnige Erwägungen ist das wirklich nicht. Heute geht es nur ums Ankommen, ums Bewältigen.

Ich lasse es langsam angehen.
Schlendern, trotten, irgendwas dazwischen.
Ottweiler hat eine kleine, aber feine Altstadt mit mittelalterlich angehauchten Häusern und einem Bergfried aus dem 15. Jahrhundert, der über die Gebäude hinausragt.
Ich überquere den Rathausplatz, luge in ein paar verwinkelte Gassen, schaue mir den Turm aus der Nähe an.

Eine knappe halbe Stunde spaziere ich hin und her, dann mache ich mich auf zum Schauinslandweg.
Von der Altstadt aus habe ich etwa zwei Kilometer auf einem Fußweg an einer stark befahrenen Straße entlangzugehen, der B 420. Ich habe nichts zu tun, als dieser Straße zu folgen, bis ich ein paar hundert Meter hinter Ottweiler links in den Wald abbiege.

Regen setzt ein.
Ein dünner, kalter Regen, der alles noch grauer und trüber erscheinen lässt. Er würde mich nicht besonders stören, dieser dünne, kalte Regen, wenn er auf dem Boden nicht zu Eis gefrieren würde.

Die ersten zweihundert Meter des Wanderweges unterscheiden sich nicht allzu sehr von einer Schlittschuhbahn.
Und danach wird es nur unwesentlich besser.
Ich arbeite mich einen schneebedeckten und von eisigen Rillen überzogenen Hang hinauf. Mir wird jetzt erst so richtig klar, dass ich an diesem Tag keinen Geschwindigkeitsrekord aufstellen werde. Meine Augen sind ständig in Bewegung, suchen nach den Stellen, die optisch einigermaßen ungefährlich erscheinen.

Ich stapfe vereiste Holzstiegen hinauf und dann über eine Wiese, die endlich einmal so etwas wie ein halbwegs trittsicherer Untergrund ist. Aber dafür fegen jetzt Windböen übers Gelände.
Trotz all der Widrigkeiten empfinde ich das Unterwegssein, das Gehen als angenehm, und ich muss dafür keinerlei Selbstbetrugsstrategien anwenden.

Kurz darauf der erste von mehreren Aussichtspunkten.
Ich sehe eine schneebedeckte Wiese, ein paar Bäume – je weiter weg, desto schemenhafter -, und am äußersten Rande des Blickfeldes eine Hügelkuppe.
Beim zweiten Aussichtspunkt wenig später bietet sich meinem Blick im Großen und Ganzen die gleiche Szenerie, nur ist der Horizont mittlerweile noch näher herangerückt und noch ein paar Nuancen verschwommener.

Zwischen diesen beiden Aussichtspunkten habe ich mich einen steilen Abhang hinabgequält, von dem ich hinterher nichtweiß, wie ich ihn ohne Sturz überstanden habe, danach habe ich mich immerhin 100 Meter an griffigem, sicherem Asphalt erfreuen dürfen, und schließlich habe ich mich durch einen Morast von Erdschollen und Schnee zu besagtem Aussichtspunkt hinaufgepflügt.

Immer trüberes Licht.
Wie kurz vor Sonnenuntergang.
Kälte kriecht über die Felder.
Von weitem sehe ich einen Mann durch den Schnee wandern. Es ist nicht genau zu erkennen, ob er sich auf einem der Wege voranbewegt oder quer über die Äcker läuft.

Der nächste Aussichtspunkt lässt nicht lange auf sich warten.
Ein nach allen Seiten offenes Plateau, auf dem ich im Großen und Ganzen das sehe, was ich bisher auch schon gesehen habe, nämlich eine erstarrte, von Nebelvorhängen begrenzte Landschaft.
Danach eine flache, aber mal wieder vereiste Piste. Links und rechts ein Spalier kahler Bäume.
Einen Farbrausch muss ich heute wirklich nicht befürchten.
Immer wieder kommt mir der Gedanke, wie all das wohl im Frühling aussehen würde.

Ich wandere ein kurzes Stück durch den Wald und dann bietet sich mir plötzlich ein Anblick, für den ein Begriff allein nicht ausreicht. Skurril, eigenartig, witzig, deplaciert, von allem ein bisschen.
Ein Aussichtsturm mitten im Nichts, in den bleichgrauen Himmel hinaufragend, daneben ein kahles Baumgerippe.
Es handelt sich um den gut 20 Meter hohen Betzehübel.
Wenn etwas zu einem Wanderpfad mit dem Namen Schauinslandweg passt, dann natürlich ein Panoramaturm, trotzdem weiß ich auf die Schnelle nicht, ob ich diesen Aussichtsturm gut oder schlecht finden soll.
Schließlich zucke ich in Gedanken die Schultern.
Er ist da und er wird nicht verschwinden, nur weil ich mir dieses oder jenes denke.

Ich steige nur die Hälfte der Stufen hinauf, 60 von 120.
Dann beschließe ich, nicht weiterzugehen. Erstens fegt der Wind durchs Gestänge wie der Große Rote Fleck auf dem Jupiter und zweitens würde ich an einem so trüben Tag wie heute auch von ganz oben nicht mehr sehen.

Ein paar Minuten später stapfe ich mal wieder einen vereisten Abhang hinunter. Allmählich bekomme ich darin Routine. Ein seltsam blaues Licht leuchtet über der Landschaft.
Dann aber schon wieder: Ein Wald in Winterstarre.
Ich folge einer breiten Schneise, die nahezu schnurgerade durch den Wald führt. Zur Rechten begleitet mich ein sanft ansteigender Hang mit Bäumen, die endlich einmal nicht aussehen wie abgenagte Skelette.

Aber es kommt noch besser.
Ich steige in eine Schlucht hinab, das „Kerbacher Loch“.
Hier bietet sich mir die Choreografie eines Tohuwabohus in Vollendung.
Ein Bach.
Steine, Steine, Steine.
Wurzeladern, plastisch aus dem Eis hervortretend.
Und vor allem Baumstämme, kreuz und quer und übereinander liegend und die Schlucht anfüllend.
Ein Hauch von winterlichem Märchenwald.
Bei diesem Anblick muss ich endgültig nicht mehr nach einer Antwort auf die Frage suchen, warum ich heute eine Wanderung in Angriff genommen habe.

Ich wandere weiter, einen schmalen Saum entlang, steige dann, umgeben von dieser ganz besonderen winterlichen Stille, aus der Schlucht wieder empor.
Ganz plötzlich gibt es keine Bewegung und kein Geräusch mehr. Nicht einmal Wind, der durch die Äste streicht.
Ein paar Minuten lang beobachte ich im Prinzip nicht, sondern nehme einfach nur wahr, registriere, speichere das Wahrgenommene ab.

Dann bin ich wieder an der B 420.
Endlichendlichendlich wieder Asphalt.
Richtig schnell gehen, das ist das, was mein Kopf jetzt will und was auch meine Beine wollen.
Der Weg zurück zum Bahnhof ist der reine Genuss.

6 Comments

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Es fing doch eigentlich gut an. Ottweiler mit seinen Riegelhäuser (Fachwerkhäuser)macht so einen idyllischen Eindruck. Angetan hat mir das „Kerbacher Loch“ mit dem malerischen Bachlauf und den sicher von Stürmen gefällten Baumstämme. Diese Baumstämme werden bestimmt jahrelang vor sich her modern. Eine kurzweilig erzählte Wanderung und einer für mich immer wieder schönen Sprache.

    • gorm

      Es war eine Tour mit den Einschränkungen, die Glatteis, Schnee und heftige Windböen nun mal darstellen. Ich wusste vorher, auf was ich mich einlasse und Spaß gemacht hat es trotzdem.:-) Das „Kerbacher Loch“ wird im Frühling noch um einiges attraktiver sein. Es würde sich sicher lohnen, es sich dann noch mal anzuschauen.

  • Silbia

    Ich hatte einen feinen Lesenachmittag, habe alle Wanderungen nachgelesen. Passend dazu regnete es, manchmal klopfte der Regen erinnernd ans Fenster meiner Kemenate. Gern bin ich mitgewandert, habe manchmal sehr geschmunzelt. Die Stimmungen sind nachfühlbar geschrieben, ich fühle mich in der Sprache zu Hause. In der Beschreibung des Gesehenen finde ich meinen Blick in die Natur. Das Empfundene des Gehens, kenne ich ebenso. Vielen Dank fürs Teilen, ich freue mich auf mehr.

    Beste Grüße,
    Silbia
    (@aufn2tnblick)

    • gorm

      Vielen Dank für diesen wunderbaren Kommentar! Für mich war vor Beginn dieses Blogs die Art der Sprache, die ich wählen würde, von entscheidender Bedeutung. Ich wollte einerseits keine zu schwierige, zu überfrachtete Sprache, andererseits sollte sie auch nicht zu schlicht ausfallen. Es freut mich sehr, dass die Beschreibungen meiner Touren Dir so zugesagt haben. Letztlich ist es mir wichtig, den eigenen Blick auf die Dinge anderen nachvollziehbar zu vermitteln.
      Viel Freude weiterhin beim Lesen und natürlich auch beim Umsetzen Deiner eigenen Kreativität in Worte und Bilder.

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