Wandertouren

TOUR 25 – ST. WENDEL: BHF – TIEFENBACHPFAD – BHF

Ich habe in dieser Nacht einen Traum, einen von der Sorte, die hinterher noch so gegenwärtig sind, dass sie einem beinahe vorkommen wie eine Erinnerung an ein reales Erlebnis.
In diesem Traum gehe und gehe und gehe ich, ohne jemals an mein Ziel zu kommen, obwohl ich die ganze Zeit weiß, dass es nicht weit entfernt sein kann.
Und wie durch einen dünnen, durchlässigen Schleier treiben die Bilder jenes Traumes noch eine Weile aus der geheimnisvollen Dunkelwelt, der sie angehören, in mein Bewusstsein, als ich längst schon wach bin.

Alles an diesem Tag ist November.
Bereits morgens um zehn Uhr ist es so dunkel, als würde jeden Moment die Nacht hereinbrechen. An dem Wind, der durch die Straßen fegt, ist nichts Mildes mehr. Und ein monochromes Grau umschließt, durchdringt, vereinnahmt die gesamte Szenerie, überall, immer.

Vom Bahnhof in St. Wendel habe ich ungefähr vier Kilometer zu gehen, um zum Wendelinushof zu kommen, in dessen unmittelbarer Nähe der Tiefenbachpfad beginnt.
Die Straßen sind ziemlich exakt so belebt, wie man es an einem kalten Samstagmorgen in einem November erwarten kann, nämlich so gut wie gar nicht.
In der Fußgängerzone sind schon Weihnachtsmarktbuden aufgebaut worden. In der grauen Leere wirken sie wie verlassene Goldsucherhütten nach dem Ende des Goldrauschs am Klondike.
Ich laufe an der kleinen, nichtsdestoweniger aber dennoch imposanten Basilika vorüber und dann lasse ich die Innenstadt auch schon hinter mir.

Wenig später lasse ich mir vorsichtshalber von einem der wenigen Passanten, denen ich begegne, den Weg zum Wendelinushof detailliert beschreiben. Er entpuppt sich als passionierter Wanderer und ich erhalte von ihm eine Wegbeschreibung, mit der ich einen detaillierten Stadtplan hätte anfertigen können.

Eine Weile marschiere ich stetig bergauf.
Es wird nicht einmal minimal heller, der Himmel sieht aus wie ein zubetoniertes Grundstück.
Irgendwann erreiche ich das Missionshaus, das ab 1899 in mehreren Bauabschnitten auf dem Gelände eines schon im 15. Jahrhunderts existierenden Hofes erbaut worden ist.
Von hier aus muss ich nur noch ein kleines Stück durch den Wald gehen und ein paar hundert Meter an der Landstraße entlangwandern, dann bin ich endlich am Startpunkt des Tiefenbachpfades angekommen.

Auf dem Gelände des Wendelinushofes herrscht reges Treiben. Busladungen von Besuchern laufen hin und her.
Ich halte Ausschau nach dem Symbol des Tiefenbachpfades und entdecke es praktisch sofort.
Einen asphaltierten Weg hinauf gelange ich auf einen Feldweg und damit stellt sich bei mir auch endlich das Gefühl ein, mich auf einer richtigen Wanderung zu befinden.

Ich stapfe an Feldern und Wiesen vorüber.
Erinnerungen arbeiten sich aus dem Vergessen empor.
Vor langer Zeit bin ich schon einmal hier gewesen, keine Ahnung, wann genau und zu welchem Anlass.

Blick über die Landschaft.
Graues Land, Nebelland.
Ein eng begrenzter Horizont.
Sich auflösende Konturen, an manchen Stellen mehr, an anderen etwas weniger.
Alles scheint zum Stillstand gekommen.

Zum ersten Mal auf dieser Tour richtiger Wald.
Zwischen den Bäumen hindurch sehe ich auf das Missionshaus, an dem ich vorhin vorübergegangen bin.
Entlaubte, bizarre Baumgestalten säumen meinen Weg.
Trotz des Gehens spüre ich die Kälte an mir emporkriechen.

Einen Vorteil hat dieses Grau.
Alles, was nicht grau ist, springt einem umso stärker ins Auge. Jedes noch so matte, abgeblätterte Gelb oder Rot wird zu einem Erlebnis für die Sinne, zu einer in Farben umgewandelten Musik der Landschaft.

Laub, Laub und immer noch mehr Laub.
Manchmal verschwindet der Pfad vollkommen unter Bergen von Laub.
Selbst ein schmaler Steg, den ich irgendwann überschreite, ist übersät davon.

Mitten im Wald plötzlich ein Wochenendhaus.
Etwas weiter ein zweiter Steg, der über einen schmalen Bach führt, in dem der graue Himmel sich spiegelt.
Die Hand des Windes bewegt ein paar Baumwipfel.
Das hat jetzt schon beinahe etwas Idyllisches.

Ich weiß nicht, ob es diese stille Beschaulichkeit ist, die mich unaufmerksam werden lässt oder ob ich einfach nur einen Wegweiser falsch deute.
Jedenfalls stelle ich irgendwann fest, dass ich mich nicht mehr auf dem Tiefenbachpfad befinde. Ein Wandersymbol habe ich zuletzt an einer Stelle gesehen, die mindestens einen halben Kilometer entfernt ist.
Ich überlege, ob ich umkehren soll.
Aber während ich überlege, stapfe ich immer weiter und irgendwann scheint mir Umkehren die schlechtere Option.
Stattdessen biege ich auf einen Weg ab, von dem ich hoffe, dass er irgendwie auf den eigentlichen Wanderpfad zurückführt.

Mit jedem Schritt, den ich mache, wächst der Ärger über den Irrweg in mir. Das hätte es jetzt witklich nicht gebraucht. Mit einem Mal spüre ich die Kälte doppelt so heftig wie zuvor.
Auf jeden Fall muss der Pfad möglichst bald nach links führen. Wenn er nach rechts abbiegt, muss ich doch noch umkehren und dann sind es wesentlich mehr als 500 Meter, die ich zurückgehen muss.

Fünf Minuten lang schlägt der Weg eine schnurgerade Schneise den Berg hinauf.
Zehn Minuten.
Okay, wenn ich die ganze Zeit immer geradeaus wandere, werde ich sicher auch irgendwo ankommen, aber sicher nicht da, wohin ich zu kommen gedenke.
Dann führt der Weg plötzlich nach links.
Und nicht einmal einen Lidschlag später entdecke ich auch das Wandersymbol des Tiefenbachpfades wieder.
Durchatmen.

Kurz darauf stehe ich auf einer einsamen Höhe im böigen Wind.
Ich kann weit über über Wiesen und Felder, über Hügel und Wälder hinwegschauen, alles im Ungefähren sich verlierend, je weiter der Blick in die Ferne wandert.
An einem warmen Frühlingstag würde ich sicher länger hier stehenbleiben, aber Wind und Kälte treiben mich weiter.

Wieder in den Wald hinein.
Mein Ärger ist längst in sich zusammengefallen.
Ich wandere inen mäandernden Pfad hinab, dann eine gefühlte Stunde lang geradeaus.
Ist es die Kälte, die mich daran hindert, in meinen gewohnten Gehrhythmus hineinzufinden? Vielleicht. Jedenfalls komme ich zwar gut voran, aber irgendwie ist heute Sand im Getriebe. Wahrscheinlich muss man sich einfach damit abfinden, dass nicht jeder Gehtag gleich gut und harmonisch ist.

Nicht lange und das alles spielt ohnehin nicht mehr die geringste Rolle.
Nachdem ich eine Landstraße überquert habe, darf ich zwei Kilometer durch einen Novemberwunderwald wandeln. Ich fühle mich, als sei ich in ein Märchen der Gebrüder Grimm oder in irgendeine Fantasy-geschichte hineingeraten, die in einem magischen Elfenland spielt.

Wurzeln.
Nein, Wurzellandschaften.
Holzstiegen, halb verborgen im Laub.
Pfade, die sich schmal an den Bäumen entlangwinden.
Ein Bachlauf, wie von Feenhand in den Wald hineingewoben.
Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sich mein Verstand zurücklehnt und einfach nur noch geschehen lässt.
Ruhe sicker in meinen Kopf hinein.

Wieder ein paar Stiegen hinauf.
Oben auf einem breiten Weg durch kahlen Spätherbstwald.
Dann wieder hinab in eine kleine Schlucht.
Ein kleiner Brunnen.
Ein Steg wie zu Lederstrumpfs Zeiten.
Das Grau ist vergessen, die Kälte ist vergessen.

Irgendwann dann bin ich aus dem Wald heraus und habe endlich mal wieder Asphalt unter den Füßen. Zwei Reiterinnen kreuzen meinen Weg, verschwinden in der Ferne.
In einer Senke ein Dorf mit einer weißen Kirche.
Jenseits des Dorfes wieder einmal bewaldete Hügelkuppen.

Ein letztes Mal für heute Wald.
An Birken vorüber, die ein verblühendes Laubkleid tragen.
Steile Stiegen hinab, die das Laub vollkommen erobert hat. Und danach eine Passage, auf der so viel Laub liegt, dass wahrscheinlich nicht einmal zwei Leben ausreichen würden, um jedes einzelne Blatt zu zählen.

Der letzte Kilometer.
An einem Dorf vorüber wandere ich einen letzten Anstieg hinauf, dann verlasse ich den Wald endgültig.
Minuten später erreiche ich die ersten Häuser von St. Wendel.
Kalter Nieselregen setzt ein.
Bald schon sehe ich wieder die Basilika vor mir.
Durch die schmalen, immer noch fast menschenleeren Gassen der Altstadt trotte ich sehr langsam zum Bahnhof zurück.

10 Comments

  • Mata

    Wieder ein großartig geschriebener Beitrag. Metaphern, Sprachnuancierung, Erzählfluss. Ich habe es ja schon einmal gesagt: Es ist, als würdest Du mir gegenübersitzen und mir von Deinen Erlebnissen bei den Wanderungen berichten.

  • Jana

    Hatte ich anfangs einige Blog-Einträge nur überflogen, lese ich mir inzwischen jede Etappe in Ruhe durch, lasse Worte, Sätze auf mich wirken. Wie findet jemand immer wieder andere, schöne Wörter, um seine Eindrücke beim Wandern zu beschreiben? Nun, hier gelingt es hervorragend, lässt mich teilhaben, mich hinträumen. Was mir auch sehr gut gefällt, ist die optische Unaufdringlichkeit dieses Blogs. Denn ich mag es eher schlicht – zu Buntes, Bling-Bling und dergleichen lenken meine Augen nur ab.
    Es gibt viele (Wander-)Blogs. Dieser gehört für mich definitiv zu den Besonderen. Danke, Torsten! Liebe Grüße von Jana

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Jana, für diesen wunderbaren Kommentar.:-) Für Leserinnen wie Dich zu schreiben ist dann noch mal eine besondere Motivation. Liebe Grüße Torsten

  • Katrin

    Wenn man deine Wanderungen liest,hat man das Gefühl, dabei zu sein.Es macht mir jedesmal wieder Spaß.Dann erkennt man auch,was einem selber so an diesem Hobby fasziniert. Danke für deine Berichte. Gruß Katrin

    • gorm

      Vielen Dank!:-) Es ist schon erstaunlich, in welchem Maße das Wandern/Gehen inzwischen zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden ist. Das hätte ich noch zu Beginn dieses Jahres nicht gedacht. Und es gibt noch eine ganze Menge zu entdecken. Euch weiter viel Spaß und Faszination beim Wandern.:-) LG

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