Ich habe in dieser Nacht einen Traum, einen von der
Sorte, die hinterher noch so gegenwärtig sind, dass
sie einem beinahe vorkommen wie eine Erinnerung an
ein reales Erlebnis.
In diesem Traum gehe und gehe und gehe ich, ohne je-
mals an mein Ziel zu kommen, obwohl ich die ganze
Zeit weiß, dass es in der Nähe sein muss.
Und wie durch einen dünnen, durchlässigen Schleier
treiben die Bilder jenes Traumes noch eine Weile aus
der geheimnisvollen Dunkelwelt, der sie angehören, in
mein Bewusstsein.
Alles an diesem Tag ist November.
Bereits morgens um zehn Uhr ist es so dunkel, als
würde jeden Moment die Nacht hereinbrechen.
An dem Wind, der durch die Straßen fegt, ist nichts
Mildes mehr.
Und ein monochromes Grau umschließt, durchdringt, ver-
einnahmt die gesamte Szenerie, überall, immer.
Vom Bahnhof in St. Wendel habe ich un-
gefähr vier Kilometer zu gehen, um zum
Wendelinushof zu kommen, wo der Tiefen-
bachpfad beginnt.
Erst einmal begebe ich mich jedoch zum Dom
mitten in der Altstadt.
Die Straßen, durch die ich stapfe, sind nicht
allzu belebt. Und die Fußgängerzone ist fast so
leer wie ein Goldgräberdorf am Klondike nach
Ende des Goldrauschs.
Wenig später lasse ich mir vorsichtshalber von
einem der wenigen Passanten, denen ich
begegne, den Weg zum Wendelinushof detailliert be-
schreiben. Er entpuppt sich als begeisterter Wanderer
und ich erhalte von ihm eine Wegbeschreibung, mit der
ich einen Stadtplan hätte anfertigen können.
Eine Weile marschiere ich stetig bergauf,
erreiche irgendwann das Missionshaus, und
von dort aus muss ich nur noch ein kleines
Stück durch den Wald und dann an einer
Landstraße vorüber, dann bin ich da.
Endlich richtig wandern!
Auf dem Gelände des Wendelinushofes herrscht
reges Treiben. Busladungen von Besuchern
laufen hin und her.
Ich halte Ausschau nach dem Symbol des Tiefen-
bachpfades und entdecke es praktisch sofort.
Einen asphaltierten Weg hinauf gelange ich auf einen
Feldweg und damit stellt sich auch endlich das Gefühl
ein, sich auf einer richtigen Wanderung zu befinden.
Ich stapfe an Feldern und Wiesen vorüber.
Erinnerungen arbeiten sich aus dem Vergessen empor.
Vor langer Zeit bin ich schon einmal hier gewesen.
Aber die Erinnerungen bleiben unscharf und verflüch-
tigen sich bald wieder.
Ich lasse den Blick über die Landschaft schweifen.
Graues Land, Nebelland.
Ein eng begrenzter Horizont.
Sich auflösende Konturen.
Alles scheint zum Stillstand gekommen.
Alles außer meinen Gedanken.
Die rotieren noch immer, als würden in meinem Kopf
kosmische Strings hin und her schwingen.
Zum ersten Mal auf dieser Tour richtiger Wald.
Zwischen den Bäumen hindurch sehe ich auf das Mis-
sionshaus, an dem ich vorhin vorübergegangen bin.
Entlaubte, bizarre Baumgestalten säumen meinen Weg.
Trotz des Gehens spüre ich die Kälte an mir empor-
kriechen.
Eines aber kann ich sagen: Ganz allmählich merke ich,
wie mein Kopf klar und frei wird und die Bewegung
der Strings sich verlangsamt.
Musik der Landschaft
Und einen Vorteil hat dieses Grau.
Alles, was nicht grau ist, springt einem umso
stärker ins Auge. Jedes noch so matte Gelb
oder Rot wird zu einem Erlebnis für die
Sinne, zu einer in Farben umgewandelten
Musik der Landschaft.
Laub, Laub und immer noch mehr Laub.
Manchmal verschwindet der Pfad vollkommen unter
Bergen von Laub.
Selbst ein schmaler Steg, den ich irgendwann über-
schreite, ist übersät davon.
Mitten im Wald plötzlich ein Wochenendhaus.
Ein zweiter Steg.
Ein schmaler Bach, in dem der graue Himmel sich spie-
gelt.
Die Hand des Windes bewegt ein paar Baumwipfel.
Das hat jetzt doch schon etwas Idyllisches.
Ich weiß nicht, ob es diese stille Beschaulichkeit ist,
die mich unaufmerksam werden lässt oder ob ich einfach
nur einen Wegweiser falsch deute.
Jedenfalls stelle ich irgendwann fest, dass ich mich
auf einem Irrweg befinde. Und ein Wandersymbol habe
ich zuletzt an einer Stelle gesehen, die mindestens
einen halben Kilometer entfernt ist.
Ich habe absolut keine Lust umzukehren.
Stattdessen stapfe ich einen Weg hinauf, von dem ich
hoffe, dass er irgendwie auf den eigentlichen Wander-
weg zurückführt.
Mit jedem Schritt, den ich mache, wächst der Ärger
über den Irrweg in mir. Mit einem Mal spüre ich die
Kälte doppelt so heftig wie zuvor.
Auf jeden Fall muss der Pfad möglichst bald nach links
führen. Wenn er nach rechts abbiegt, muss ich doch noch
umkehren, und dann sind es wesentlich mehr als 500
Meter, die ich zurückgehen muss.
Fünf Minuten lang schlägt der Weg eine schnurgerade
Schneise den Berg hinauf.
Zehn Minuten.
Dann führt er nach links.
Und nicht einmal einen Lidschlag später entdecke ich
auch das Wandersymbol des Tiefenbachpfades wieder.
Durchatmen.
Wenige Minuten später stehe ich auf einer
einsamen Höhe in böigem Wind.
Weit streicht der Blick über Wiesen und Felder,
über Hügel und Wälder hinweg, alles im Unge-
fähren sich verlierend, je weiter der Blick in
die Ferne wandert.
Mein Ärger ist längst in sich zusammengefallen.
Wieder in den Wald hinein.
Einen mäandernden Pfad hinab, dann eine gefühlte
Stunde lang geradeaus.
Ist es die Kälte, die mich daran hindert, in meinen
gewohnten Gehrhythmus hineinzufinden? Vielleicht. Jeden-
falls komme ich zwar gut voran, aber irgendwie ist
heute Sand im Getriebe. Wahrscheinlich muss man sich
einfach damit abfinden, dass nicht jeder Gehtag gleich
gut und harmonisch ist. Die Freude am Gehen ist trotz-
dem da.
Märchen, Fantasy
Kurz darauf wird das alles ohnehin nicht mehr die ge-
ringste Rolle spielen.
Nachdem ich eine Landstraße überquert habe, darf ich
zwei Kilometer durch einen Novemberwunderwald
wandeln. Ich fühle mich, als sei ich in ein Märchen
der Gebrüder Grimm oder in irgendeine Fantasy-
geschichte hineingeraten, die in einem magischen Wald
spielt.
Wurzeln.
Nein, Wurzelgeflechte.
Holzstiegen, halb verborgen im Laub.
Pfade, die sich schmal an den Bäumen
entlangwinden.
Ein Bachlauf, wie von Feenhand in den Wald
hineingewoben.
Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen,
an dem sich mein unruhiger Geist zurücklehnt und
einfach nur noch geschehen lässt.
Ruhe sickert, strömt in meinen Kopf hinein.
Wieder ein paar Stiegen hinauf.
Oben auf einem breiten Weg durch kahlen
Spätherbstwald.
Dann wieder hinab in eine kleine Schlucht.
Ein kleiner Brunnen.
Ein Steg wie zu Lederstrumpfs Zeiten.
Irgendwann dann bin ich aus dem Wald heraus
und habe endlich mal wieder Asphalt unter den
Füßen. Zwei Reiterinnen kreuzen meinen Weg,
verschwinden in der Ferne.
In einer Senke ein Dorf mit einer weißen Kirche.
Jenseits des Dorfes wieder einmal bewaldete Hügel-
kuppen.
Ein letztes Mal in den Wald hinein.
An Birken vorüber, die ein verblühendes Laub-
kleid tragen.
Steile Stiegen hinab, die das Laub vollkommen
erobert hat. Und danach eine Passage, auf
der so viel Laub liegt, dass wahrscheinlich
nicht einmal zwei Leben ausreichen würden,
um jedes einzelne Blatt zu zählen.
Der letzte Kilometer.
An einem Dorf vorüber wandere ich einen
letzten Anstieg hinauf, dann verlasse ich den Wald endgültig.
Minuten später erreiche ich die ersten Häuser der
Stadt.
Kalter Nieselregen setzt ein.
Bald schon sehe ich wieder den Dom vor mir.
Durch die schmalen, immer noch fast menschen-
leeren Gassen der Altstadt trotte ich sehr langsam zum
Bahnhof zurück.
Etwas gedecktere Farben diesmal. Trotzdem eine sehr gut rübergebrachte Wanderung.
Die Novemberatmosphäre war nun mal, wie sie war.:-) Vielleicht erwische ich beim nächsten Mal wieder einen sonnigeren Tag.
Wieder ein großartig geschriebener Beitrag. Metaphern, Sprachnuancierung, Erzählfluss. Ich habe es ja schon einmal gesagt: Es ist, als würdest Du mir gegenübersitzen und mir von Deinen Erlebnissen bei den Wanderungen berichten.
Da kann ich mich einfach nur mal wieder bedanken.:-)
Hatte ich anfangs einige Blog-Einträge nur überflogen, lese ich mir inzwischen jede Etappe in Ruhe durch, lasse Worte, Sätze auf mich wirken. Wie findet jemand immer wieder andere, schöne Wörter, um seine Eindrücke beim Wandern zu beschreiben? Nun, hier gelingt es hervorragend, lässt mich teilhaben, mich hinträumen. Was mir auch sehr gut gefällt, ist die optische Unaufdringlichkeit dieses Blogs. Denn ich mag es eher schlicht – zu Buntes, Bling-Bling und dergleichen lenken meine Augen nur ab.
Es gibt viele (Wander-)Blogs. Dieser gehört für mich definitiv zu den Besonderen. Danke, Torsten! Liebe Grüße von Jana
Vielen Dank, liebe Jana, für diesen wunderbaren Kommentar.:-) Für Leserinnen wie Dich zu schreiben ist dann noch mal eine besondere Motivation. Liebe Grüße Torsten
Wenn man deine Wanderungen liest,hat man das Gefühl, dabei zu sein.Es macht mir jedesmal wieder Spaß.Dann erkennt man auch,was einem selber so an diesem Hobby fasziniert. Danke für deine Berichte. Gruß Katrin
Vielen Dank!:-) Es ist schon erstaunlich, in welchem Maße das Wandern/Gehen inzwischen zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden ist. Das hätte ich noch zu Beginn dieses Jahres nicht gedacht. Und es gibt noch eine ganze Menge zu entdecken. Euch weiter viel Spaß und Faszination beim Wandern.:-) LG
Herzlichen Dank für diese äusserst anschauliche Wanderbeschreibung! Es ist beeindruckend wie du es schaffst durch geschickte Wortwahl deinen Lesern das Gefühl zu vermitteln, unmittelbar dabei gewesen zu sein.
Vielen Dank für die netten Worte, liebe Ursula, und weiterhin viel Spaß beim Lesen.