Wandertouren

TOUR 19 – HOFELD: SCHMUGGLERPFAD

Irgendwie ist an diesem Tag von Anfang an etwas durch und durch falsch.
So falsch, als würde Schnee im Sommer fallen oder als würde ich erwachen und feststellen, dass ich nur eine fiktive Figur in einem Roman bin.

Dabei sind eigentlich alle Voraussetzungen für eine großartige Wandertour gegeben: Die Farbenpracht des Herbstes in Verbindung mit der Wärme eines immer noch nachwirkenden Sommers, besser geht es doch gar nicht.
Aber ich merke sehr rasch, dass ich heute nicht meinen besten Tag habe. Die letzten beiden Nächte habe ich kaum geschlafen und von der Leichtigkeit, mit der ich in den vergangenen Wochen wesentlich längere und schwierigere Strecken bewältigt habe, ist wenig zu spüren.
Macht nichts, ich muss schließlich nicht im tiefsten Winter über halsbrecherische Pfade quer durch den Yellowstone Nationalpark wandern, sondern habe lediglich eine gerade mal 13 Kilometer lange Tour über ein paar Hügel vor mir.

Ich bin mal wieder in einer Gegend, wo man als Fremder so wenig auffällt wie ein Vampir am Badestrand.
Blicke folgen mir, als ich vom Bahnhof aus die Dorfstraße entlangtrotte. Unfreundlich sind die Blicke allerdings nicht, sondern nur neugierig.

Bis zum Startpunkt des Schmugglerpfades muss ich vom Bahnhof aus nur wenige hundert Meter gehen.
Anfangs wirkt die Strecke noch keineswegs wie ein Premiumwanderweg. Ein breiter Kiespfad, auf dem mir viele Leute mit Hunden entgegenkommen und vereinzelt ein Jogger, das ist jedenfalls nicht unbedingt das, was ich erwartet habe. Aber es ist ja auch erst der Anfang.

Am Wald entlang, im Schatten, gehe ich auf ein zunächst kleines, nach und nach aber immer größer werdendes Lichttor zu.
Irgendwann durchschreite ich es und wandere von einer Sekunde zur nächsten unter einem Himmel dahin, an dem keine noch so minimale Eintrübung zu erkennen ist.
Nicht lange und ich verlasse den Kiespfad und von nun an bestimmen für eine ganze Weile Koppeln, Wiesen, Weiden und abgemähte Felder die Szenerie.

Stilles Land.
Selbst der Güllewagen, der auf einer Weide herumsteht, wirkt idyllisch.
Die Dörfer, die ich von weitem sehe, kommen mir vor wie in die Landschaft hineingemalt.
Ich bin eigentlich nie weiter als ein paar hundert Meter vom nächsten Ort entfernt, trotzdem dringt so gut wie kein Geräusch an mein Ohr.

Angenehmerweise wandere ich nicht die ganze Zeit in der gleißenden Sonne.
Die Passagen, in denen der Schatten die Oberhand hat, sind allerdings nur kurz. Ein paar Sträucher, ein paar niedrige Bäume, dann ist es auch schon wieder vorbei damit.

Zwar wird das heute wohl nicht mehr so wirklich mein Tag werden, aber das hindert meine Gedanken nicht daran, ganz entspannt dahinzugleiten.
Dass ich zwischendurch auch mal eine Landstraße überqueren muss, stört mich nicht.
Der Asphaltweg, der dann folgt, ebenso wenig.

Ich passiere einen alten Grenzstein.
Über 100 Jahre lang – von 1817 bis 1918 – war der Landstrich, den ich nun durchwandere, eine Exklave des mehrere hundert Kilometer entfernten Großherzogtums Oldenburg, eine Folge der auf dem Wiener Kongress ausgehandelten Neuordnung Europas.
„Fürstentum Birkenfeld“ war die Bezeichnung dieses eigenartigen Konstruktes.

Einem irgendwas zwischen sanft und halb steil ansteigenden Geröllpfad folgend, stapfe ich immer tiefer ins Nirgendwo hinein.
Kleine Dörfer zwischen abgemähten Feldern.
Ein paar Windräder.
Ein Hochsitz.
Und eine Wiese nach der anderen.
Dann aber zur Abwechslung mal ein Waldstück mit einer kleinen, na ja, Schlucht. Aber auch hier kann ich zwischen den Bäumen hindurch auf eine Wiese blicken.
Ich trotte über eine Holzbrücke hinweg, und dann hat das Wald-Intermezzo auch schon wieder ein Ende.

Kurz darauf wandere ich an einem Gehöft vorüber.
Menschliche Stimmen, Traktorgebrumm.
Am Wegrand eine Kuhattrappe in Schwarz-Rot-Gold.
Der große, freistehende Baum, an dem ich ein paar Meter weiter vorübergehe, gefällt mir da doch wesentlich besser.

Wenige Augenblicke später übersehe ich beinahe das Wegesymbol, bemerke erst im allerletzten Moment, dass ich nicht geradeaus gehen, sondern rechts am Wald entlangstapfen muss.
Nein, heute ist wirklich nicht mein Tag. Ich habe zu wenig zum Trinken mitgenommen, nur anderthalb Liter. Die Strecke ist fast 13 Kilometer lang, es herrscht sommerliche Hitze. Auch die Müsliriegel, die ich mitnehmen wollte, habe ich vergessen. Wo war ich beim Packen des Rucksacks eigentlich mit meinen Gedanken?

Zu den zahllosen Wiesen gesellen sich jetzt immer mal wieder ein paar Äcker.
Und über allem diese Sommersonne im Herbst.

Noch ein Schild mit einem Hinweis auf einen alten Grenzpunkt: „Sie verlassen Preußen. Nach wenigen Metern betreten Sie das Saargebiet unter Völkerbundsmandat …“

Meine Kehle ist inzwischen staubtrocken.
Ich halte mich nirgends auf, die Strecke verschwindet nur so unter meinen Füßen.
Ein kleiner Anstieg auf gewundenen Pfaden im Wald, später über eine schmale Straße hinüber, wieder ein Anstieg und wieder Wald.

Ich registriere die Dinge, als würde ich an einer Galerie von Landschaftsfotos entlanglaufen.
Mäandernde Pfade in einem dunkellichten Schattenmusterwald.
Verwunschene Zwielichtbereiche ohne Trennlinien, ineinander übergehend, miteinander verzahnt.
Ein Fernblick über die Baumspitzen hinweg, alles noch grün, keine Spur von Herbst.
Das Bild hängt noch eine Weile hinter meiner Stirn fest, während ich weitergehe.

Nach einem steilen Abstieg, der nach und nach allerdings abflacht, stelle ich überrascht fest, dass ich schon fast am Ziel angekommen bin.
Nur noch ein paar letzte Stiegen und Windungen hinab und schon bin ich da.
Es ist beinahe, als hätte ich nur einmal kurz die Augen geschlossen.

 

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6 Comments

  • Ursula Dahinden-Florinett

    Also es war eine Premiumwanderung. Ich habe gelesen, dass es 111 Premiumwanderungen -Traumschleifen gibt. Da hast du noch einiges zu durchgehen!
    Der Anblick der grünen Wiesen auf denen du über, auf und entlang gewandert bist dem ausgetrockneten Bachbett und den verträumten Dörfer ist so bildhaft gut beschrieben.
    Schmugglerpfad: irgendwas, irgend ein Zeichen über die damals abenteuerlichen „Helden“ des Schmuggels habe ich vermisst. Vielleicht ist Schmugglerpfad einfach nur ein Fantasiename.
    Die Wanderung ist wieder fesselnd beschrieben. Ueber deine Sprache müsste ich ja gar nichts mehr sagen, denn sie ist einfach brillant.

    • gorm

      Vielen Dank, liebe Ursula.:-) Es gab auf der Strecke mehrere Hinweisschilder auf alte Grenzen zu sehen. Ich vermute, dass da kräftig geschmuggelt wurde.:-) Was die Premiumwege angeht, so gibt es tatsächlich noch so einige. Ich muss schauen, inwieweit sie sich in meine Touren einbauen lassen.

  • Rüdiger Andres

    Tut mir leid, habe einen sehr langen Kommentar (fast eine Stunde Arbeit) geschrieben, der dann beim Absenden durch die Änderung des CAPTCHA Codes einfach rausflog.

    • gorm

      Das ist natürlich mehr als ärgerlich und tut mir leid. Es war ohnehin überfällig, den Captcha-Code für Kommentare zu deaktivieren und das habe ich jetzt getan.

      Beste Grüße
      TW

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