Wandertouren

TOUR 26: IDAR-OBERSTEIN: BHF – „RUND UM DIE KAMA“ – BHF

Es ist ein Tag, nicht schöner, aber auch nicht schlechter als irgendein anderer der vielen grauen Spätherbsttage der letzten Wochen, eher des sofortigen Vergessens als der Erinnerung wert. Ein Tag, nicht finster genug, um düstere Metaphern für ihn zu finden, aber es bleibt einem auch nicht gerade die Luft weg vor Begeisterung.

Es wird eine der kürzesten Wanderungen des Jahres werden, nicht mehr als 10 Kilometer, im Grunde nur so etwas wie ein Epilog. Es ist beinahe, als würde ich mir nur ein wenig die Beine vertreten.
Es ist zudem vielleicht die letzte Tour im Jahre 2016, aber nach Rückblick ist mir irgendwie ganz und gar nicht zumute. Was unter anderem daran liegt, dass mein Kopf bereits angefüllt ist mit Ideen und Plänen für die nächsten Monate.

Nur ein paar fragmentarische Überlegungen:
Erstens: Ich habe den Eindruck, in diesem guten halben Jahr des Wanderns und Gehens mehr über mich erfahren zu haben als es in tausend Stunden kontemplativer Selbstbeobachtung der Fall gewesen wäre.

Zweitens: Eines ist sicher: Sich ein Ziel zu setzen allein genügt nicht. Man muss auch die feste Überzeugung in sich tragen, dass es das richtige Ziel ist, sonst wird man höchstwahrscheinlich scheitern. Denn mit etwas zu beginnen, bedeutet schließlich nicht zwangsläufig, es auch zu Ende zu bringen.

Und drittens: Wenn ich den wichtigsten mentalen Aspekt des Gehens benennen sollte, dann besteht dieser für mich in dem Zusammenwirken der beiden kontrapunktischen Elemente Zielgerichtetheit und Geschehenlassen.

Zum zweiten Mal in diesem Jahr bin ich in Idar-Oberstein.
Beim ersten Mal bin ich den Nahe-Felsen-Weg abgewandert, diesmal nehme ich einen der beiden weiteren Premiumwanderwege in Angriff, die es hier gibt, nämlich „Rund um die Kama“.
Es existiert noch ein dritter Premiumweg in bzw. nahe Idar-Oberstein, nämlich der Edelsteinschleiferweg, der vielleicht auch mal irgendwann auf meinem Tourenplan stehen wird.

Ich gehe los.
Vom Bahnhof aus habe ich ungefähr anderthalb Kilometer zurückzulegen, um zum Startpunkt des Kamapfades zu gelangen.
Die Fußgängerzone, die so leer ist, als hätte man eine Ausgangssperre verhängt, lasse ich diesmal rechts liegen, und trotte ein paar hundert Meter eine schnurgerade Straße entlang.
Eine wartende Frau an einer Bushaltestelle, ein Mann, der aus irgendeiner Haustür auf die Straße tritt, dazu jede Minute ein auf der Straße an mir vorüberfahrendes Auto.
Man kann nicht gerade sagen, dass hier heute Morgen das Leben pulsiert.

Die Stadt liegt viel schneller hinter mir, als ich erwartet habe. Ich biege von der schnurgeraden Straße nach links ab und stapfe ein paar hundert Meter bergan. Dann eine Kurve – und von einer Sekunde zur nächsten ist da nur noch Landstraße.
Hundert Meter weiter biege ich dann noch einmal links ab und nach kurzer Zeit bin ich zum ersten Mal am Naheufer und zugleich auch im Zentrum eines einsamen Nirgendwo.

Irgendwo hier beginnt der gesuchte Wanderweg.
Ich habe weniger Eile als eine Landmasse bei der Kontinentalverschiebung und trabe ganz gemächlich dahin.
Ein Asphaltweg, gesäumt von kahlen Dezemberbäumen, zwischen deren Stämmen ich auf die Nahe hinabblicken kann. Später dann Felsen, die in den Weg hineinragen, so dass sich der ohnehin sehr schmale Pfad buchstäblich auf Fußbreite verengt.
Kurz darauf ein Holzsteg.
Und noch ein Felsen, wie ein zu Stein gewordener Riese.
Zu wenig, um es Idylle zu nennen, aber immerhin genug, um ein immer mehr sich ausbreitendes Wohlgefühl hervorzurufen.

Meistens ist die Nahe in Sichtweite.
An einer Stelle verlasse ich den Pfad und steige die Böschung hinab zum Ufer.
Die Böschung ist nicht wirklich steil, aber irgendwie habe ich mich offenbar von meiner eigenen Langsamkeit einlullen lassen. Ich komme ins Stolpern und plötzlich ist es, als gerate die gesamte Böschung ins Rutschen. Mein linkes Bein nagelt es auf der Stelle fest, während das rechte in Blitzesschnelle einen Meter nach unten gezerrt wird. Summa summarum ergibt das beinahe den ersten Spagat meines Lebens.
Das kommt davon, wenn man es allzu gemächlich angehen lässt.

Dann bin ich unten am Ufer.
Vorsichtig trete ich auf einen Stein im Fluss. Aus dieser Perspektive wirkt er recht breit. Und auch alles andere als ruhig. Kleine Stromschnellen umspielen die Steine, die überall aus dem Wasser ragen. Ständig entstehen irgendwo neue Wirbel, lösen sich Sekunden später in Nichts auf.
Auf dieser Tour ist die Nahe praktisch allgegenwärtig, aber diese Perspektive ist eindeutig die spektakulärste.

Ich arbeite mich wieder die Böschung hinauf und wandere weiter.
Wieder Felsen, wieder ein sehr schmaler Pfad, oft ganz von Laub bedeckt.
Danach ein welliges Auf und Ab mit Felsenstufen und einer Serpentine hinab in eine kleine Kerbschlucht.
Alles ganz schön und erbaulich, genau das Richtige für heute.

Von einer Bank aus habe ich dann endlich einmal einen freien Blick über die Szenerie.
Für einen Dezembertag, an dem tristes, monochromes Grau die Herrschaft übernommen hat, ist es gar nicht mal so übel, was sich meinem Blick bietet.
Ein Hügelkamm, scharf abgegrenzt gegen das verschwommene Nichts, in dem sich der Horizont verliert.
Ein kleiner Wald.
Irgendwo mittendrin ein Weg, zwischen einzeln stehenden Bäumen sich hindurchwindend.
Und natürlich die Nahe.
Die Farben sind etwas stumpf, aber immerhin sind es Farben.

Ich komme heute irgendwie aus meinem Trott nicht heraus.
Natürlich liegt das daran, dass die Strecke so kurz ist. Wenn ich in meinem normalen Tempo unterwegs wäre, dann wäre ich ja in anderthalb Stunden schon wieder zurück am Bahnhof. Es ist nicht schlimm, dass es so ist. Ich nehme es einfach zur Kenntnis und bewerte es nicht weiter.

Am Ende des Waldes stoße ich auf die „Hoppstädter Achatschleife“, Überreste einer alten Schleifmühle, 1850 erbaut.
In dieser Gegend gab es in früheren Jahrhunderten viele solcher Schleifmühlen für Edelsteine.
1850 waren die Achatvorkommen der Region allerdings bereits nahezu erschöpft, was zur Folge hatte, dass einerseits Achat aus anderen Teilen der Welt verarbeitet wurde, und dass andererseits die Achatschleiferei nach und nach anderen Industriezweigen weichen musste.

Ich stapfe an einer Wiese vorüber.
Auch wenn das Gras darauf aussieht wie schon mehrmals ausgerupft, ist das Grün ein Labsal für die Augen.
Dann wird es endlich einmal richtig steil. Zwar nur für 200 Meter, aber wenigstens verspüre ich am Ende des Anstiegs einen Hauch jenes Zusammenspiels von Bewegung und innerer Ausgeglichenheit, verbunden mit einer kristallinen Klarheit im Denken, wie ich es bei anderen Touren schon häufiger erlebt habe.
Aber heute ist alles eine Nummer dezenter und reduzierter.

Ich trotte durch ein Wohngebiet.
Das könnte Enzweiler sein, ein Stadtteil von Idar-Oberstein, von dem ich aber lediglich eine ruhige Straße und einen Sportplatz mit Aschebelag zu sehen bekomme, dann bin ich auch schon wieder im Wald.
Für ein paar Minuten beinahe gespenstische Stille, wenn man einmal vom Rascheln meiner Schritte im Laub absieht.
Zwischen den Baumwipfeln ein seltsam dunkles, Unbehagen hervorrufendes Licht.

Aber dann; vollkommen unerwartet, kommt die Sonne hervor.
Wo kommt die denn auf einmal her?
Ich bleibe stehen.
Wenn einem der Bäume am Wegesrand plötzlich Flügel gewachsen wären und er sich in die Luft erhoben hätte, wäre ich wahrscheinlich weniger überrascht gewesen als jetzt.
Ein geheimnisvolles Zauberlicht tanzt auf den Spitzen der Äste, leuchtet durchs Gezweig.
Und die Sonne verschwindet nicht etwa wieder, sondern sie wird nach und nach zu einer richtig hellen Wintersonne.

Um Idar-Oberstein herum bildet die Nahe viele größere und kleinere Schleifen.
Was die simple Erklärung dafür ist, dass ich mich auf dem letzten Kilometer zwar von der Nahe entfernt habe, sie jetzt aber trotzdem wieder vor mir sehe. Der Weg kürzt einfach eine dieser Flussschleifen ab.

Ich wandere wieder ins Tal hinab, wenn man einen Abstieg von rund 320 Metern Höhe auf ca. 250 Meter Höhe so nennen will.
Irgendwo dort unten wechsle ich dann über eine knallblaue Brücke aufs gegenüberliegende Naheufer.
Das ist es dann auch beinahe schon gewesen.
Nur noch ein kurzer Abstecher zum Krechelfelsen fehlt, einem Aussichtspunkt, von dem aus ich zum gefühlt tausendsten Male an diesem Tag die Nahe betrachten kann.

Danach der Showdown, nicht nur dieser Tour, sondern wohl auch des gesamten Wanderjahres.
Unter einer großen Brücke hindurch, dann einen kurzen, steilen Anstieg hinauf, hernach noch ein letztes Mal Wald und schließlich über ein Wehr hinüber.
Von da sind es bis zum Startpunkt der Wanderstrecke nur noch wenige Meter.

Aus dem kalten, dunklen Tag ist inzwischen ein kalter, heller Tag geworden.
Man spürt den nahen Winter.
Ich habe jede Menge Zeit.
Ohne jede Eile wandere ich zum Bahnhof zurück.

4 Comments

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Neben den Wanderbeschreibungen liebe ich einfach deine jeweiligen Einleitungen, denn ich finde deine Gedankengänge immer sehr spannend. Die Nahe ist ein immerwiederkehrender Fluss auf deiner Wanderung. Er scheint ja meist in Sichtweite gewesen zu sein. Du stösst auf die Ueberreste einer Achatschleife und aus Achat hatte ich einmal ein Amulett, welches mich vor negativen Schwingungen fernhalten und mir ein Gefühl von Sicherheit geben sollte. Nanu, ja wer daran glaubt.
    Wieder eine sich lohnende Tour zu lesen, in einer starken Sprache geschrieben.

    • gorm

      Ja, die Nahe war im Grunde immer gegenwärtig. Die Strecke an sich war kaum mehr als 6 Kilometer lang. Hinzu kam dann noch der Weg vom Bahnhof und zurück. Es war einfach so eine richtige Jahresabschlussstrecke, ein Epilog. Wenn ich dieses Jahr nicht schon einmal in Idar-Oberstein gewesen wäre, dann hätte ich zumindest die Felsenkirche noch in die Tour integriert. Vielen Dank auch diesmal für Deinen Kommentar, liebe Ursula.

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