Wandertouren

TOUR 9 – THOLEY: ABTEI – „SCHAUMBERGER TAFELTOUR“

Ich hasse es, einen Wanderbericht schon wieder mit dem Wort eigentlich beginnen zu müssen, Es ist ein Wort, das sich bei allzu häufigem Gebrauch nach Versagen anhört, nach dem Verfehlen von Zielen, nach Scheitern, nach Ausrede.

Diesmal jedoch handelt es sich um etwas völlig Banales.
Ursprünglich war für diesen Tag eine Wanderung zu zweit vorgesehen, und zwar in Kusel. Von dort sollte es in Richtung Burg Lichtenberg gehen, der längsten Burgruine Deutschlands. Diese Wanderung wird jetzt aus verschiedenen Gründen eine Woche später stattfinden.

Ich vergeude nicht viel Zeit damit, eine Alternative ausfindig zu machen, sondern entschließe mich kurzfristig, einen Premiumwanderweg abzuwandern, zu dem ich nur ein paar Kilometer Anreise habe.
Obwohl ich meine Erkältung mittlerweile völlig überwunden habe und mich nicht mehr anhöre wie ein Rhinozeros mit Asthma, will ich keine zu schwierige Strecke auswählen. Andererseits gibt es auch keinen Grund, mich überhaupt nicht zu fordern.

Mit rund 12 Kilometern und gut 400 Metern Auf- und Abstieg ist die „Schaumberger Tafeltour“ unter diesen Voraussetzungen ein annehmbarer Kompromiss.
Zwar ist mir der genaue Streckenverlauf nicht bekannt, aber ich kenne die Gegend gut genug, um zu wissen, dass es am Anfang längere Zeit bergauf gehen wird.

Diese Tour ist die erste nach meiner Ankündigung – sowohl in meinem privaten Umfeld als auch auf Twitter -, innerhalb der nächsten Jahre über viele Etappen verteilt den über 900 Kilometer langen Fränkischen Marienweg zu absolvieren. Vielleicht wird mir dieser Entschluss irgendwann von irgendwem genüsslich unter die Nase gerieben werden, weil ich nicht in der Lage gewesen bin, ihn umzusetzen. Aber dann ist es eben so.
Es war kein spontaner Entschluss und ich war weder betrunken noch sonst irgendwie unzurechnungsfähig, als ich ihn gefasst und verkündet habe.
Im Vergleich zu den großen Ereignissen in der Welt, geschweige denn im Universum, ist diese Sache und was daraus wird, ohnehin nicht mehr als ein Funke in einem galaktischen Feuer.
Auf die Gründe für meinen Entschluss werde ich irgendwann vielleicht noch näher eingehen, aber letztlich verbirgt sich nichts wirklich Geheimnisvolles dahinter.

Startpunkt von Tour 9 ist die Benediktinerabtei in Tholey.
Ich sehe mir zunächst in aller Ruhe den Klostergarten an, dann nehme ich die Strecke in Angriff.
Geräusche werden das charakteristische Merkmal dieser Wanderung werden, und zwar Geräusche sehr unterschiedlicher Art: Der schrille Ruf eines Wegebussards, das Knattern einer Kettensäge, aber auch die Musik der Stille.

Ein paar hundert Meter führt mich mein Weg durch den Ort, dann – nachdem ich die Hauptstraße überquert habe – in den Wald oder besser gesagt eine Ansammlung von Bäumen hinein.
Aus dem Garten eines der letzten Häuser weht dichter Rauch herüber. Da sollte sich wohl jemand mal einen Ratgeber „Rauchfrei grillen“ zulegen. Ein mir entgegenkommender Mann hustet, was das Zeug hält. Vor lauter Husten kann er nicht einmal grüßen und nickt stattdessen nur mit dem Kopf.

Je höher ich komme, desto weiter schweift mein Blick über die Landschaft hin. Ich sehe Wiesen und Felder mit schmalen Straßen dazwischen und verloren wirkenden Dörfern am Horizont. Hätte der Tag sein Purpurkleid angelegt, hätte ich noch mehr Wiesen und Felder und Straßen und Dörfer gesehen, aber er trägt nur seine graue Alltagstracht.

Der Aussichtsturm auf dem  Schaumberg sieht von der einen Seite ein wenig aus wie der Rumpf eines Roboters.
Ich bin zu früh dran. Die Aussichtsplattform ist noch geschlossen, was natürlich schon etwas ärgerlich ist. Andererseits entfaltet die Aussicht ja ohnehin nur an klaren Tagen ihren Reiz und davon kann heute wahrlich nicht die Rede sein.

Ich halte mich nicht allzu lange hier auf, sondern setze schon nach wenigen Minuten meinen Weg fort.
Ich steige schmale, überwucherte Stiegen hinab und gelange in einen Wald, der endlich auch wirklich ein richtiger Wald ist.

Ein schmaler, von Steinen übersäter Pfad fordert meine Aufmerksamkeit, aber schon nach kurzer Zeit wird daraus ein breiter, ebener Waldweg, bei dem ich lediglich aufpassen muss, nicht eine der Abzweigungen zu verpassen. Allerdings sind die Hinweisschilder so groß, dass man sie wahrscheinlich nicht einmal dann übersehen könnte, wenn man auf gar nichts achten würde.
Ich habe lediglich ein arithmetisches Problem. Irgendwo, und zwar noch bevor ich den Aussichtsturm erreicht hatte, habe ich ein Hinweisschild mit der Kilomterangabe Schaumberger Tafeltour 8,8 Kilometer gesehen.
Das Schild ist keine Halluzination gewesen und ich bin auch in der Lage, Zahlen voneinander zu unterscheiden.
Seitdem ich an dem Schild vorübergegangen bin, habe ich pi mal Daumen 2 bis 3 Kilometer zurückgelegt. Weshalb stoße ich dann plötzlich auf einen Wegweiser, auf dem zu lesen ist: Schaumberger Tafeltour 9,6 Kilometer?
Aber wenn ich es nicht im Laufe der Zeit aufgegeben hätte, über solche Mysterien nachzudenken, dann wäre mein Kopf angefüllt mit ungelösten Rätseln.
Ich wandere einfach weiter.

Am Waldrand, an einer Stelle mit freiem Blick über die Landschaft, lasse ich mich kurz auf einer Bank nieder.
Über mir zieht ein Wegebussard seine Kreise.
Ich erkenne nicht viele Vogelrufe, aber den eines Wegebussards kenne ich ganz genau, seit ich vor einigen Jahren mal von einem ziemlich aggressiven Bussard scheinattackiert wurde.
WUUUSCHSCH!
Scharfe Bussardkrallen in Zentimeterabstand vom Ohr gehören nicht zu den Ereignissen, die ich allzu oft erleben will.
Am nächsten Tag nahm ich einen Stock mit und hielt ihn mir senkrecht über den Kopf. Da Bussarde immer den höchsten Punkt angreifen, brachte ich ihn damit ziemlich durcheinander. Ein paar Mal griff er den Stock an, dann ließ er mich in Ruhe.

Die Rufe des Wegebussards begleiten mich noch eine ganze Weile. Erst als mich wieder im Wald befinde, höre ich sie nicht mehr.
An einem verrotteten Gatter ist ein Schild befestigt, auf dem vor Mountainbikern gewarnt wird. Ich begegne aber nur dreien, und die sind allesamt beinahe langsamer unterwegs als ich, weil sie sich über Stock und Stein einen steilen Anstieg hinaufquälen, während ich ihnen leichten und ziemlich raschen Schrittes bergab entgegenkomme.

Immer wieder gibt es kurze Passagen, in denen die Landschaft sich öffnet und man den Blick über Wiesen und bewaldete Hügel wandern lassen kann.
Bei mir hat sich jetzt ein Rhythmus des Gehens eingestellt, den ich besonders schätze – ein Gleichklang zwischen Atem und Schritten, ergänzt von dem Gefühl, dass ich stundenlang so weitergehen könnte. Zugleich sind meine Sinne auch auf die Wahrnehmung der Umgebung ausgerichtet. Ich versinke keineswegs in mir selbst und nehme alles um mich herum nur als unscharfe Bewegung am Rande meines Bewusstseins wahr.

Das nächste Geräusch, das mich begleitet oder vielmehr verfolgt, ist das Gebrumm eines Traktors, mit dem ein Bauer dabei ist, eine Wiese zu mähen. Die Wiese ist riesig und der Bauer hat mit dem Mähen gerade erst angefangen.
Ich beschleunige meine Schritte etwas, aber das Gebrumm ist hartnäckig und verliert sich erst ganz allmählich, je weiter ich mich entferne.

Am Rande des kleinen Dorfes Berschweiler biege ich rechts wieder in den Wald ab und folge dem Lauf eines Baches, der immer schmaler wird. Zu Dutzenden, wenn nicht zu Hunderten liegen große glatte Steine im Bachbett.
Ich überquere eine Brücke und kurz darauf verlasse ich den Wald.
An einem Maisfeld vorüber, dann über einen Kiesweg gelange ich unvermittelt in eine völlig verwilderte Szenerie – kniehohes Gras, Gestrüpp, Dornen, ein Chaos von Pflanzen, die in alle möglichen Richtungen wachsen.
Und über mir mal wieder der Schrei eines Wegebussards.

Als ich diese Passage hinter mir habe und mich schon freue, dass nur Naturgeräusche zu vernehmen sind, begegne ich einem Mann mit langem weißem Dubliners-Bart, der genau in diesem Augenblick beginnt, große Baumstämme mit einer Kettensäge zu bearbeiten.
Eine Viertelstunde lang dröhnt und röhrt es nun hinter mir her, bis ich mich endlich so weit von dem Lärm entfernt habe, dass ich ihn nur noch als ferne Schwingung und schließlich überhaupt nicht mehr höre.
Ich setze mich auf eine am Wegesrand stehende Bank und entspanne mich, lausche der Musik der Stille.

Es ist jetzt nicht mehr weit.
Nachdem ich eine Kuhweide ohne Kühe überquert habe, komme ich an der sogenannten Afrika-Kapelle vorüber, werfe noch einen letzten Blick über das Wiesen-Dörfer-Stillleben und dann stapfe ich auch schon wieder den Pfad hinunter, den ich drei Stunden zuvor hinaufgewandert bin.

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